In Rio de Janeiro entstanden die Milizen aus einem vermeintlichen Streben nach Ordnung. Ehemalige Polizisten, Feuerwehrleute und Sicherheitskräfte begannen, in Vierteln, die der Staat längst vergessen hatte, „Schutzgeld“ zu verlangen. Was als Reaktion auf die Gewalt des Drogenhandels begann, verwandelte sich rasch in ein lukratives Geschäft.
Aus dem Versprechen von Sicherheit wurde ein System eigener Gewalt, zunächst diskreter, effizienter, institutionalisierter. Heute ist die bewaffnete Kontrolle über Territorien, die einst allein den Drogenbanden vorbehalten war, zu einer Parallelökonomie geworden. Doch die Geschichte blieb nicht in den Favelas von Rio stehen.
Sie überquerte Flüsse, durchdrang Wälder, folgte Fernstraßen und erreichte schließlich den Amazonas. Im Bundesstaat Pará haben sich die Strukturen des organisierten Verbrechens an die Gegebenheiten der Region angepasst. Die Banden kämpfen um Schmuggelrouten, die sich mit den Flussläufen überschneiden.

Lokale Milizen kooperieren mit Polizei, Unternehmern, Politikern und Staatsbeamten. Und der Kampf um Territorien schließt inzwischen Goldgräberei, Holzhandel und Landraub mit ein. Die Karte der Gewalt hat sich verändert – die Logik dahinter bleibt dieselbe: Kontrolle über Raum und Menschen.
Diese Entwicklung offenbart das Scheitern eines Modells, das Brasilien seit Jahrzehnten wiederholt, die sogenannte „Drogenbekämpfung“. Ein „Krieg gegen die Drogen“, der nie gegen Drogen geführt wurde, sondern gegen Menschen. Der nie die ökonomische Macht der Kartelle angriff, sondern seine Wut auf dieselben Menschen richtete wie eh und je; schwarze, indigene, arme, ausgegrenzte Menschen.
Die spektakuläre Repression, die martialischen Einsätze mit Hubschraubern, die „verirrten“ Kugeln, die doch immer dasselbe Ziel finden, all das nährt einen Kreislauf des Todes, getarnt als staatliche Politik, zur Freude einer extremen Rechten, die ihren Lustgewinn aus Leichen zieht.
Diese auf Bestrafung ausgerichtete Strategie (Militäreinsätze, Massaker, Massenverhaftungen) hat die Macht der Banden und Milizen nicht gebrochen, sondern gestärkt. Sie haben sich der Geografie der Angst angepasst, sie geradezu verinnerlicht. Das Ergebnis ist eine unheilvolle Symbiose: Der Staat bekämpft das Verbrechen mit denselben Symbolen, Methoden und Strukturen, aus denen das Verbrechen selbst erwächst.
In Rio ist dieser Prozess längst perfektioniert. Die Milizen sind nicht mehr „außerhalb“ des Staates, sie sind der Staat. Polizisten agieren als Unternehmer der Gewalt, Politiker werden mit offener oder verdeckter Unterstützung dieser Gruppen gewählt. Der Staat, der schützen sollte, hat die Sicherheit ausgelagert und den Tod normalisiert. Man nannte das „Nekropolitik“ – die Politik des Todes. Sie bildet heute das Fundament eines autoritären Projekts, das bestimmt, wer leben darf und wer sterben muss – und das Töten im Namen von „Gesetz und Ordnung“ legitimiert.
Im Amazonasgebiet nimmt diese Ausbreitung neue, undurchsichtigere Formen an. Die Banden aus dem Südosten fanden dort ein neues Eldorado, mit endlosen Grenzen, schwacher staatlicher Präsenz und riesigem Profitpotenzial. Illegaler Bergbau, Waffenschmuggel, Drogenhandel, Holzraub und Menschenhandel verschmelzen zu einem einzigen Netz. Die neuen „Milícias Amazônicas“ (Amazonasmilizen) entstehen unter demselben Vorwand wie einst in Rio: Sie wollen „das Territorium schützen“.
Doch hier umfasst dieses Territorium Flüsse, Dörfer, Wälder und indigene Menschen. In der Amazonasregion verschränkt sich territoriale Kontrolle mit Umweltzerstörung und der Gewalt gegen traditionelle Gemeinschaften. Heraus entsteht ein hybrides Modell aus bewaffneter und wirtschaftlicher Macht, in dem sich Kriminalität, Politik und Kapital ununterscheidbar vermischen. Es ist ein stiller, aber anhaltender Krieg. Und in ihm erscheint der Staat nur in zwei Gestalten: abwesend oder tödlich.

