Das indigene Brasilien war nie so zahlreich, sprachlich vielfältig und zugleich so bedroht in seinem Fortbestehen wie heute. Der „Censo Demográfico 2022“ des brasilianischen Statistikamts IBGE identifizierte 391 Ethnien, ein deutlicher Anstieg gegenüber den 305 aus der Erhebung von 2010, sowie 295 indigene Sprachen, gegenüber 274 im vorigen Zensus.

Doch was eigentlich Anlass zur Feier der Vielfalt sein sollte, offenbart zugleich ein düsteres Bild, sobald man die Daten zur grundlegenden Infrastruktur danebenstellt. Sie zeigen ein historisch gewachsenes Defizit an Bürgerrechten, eine chronische Schwäche des brasilianischen Staates, die gerade die indigenen Bevölkerungen der Amazonasregion und des gesamten Landes hart trifft.
Ein Sinnbild dieser Ungleichheit sind die Tikuna. Ursprünglich aus der Region des oberen Solimões im Bundesstaat Amazonas stammend, bilden sie mit 74.061 Angehörigen das zahlenmäßig größte indigene Volk Brasiliens. In ihren Gemeinden wird die Tikuna-Sprache noch lebendig gesprochen. Als transnationales Volk leben sie nicht nur in Brasilien, sondern auch in Kolumbien und, in kleinerer Zahl, in Peru.
In Brasilien konzentrieren sich die meisten Tikuna im Bundesstaat Amazonas (73.564), doch einige leben auch in Rio de Janeiro (73) und São Paulo (70). Insgesamt wohnen 71,13 % innerhalb anerkannter Indigenen-Territorien (TIs), während 28,87 % außerhalb leben – teils in Städten (21,23 %), teils in ländlichen Gebieten (7,64 %). Laut der Volkszählung 2022 haben 74,21 % der Tikuna-Haushalte keinen Wasseranschluss, 92,82 % verfügen nur über einfache Latrinen, Gruben oder Abflüsse in Flüsse und 76,59 % leben ohne Müllabfuhr.
Diese prekäre Lage ist kein Einzelfall. Die Guarani Kaiowá im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, die für ihre territorialen Rückeroberungen immer wieder Angriffen von Großgrundbesitzern ausgesetzt sind, leben unter ähnlich schwierigen Bedingungen: 82,05 % ihrer Haushalte haben keine sanitäre Entsorgung. In Roraima, wo die Makuxi die drittgrößte indigene Bevölkerungsgruppe bilden, fehlt in sieben von zehn Häusern jegliche Abwasserinfrastruktur.
Mit der Veröffentlichung dieser Daten legt das IBGE offen, wie eng ethnische und sprachliche Vielfalt mit sozialer Verwundbarkeit verknüpft ist. Fast im ganzen Land nahm die Zahl der Ethnien zwischen 2010 und 2022 zu – ein Ergebnis der Abwanderung vieler Indigener in die Städte. So ist ausgerechnet der Bundesstaat São Paulo heute das Gebiet mit den meisten registrierten Ethnien (271), noch vor Amazonas (259) und Bahia (233).
Wenn die eigene Sprache fehlt
Während die ethnische Vielfalt wächst, stagniert der Zugang zu Bildung und staatsbürgerlicher Teilhabe. Die Alphabetisierungsrate unter Sprechern indigener Sprachen liegt bei 78,55 %, deutlich unter dem Schnitt der gesamten indigenen Bevölkerung (84,95 %). Wer ausschließlich eine indigene Sprache spricht, ist besonders benachteiligt – hier beträgt die Analphabeten Quote 31,86 %.
Auch der Mangel an grundlegenden Dokumenten verschärft die Lage. Zwar besitzen landesweit 94,09 % der Kinder bis fünf Jahre eine Geburtsurkunde, doch bei Völkern mit erst kürzlich erfolgtem Kontakt zur Außenwelt – wie den Suruwaha und den Pirahã im Süden des Amazonasgebiets – ist der Anteil deutlich geringer. Dort erschweren Entwaldung und Invasionsdruck den Zugang zu staatlicher Registrierung.
Bei den Yanomami, deren Territorium sich über Roraima und Amazonas erstreckt, besitzen 3.288 Kinder (65,54 %) keinerlei offizielles Dokument – eine Unsichtbarkeit, die ihnen den Zugang zu Bildung, Gesundheit und sozialer Sicherung verwehrt. Die Botschaft des Zensus ist klar: Vielfalt lässt sich nicht feiern, solange es an Würde fehlt.
