Der jüngste Vorstoß der brasilianischen Regierung zur Erschließung neuer Öl- und Gasvorkommen im Amazonasgebiet stößt auf zunehmende Kritik von Umweltwissenschaftlern, zivilgesellschaftlichen Organisationen und internationalen Beobachtern. Am 19. Mai ignorierte der Präsident des Umweltamts IBAMA ein ablehnendes technisches Gutachten der Genehmigungsbehörde und ermöglichte die Fortsetzung des Genehmigungsverfahrens für ein Ölbohrprojekt an der Mündung des Amazonas im Block FZA-M-59.

Dies geschieht im Vorfeld einer geplanten Auktion von Bohrrechten am 17. Juni, die 47 Offshore-Blöcke umfasst – ein Vorhaben mit enormem Risiko für Umwelt und Klima.
Kritische Entscheidung mit weitreichenden Folgen
Die Entscheidung fällt in einer Phase wachsender politischer Einflussnahme auf Umweltverfahren. Parallel treibt der brasilianische Kongress unter Federführung von Senator Davi Alcolumbre ein Gesetzesvorhaben voran, das de facto das bestehende Umweltgenehmigungssystem außer Kraft setzen würde. Eine solche Entwicklung käme einem Dammbruch gleich: Nicht nur die biologische Vielfalt und indigene Völker wären betroffen, sondern auch globale Klimaziele in akuter Gefahr.
Die Gefahr irreversibler Kipppunkte
Die wissenschaftliche Gemeinschaft warnt eindringlich: Die Amazonasregion befindet sich am Rand eines ökologischen Kollapses. Wird dieser überschritten, droht eine Freisetzung riesiger Mengen an Kohlendioxid, was globale Klimakipppunkte auslösen und unkontrollierbare Erwärmung zur Folge hätte. Umgekehrt würde ein ungebremster Klimawandel auch das Amazonas-Ökosystem unwiederbringlich zerstören. Diese Wechselwirkung macht die Lage besonders prekär.
Offshore-Förderung mit unkalkulierbaren Risiken
Ein Ölunfall an der Mündung des Amazonas hätte katastrophale Folgen. Die geplante Bohrstelle liegt in 2,95 Kilometern Tiefe – fast doppelt so tief wie beim Deepwater-Horizon-Unglück im Golf von Mexiko im Jahr 2010. Dort konnte das Leck fünf Monate lang nicht gestoppt werden. Im Amazonasgebiet sind die Meeresströmungen noch komplexer, ein vergleichbarer Unfall würde mindestens acht Länder betreffen. Es existiert weltweit keine Technologie, um einen solchen Vorfall unter diesen Bedingungen wirksam einzudämmen.
Landprojekte führen zu Entwaldung und sozialen Konflikten
Auch die geplanten Onshore-Projekte – etwa im Sedimentbecken von Solimões im Bundesstaat Amazonas – bergen immense Gefahren. Sie würden Straßenbau, Landraub, illegale Abholzung und die Zerstörung eines der letzten großen zusammenhängenden Urwaldgebiete Südamerikas nach sich ziehen. Besonders bedrohlich ist der Bau der Straße AM-366, die die Region mit der bereits umstrittenen Fernstraße BR-319 verbinden soll. Erste Bohrrechte in diesem Gebiet wurden bereits an das russische Unternehmen Rosneft vergeben, das enge Beziehungen zur Landesregierung pflegt.
Falsche Narrative und ökonomische Mythen
Die Behauptung, Brasilien müsse neue Ölfelder erschließen, um die nationale Energieversorgung zu sichern, entbehrt jeder Grundlage. Bereits heute exportiert das Land rund die Hälfte seines geförderten Erdöls – mit steigender Tendenz. Brasilien verfügt über ausreichende Reserven in bereits erschlossenen Feldern, um die nationale Nachfrage zu decken. Die geplanten Projekte zielen vor allem auf Exporte und kurzfristige Profite, nicht auf das Gemeinwohl.
Ein globales Risiko – und eine nationale Verantwortung
Die Internationale Energieagentur (IEA) betont: Keine neuen Öl- oder Gasprojekte dürfen weltweit mehr genehmigt werden, wenn die Klimaziele des Pariser Abkommens eingehalten werden sollen. Neue Fördergebiete bedeuten jahrzehntelange Emissionen. Gleichzeitig verlangt das globale Klimaregime eine Reduktion direkter Emissionen um 43 % bis 2030 und 84 % bis 2050. Die Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze könnte katastrophale Entwicklungen auslösen – sowohl global als auch regional. Brasilien wäre massiv betroffen: vom Zusammenbruch des Regenwalds über die Austrocknung des Nordostens bis hin zu massiven Ernteausfällen, Wasserknappheit und lebensbedrohlichen Hitzewellen.
Soziale Verwerfungen statt Wohlstand
Erfahrungen aus ganz Lateinamerika zeigen: Die Ausbeutung fossiler Ressourcen führt nicht zu nachhaltigem Wohlstand, sondern verstärkt Ungleichheit, Korruption und Umweltzerstörung – ein Phänomen bekannt als „Ressourcenfluch“. Indigene Gemeinschaften und lokale Bevölkerungen sind oft die Hauptleidtragenden, während multinationale Konzerne profitieren.
Appell an Präsident Lula: Jetzt handeln
Die Entscheidung, neue Öl- und Gasprojekte im Amazonasgebiet zu stoppen, liegt letztlich in der Verantwortung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Es genügt nicht, sich auf Umweltvorschriften zu berufen. Es geht um eine politische Grundsatzentscheidung: Fossile Großprojekte sind nicht länger vertretbar. Die Energiewende muss zur nationalen Priorität erklärt und finanziell auf dieselbe Stufe wie Bildung und Gesundheit gestellt werden.
Nur durch einen klaren politischen Kurswechsel kann Brasilien seiner globalen Verantwortung gerecht werden – und als Vorbild vorangehen. Es ist Zeit, die Zukunft zu sichern: für den Amazonas, für das Klima und für die kommenden Generationen.