Indio Totenfest

Zuletzt bearbeitet: 3. Mai 2021

Ich nehme die Gelegenheit wahr, um unseren Gästen in dieser Umgebung noch mal auf den Zahn zu fühlen. Gewiss, sie wurden schon vor Antritt ihrer Brasilienreise zu Hause über alle Umstände informiert, mit denen sie während eines Besuchs bei diesen Naturmenschen zu rechnen haben, aber es kann nicht schaden, jetzt noch mal nachzuhaken, in dieser realistischen Umgebung der Oca – nur ein Dach über dem Kopf, eine Hängematte zum Schlafen, einen Fluss zum Baden. Es gibt keine Toilette, keine Dusche, kein Bett, keinen Ventilator, keinen Herd und noch viel weniger Mineralwasser, Cola oder gar Bier! Der Herr Knöpfli, aus der Schweiz – wir dürfen ihn Andreas nennen – bringt es auf den Punkt: „Wir sind so überwältigt von dem, was uns vergönnt ist mit eigenen Augen zu sehen, dass sämtliche anderen Begleitumstände ihre bisherige Bedeutung verlieren. Man könnte unter diesen Menschen glatt sich selbst vergessen!“ Genau das war es, was ich bei meiner ersten Begegnung mit den Xavante damals auch gespürt hatte – und es gibt kaum etwas Schöneres für mich, als wenn ich Mitmenschen entdecke, die so sensibel sind wie ich selbst. Danke Andreas!

Nach dem Frühstück verlassen wir das dämmrige Halbdunkel unserer Oca und gehen die kurze Strecke zurück zum Fluss, um nunmehr unser Morgenbad zu nehmen. Auf dem sandigen Pfad begegnen wir ein paar Frauen, die vom Wasserholen kommen, mit gefüllten Aluminiumtöpfen auf dem Kopf, die heutzutage ihre schweren Keramikkrüge ersetzen – die eine oder andere trägt noch dazu einen Säugling auf dem Arm – gelbe Hunde springen zwischen ihnen herum.

Yawalapiti Kinder spielen mit dem Fotografen – Foto: Klaus D. Günther

Es ist schon recht warm, das Wasser ist herrlich, ganz klar und sauber, der Grund feinsandig – sieben Caraíbas, wie die Indianer uns weisse Zeitgenossen nennen, bei der Morgentoilette, in Badehosen und Bikinis. Nur ein paar Kinder sind mitgekommen, an die muss man sich gewöhnen, sie verfolgen einen neugierig auf Schritt und Tritt, sind aber auch willige Laiendarsteller bei den Filmaufnahmen des Herrn Knöpfli, der sie dirigiert, wie ein Regisseur – interessant ist, dass sie immer sofort verstehen, was er von ihnen will, obwohl Andreas nicht mal portugiesisch spricht.

Martin, der Deutsche, und seine Frau Evelyn, haben sich an einen Indianer herangemacht, der bis zum Hals im Wasser steht und sie anlächelt – sie fotografieren seinen aus dem Wasser ragenden Kopf, dessen helmartig geschnittene schwarze Haare von allen Seiten, etwa eine Handbreit, mit der roten Farbe der Urucum-Pflanze (Bixa orellana) getränkt sind. Jetzt fährt er mit zwei Fingern in die Farbe, nähert sich Martin lächelnd und beginnt ihm eine Linie auf die Brust zu zeichnen – aus der Linie werden zwei, drei – es kommen Kurven und Kreise dazu – ein Ornament in roter Farbe entsteht – Evelyn verknipst den ganzen Film vom Indianer, der ihren Martin bemalt, indem er immer wieder seine Finger in die dicke Urucum-Paste auf seinen Haaren taucht – und der Knöpfli steht dahinter und filmt das Ganze.

Jonas ist das Stück zurückgefahren, um bei den Kamaiurá seine Mutter zu besuchen, die freut sich immer so, wenn er mal ein bisschen Zeit hat, vorbeizuschauen – und ausserdem will er seinen Freunden dort natürlich die Geschichte vom Sprung über den Baumstamm erzählen.

Es wird langsam Zeit, dass ich ein bisschen von dem eigentlichen Motiv berichte, das uns hierher geführt hat: Einmal im Jahr findet unter den Stämmen im Xingu-Gebiet der Quarup statt – das Fest zu Ehren ihrer Toten, welches für Touristen im allgemeinen nicht zugänglich ist – der gesamte Parque Indigena do Xingu ist für den Tourismus off-limits, und das hat seine Gründe: Die Indianer werden von den Behörden nicht als touristische Attraktion angesehen, sondern als Teil der brasilianischen Bevölkerung in einem sehr sensiblen Übergangsstadium, in dem eine Störung von aussen, besonders durch einen unkontrollierten Tourismus, verheerende Folgen an Identitätsverlust für die Indianer haben würde. Deshalb ist eine Besuchserlaubnis auch kaum, oder nur in Ausnahmefällen, zu bekommen. Unsere beiden Männer waren eine solche Ausnahme – Andreas ist Ethnologe aus Bern und Martin Anthropologe aus Marburg – mit einer Erklärung ihrer Institute, übersetzt ins Portugiesische und von der brasilianischen Botschaft beglaubigt, darüber hinaus Gesundheitsattests und Impfbescheinigungen von allen mitreisenden Familienmitgliedern – bekam ich für sie eine Sondererlaubnis, das Xingu-Gebiet während vierzehn Tagen besuchen zu dürfen. Ein besonderer Glücksfall war, dass wir gerade zum Quarup-Fest zurechtkommen würden – deshalb auch unsere Eile.