Bereits im April 2023 warnte die Linguistin Altaci Rubim, Angehörige des Volkes der Kokama und erste indigene Professorin an der Universität Brasília, vor dem Verschwinden der Ursprungssprachen: „Zur Zeit der Ankunft der europäischen Eroberer wurden hier mehr als tausend indigene Sprachen gesprochen.“
In einem neuen Interview betont sie: „Indigene Sprachen sind kein Nischenthema. Sie sind die Grundlage aller Rechte. Sprache ist nicht nur Bildung oder Justiz, sie ist das Fundament, aus dem Kultur überhaupt erst entsteht. Unsere Weltsicht kommt aus der Sprache, nicht umgekehrt.“
Tatsächlich liegt laut dem Zensus die Alphabetisierungsrate bei jenen, die zu Hause ausschließlich indigene Sprachen sprechen, mit 31,85 % deutlich niedriger als bei jenen, die nur Portugiesisch sprechen (87,21 %).
Sprachen im Sog der Assimilation
Mehr als die Hälfte der indigenen Bevölkerung (53,97 %) lebt heute in Städten – ein radikaler Wandel gegenüber 2010, als noch 63,78 % in ländlichen Gebieten wohnten. São Paulo (194 Ethnien) und Manaus (186) sind mittlerweile die Städte mit der größten ethnischen Vielfalt. Sprachlich führt der Bundesstaat Amazonas weiterhin mit 168 indigenen Sprachen, davon 99 allein in Manaus, gefolgt von São Paulo (78).
Diese Wanderungsbewegung spiegelt die Suche nach Gesundheit, Bildung und Überlebenschancen wider, die in vielen Territorien fehlen. Zwar hat sich die absolute Zahl der Sprecher indigener Sprachen außerhalb der *TIs mehr als verdoppelt (von 44.590 im Jahr 2010 auf 96.685 im Jahr 2022), doch ihr prozentualer Anteil an der Gesamtbevölkerung sank von 12,67 % auf 9,78 %.
Das deutet darauf hin, dass die sprachliche Assimilation in urbanen Räumen zunimmt. Innerhalb der TIs hingegen stieg der Anteil der Sprecher von 57,35 % auf 63,22 %, ein Beweis dafür, dass diese Territorien als Schutzräume für die Sprachen wirken.
Altaci Rubim betont dennoch, dass viele Gemeinschaften kreative Wege des Widerstands gefunden haben: „Unsere Verbindung zum Territorium bleibt bestehen, ob wir nun auf dem Land oder in der Stadt leben. Diese künstliche Trennung, die die Politik geschaffen hat, bedroht uns nicht, wir schaffen neue Formen, unsere Kultur lebendig zu halten. Bildung, Sprache und Spiritualität, all das haben wir neu definiert, auf unsere Weise.“
Sie ergänzt: „Wer in der Stadt lebt, findet Wege, seine Sprache und Kultur zu stärken, über soziale Netzwerke, über digitale Lernräume. Es ändern sich die Mittel, nicht der Kampf.“
Laut IBGE-Bericht sind besonders jene Ethnien sprachlich gefährdet, die in Städten leben und dort starkem Assimilationsdruck ausgesetzt sind. So wohnen etwa zwei Drittel (67,65 %) der Kokama, der zweitgrößten indigenen Bevölkerungsgruppe (64.327 Personen), außerhalb von TIs – meist in Städten des Amazonas oder in Manaus.
Ähnlich verhält es sich mit den Baré (71,96 % städtisch) und den Pataxó (62,87 % städtisch) in Bahia. In diesen urbanen Kontexten sprechen 98,01 % der Indigenen Portugiesisch.
Altaci Rubim, die heute in Brasília im Ministerium der Indigenen Völker arbeitet, setzt sich dafür ein, dass die UNESCO-Dekade der indigenen Sprachen auch in Brasilien konkrete Wirkung entfaltet. Dank neuer Allianzen zwischen Gemeinschaften, Wissenschaft und Behörden wurden inzwischen über 50 indigene Sprachen auf Gemeinde- oder Bundesstaatsebene offiziell anerkannt, darunter auch indigene Gebärdensprachen, 37 von ihnen wurden allein in den letzten Jahren dokumentiert.