Währenddessen schaut die Öffentlichkeit zu, betäubt von einer Medienlandschaft, die täglich ihre Dosis Anästhesie verabreicht. Polizeisendungen mit selbsternannten „Richtern“ verwandeln Gewalt in Unterhaltung. Jeder Tote wird zum Quotenbringer. Die Sprache ist stets dieselbe: „Verbrecher neutralisiert“, „Bandit eliminiert“. So lernt der Bürger, Exekution mit Gerechtigkeit zu verwechseln. Die immer häufigeren Lynchmorde sind die grausamste Frucht dieser Pädagogik der Barbarei. Staat und sensationshungrige Medienindustrie bilden eine Allianz, die das Töten nicht nur erlaubt, sondern das Publikum dazu erzieht, es zu bejubeln.
„Ein toter Bandit ist ein guter Bandit“ – dieser Satz ist zur nationalen Redensart geworden. Doch wer ihn ausspricht, stellt sich selten das Gesicht der Opfer vor. Es sind immer dieselben: junge, schwarze, arme Menschen aus den Randvierteln. Sie sind die bevorzugten Ziele dieses Krieges im Namen des Gesetzes. Die Nekropolitik hat Hautfarbe und Postleitzahl. Sie sterben in Polizeieinsätzen, in Hinterhalten, an den unsichtbaren Grenzen der Städte und der Wälder. Und sie erscheinen kaum je als Menschen, nur als Zahlen in einer Statistik.
In Pará hat diese Logik längst Fuß gefasst. Die Vororte Beléms spüren die Ankunft neuer „Herren“: Milizionäre, die Sicherheit versprechen, aber Angst verkaufen. Banden kämpfen um Stadtteile, als ginge es um Exportkorridore. Das Modell der bewaffneten Besetzung aus Rio wird hier mit amazonischem Akzent neu aufgelegt.
Und wieder zahlt die Bevölkerung am Rand des Staates den Preis. Belém, eine Stadt, gezeichnet von tiefen Ungleichheiten und dem chronischen Fehlen öffentlicher Politik, erlebt heute die stille Ausbreitung von Milizen und organisierter Kriminalität. Die Peripherie ist zum Schlachtfeld zwischen jenen geworden, die Sicherheit versprechen, und jenen, die Angst verbreiten.
Brasilien lebt seit Jahrzehnten mit einer Politik des Todes. Der Diskurs der öffentlichen Sicherheit dient als Fassade für ein Vernichtungsprojekt, das seine Opfer mit chirurgischer Präzision auswählt. Und die Amazonasregion, lange als Grenze zum „Erschließen“ betrachtet, ist nun auch Grenze der urbanen Gewalt und der illegalen Ökonomie geworden.
Was in den Favelas von Rio und in den Vorstädten von Belém geschieht, ist Teil desselben Dramas: ein endloser Krieg, genährt von strukturellem Rassismus, Straflosigkeit und der Verwandlung von Leid in Spektakel. Der Journalist Leonardo Sakamoto hat daran erinnert, dass Gouverneur Cláudio Castro für vier der tödlichsten Polizeieinsätze in Rios Geschichte verantwortlich ist.

Diesen Kreislauf zu durchbrechen verlangt mehr als neue Gesetze oder härtere Einsätze. Es verlangt, wieder lernen zu empören. Wieder zu sehen, dass Menschlichkeit dort existiert, wo der Staat nur Zielscheiben erkennt. Solange die Gesellschaft weiterhin die live übertragene Barbarei beklatscht, bleibt sie Komplizin jener Politik, die sie von innen zersetzt.
Brasilianische Gewalt ist keine Statistik. Sie ist ein Projekt. Und das Schlimmste ist: Sie bringt Stimmen. Solange sie als Lösung gilt, gräbt das Land – im Namen der Ordnung – weiter an seinem eigenen Massengrab.
Original: Ismael Machado, AmazoniaReal
Wer ist Amazônia Real
Die unabhängige und investigative Journalismusagentur Amazônia Real ist eine gemeinnützige Organisation, die von den Journalistinnen Kátia Brasil und Elaíze Farias am 20. Oktober 2013 in Manaus, Amazonas, im Norden Brasiliens gegründet wurde.
Der von Amazônia Real produzierte Journalismus Real stützt sich auf die Arbeit von Fachleuten, die mit viel Feingefühl auf der Suche nach großen Geschichten über das Amazonasgebiet und seine Bewohner sind, insbesondere solche, über die in der Mainstream-Presse nicht berichtet wird.