Quarup – Foto: Marcello Casal Jr/AgenciaBrasil

Der Quarup findet jedes Jahr in einem anderen Dorf statt, dessen Bewohner die anderen Stämme per Boten zur Teilnahme einladen. In diesem Jahr 2002 waren die Yawalapiti die Gastgeber, und das bedeutete für sie, reichlich Fische heranzuschaffen, um die zahlreichen zu erwartenden Gäste – zirka Eintausend – verpflegen zu können. Zehn Tage vor dem Fest transportieren die Männer ein riesengrosses Netz mit mehreren Kanus bis zum Abfluss einer Lagune und spannen es dort über die gesamte Breite des Kanals. Hier bleibt es über mehrere Tage und wird kurz vor dem Fest eingeholt. Da ist dann das ganze Dorf auf den Beinen, jeder schnappt sich einen Korb oder einen Aluminiumtopf und rennt in Richtung des Flussstrandes, zu dem die Männer das Netz vorsichtig hindrehen, während sie es stetig und gleichmässig einholen. Rund um den Sandstrand sitzt die gesamte Dorfgemeinschaft und versucht aufgeregt, aus den Minen der Männer und ihren gespannten Muskeln die Menge der Fische zu ergründen, die man vom Netz erwarten kann. Es waren bisher immer mehr als genug, denn das grosse Netz benutzen sie nur einmal im Jahr – nur für den Quarup. Für den Eigenbedarf erlegen sie ihre Fische mit dem Bogen, und Pfeilen mit vielfachen Widerhaken – das lernen die Söhne von ihren Vätern, gleich nachdem sie laufen können.

Wenn schliesslich die gesamte Beute auf dem Sandstrand zappelt, wird sie verlesen – Männer, Frauen und Kinder beteiligen sich an der Arbeit – alle grossen Fische werden auf die Seite gelegt, sie sind für die Speisung der Gäste reserviert und gehören dem Häuptling, der in diesem Jahr den benachbarten Stamm der Waura als Ehrengäste eingeladen hat. Die kleineren Fische werden von Frauen und Kindern in ihren improvisierten Behältern nach Hause geschleppt – in der Regel reicht der Fang für alle. Anschliessend riecht es im ganzen Dorf nach geräuchertem Fisch: grosse Holzgrills sind vor den Ocas aufgebaut, auf denen die grossen Fische für die Gäste im beizenden Rauch liegen. Die Frauen sitzen davor, beschäftigt mit einer Handarbeit, legen Holz nach und verscheuchen die Hunde, die ab und zu mal einen sehnsüchtigen Blick riskieren.

Unser erster Tag im Dorf vergeht für uns viel zu schnell. Die Indianer sind vollbeschäftigt mit den Vorbereitungen für ihre Gäste, die morgen Nachmittag eintreffen werden und nehmen deshalb kaum Notiz von uns. Evelyn und Martin sind beim Fotografieren auf dem Dorfplatz – er läuft stolz mit seiner neuen Urucum-Bemalung herum. Andreas ist auch mit seiner Filmkamera beschäftigt und macht Nahaufnahmen von Keheris geschickten Händen, die Palmblätter ineinander flechten, für eine Matte. Seine Frau Agnes hat ein bisschen Kopfweh und liegt in ihrer Hängematte, im Schatten der Oca. Seine beiden Söhne, Peter (12) und Robert (15) lernen von den Indianerkindern Fische mit Pfeil und Bogen zu erlegen – in einem seichten Tümpel, in den die Väter, für eben dieses Training, immer wieder lebende kleine Fische einsetzen: faszinierend zu beobachten, mit welcher Geschicklichkeit schon die kleinsten Jungs – nicht älter als fünf bis sechs Jahre – mit ihrem kleinen Flitzbogen umgehen, den ihnen der Vater angefertigt hat. Sie warten einen Moment mit aufgelegtem Pfeil am Rand des Tümpels, bis ein kleiner Fisch zwischen den Wasserpflanzen sichtbar wird – Pfeil spannen und abschiessen geschieht dann überraschend schnell hintereinander und mit einer unvergleichlich grazilen Bewegung. Und wenn dann dieser bronzefarbene Knirps seinen Pfeil mit dem Bogenende herausgefischt hat, zappelt doch tatsächlich ein winziger Fisch an der Spitze! Auch Andreas hat jetzt die Gruppe der braunen Knirpse entdeckt, zwischen denen sich seine beiden Jungs wie weisse Riesen ausnehmen – und seine Filmkamera schnurrt.

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AutorIn: Klaus D. Günther · Bildquelle: Die Bilder von Klaus D. Günther stammen aus den frühen 80er Jahren!

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