Rubim kritisiert zudem die akademische Ignoranz gegenüber der sprachlichen Vielfalt indigener Studierender: „Viele, die Tikuna sprechen, scheitern an Universitäten, weil ihr Portugiesisch nicht dem Standard entspricht. Doch Sprache ist immer Ausdruck einer Weltanschauung.“
In den aktuellen Debatten indigener Akademiker kursiert daher ein neues Konzept: „Braslind“, die indigene Variante des brasilianischen Portugiesisch, oder wie Rubim sagt, „Portugiesisch mit indigener Seele“.
„Braslind ist unser Weg zurück zu den Ursprungssprachen“, erklärt sie. „Wir nennen es so, weil ‚indigenes Portugiesisch‘ stigmatisierend klingt. Wir selbst übernehmen jetzt die Führung, wenn es darum geht, unsere Sprachen zu stärken.“
Der Anstieg der erfassten Ethnien und Sprachen beruht nicht nur auf demografischem Wachstum, sondern auch auf einer präziseren Erhebungsmethode. Das IBGE arbeitete diesmal eng mit Akademikern, indigenen Führungen, der Funai und dem Ministerium der Indigenen Völker zusammen.
Eine wesentliche Neuerung: Während 2010 jede Person nur eine Ethnie angeben durfte, konnten 2022 bis zu zwei angegeben werden, eine realistischere Erfassung gemischter Abstammungen und Ehen. Bei den Sprachen konnten bis zu drei indigene Sprachen genannt werden, was der tatsächlichen Mehrsprachigkeit vieler Gemeinschaften besser entspricht.
So wuchs die Zahl der Ethnien landesweit von 305 auf 391 und innerhalb der TIs von 250 auf 336. Das IBGE differenzierte 25 bisher zusammengefasste Ethnien und nahm acht Gruppen aus der Kategorie „andere Ethnien Amerikas“ heraus – darunter die aus Venezuela eingewanderten Warao und Aimara, die heute vor allem in Roraima und im Amazonas leben.
Auch die erweiterte Reichweite des Zensus trug dazu bei. Während 2010 die Frage „Betrachten Sie sich als indigen?“ nur in TIs gestellt wurde, erfasste die Volkszählung 2022 auch indigene Siedlungen und verstreute Wohngebiete. So konnten erstmals 41,52 % der außerhalb von TIs lebenden indigenen Bevölkerung erfasst werden.
Fazit
Der neue Zensus 2022 des IBGE zeigt ein beeindruckendes Wiedererstarken der ethnischen und sprachlichen Vielfalt indigener Völker in Brasilien, mit 391 anerkannten Ethnien und 295 Sprachen. Doch diese Vielfalt steht in scharfem Kontrast zu den prekären Lebensbedingungen vieler indigener Gemeinschaften, die nach wie vor unter gravierenden Mängeln bei Infrastruktur, Bildung, Gesundheitsversorgung und Bürgerrechten leiden.
Die Daten machen deutlich: Die kulturelle und sprachliche Vitalität allein garantiert kein Überleben, solange die strukturellen Ungleichheiten fortbestehen. Besonders alarmierend ist der Zusammenhang zwischen Urbanisierung und Sprachverlust, je stärker indigene Völker in die Städte abwandern, desto größer wird der Druck zur Assimilation. Gleichzeitig bleiben die traditionellen Territorien entscheidende Schutzräume für Sprache, Identität und Weltbild.
Persönlichkeiten wie die Linguistin Altaci Rubim zeigen jedoch, dass Widerstand auch in neuen Formen wächst, ob in der digitalen Welt, in Bildungseinrichtungen oder durch die offizielle Anerkennung indigener Sprachen. Ihre Botschaft ist klar: Sprache ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern Ausdruck von Geist, Geschichte und Zugehörigkeit.
Damit wird der Zensus 2022 zu mehr als einer statistischen Erhebung, er ist ein Spiegel des kulturellen Überlebenskampfes und ein Appell an den brasilianischen Staat, Vielfalt nicht nur zu zählen, sondern endlich zu schützen und zu fördern.
*Terras Indígenas (TI) sind in Brasilien Schutzgebiete der Indigenen Völker. In Brasilien gibt es 725 Terras Indígenas, von denen 487 den Anerkennungsprozess vollständig durchlaufen haben.
Original: Eduardo Nunomura, AmazoniaReal
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