Zum Indio-Tag vom 19. April: Es fehlt an politischer Initiative

Der Reporter Alex Rodrigues – von der Nachrichtenagentur Agência Brasil – führte anlässlich des gestrigen „Tag der Indios“ das nachfolgende Interview mit Bischof Erwin Kräutler.

asset-560006b637487acb56e2Der katholische Bischof Erwin Kräutler, geboren 1939 in Österreich, kam 1965 als Missionar nach Brasilien. Seit 1980 ist er Bischof in der Diözese Xingu, einem der grössten Bistümer der Welt, mitten im brasilianischen Regenwald, wo er sich für den Umweltschutz und die Rechte der indigenen Völker einsetzt. 2010 erhielt er für seine Arbeit den Alternativen Nobelpreis.

Dom Erwin, wie er von seinen Schützlingen genannt wird, wurde bereits zum zweiten Mal in das Präsidentenamt des “Conselho Indigenista Missionário“ (CIMI) gewählt, dem Indigenen Missionsrat, und sein gewaltloser Kampf gegen korrupte Politiker, skrupellose Grossgrundbesitzer und all jene, die auf Kosten der Armen zu Reichtum kommen wollen, hat ihm nicht nur Freunde eingebracht. Doch er lässt sich nicht beirren, und sein selbstloses Engagement für die indigenen Minderheiten hat ihn weit über die Grenzen Brasiliens hinaus bekannt gemacht.

Er vertritt die Meinung, dass die indigenen Völker an diesem 19. April keinen Grund zum Feiern des “Dia do Índio“ haben. Er weist darauf hin, dass sich die Situation der traditionellen Eingeborenenvölker in den letzten Jahren verschlechtert hat, sowohl durch die Verzögerung bei der Demarkation der Indio-Territorien – was die gewaltsamen Konflikte um den Grundbesitz verschärft – als auch durch die fehlende Erfüllung ihrer gesetzlich zugesicherten Rechte auf Gesundheit und Erziehung seitens der Regierung.

Dom Erwin, ein unermüdlicher Kritiker jener Megaprojekte in Amazonien, wie der Konstruktion des Wasserkraftwerks Belo Monte, im Bundesstaat Pará, wurde am 04. April diesen Jahres vom Papst Francisco im Vatikan empfangen – in diesem Fall als Sekretär der bischöflichen Kommission Amazoniens. Er nahm die Gelegenheit wahr, dem Pabst die Probleme der indigenen Völker, der Flussbewohner und amazonensischen Kommunen zu unterbreiten.

“Seit fast fünfzig Jahren lebe ich nun in Amazonien, und bin daher ein qualifizierter Zeuge, um über jene Probleme sprechen zu können. Und als Bischof habe ich das Recht und die Verpflichtung, darauf aufmerksam zu machen, wo immer die Menschenrechte verletzt werden“, sagte der gebürtige Österreicher in einem Interview, der seit 23 Jahren die brasilianische Staatsbürgerschaft besitzt.

Kuarup

Frage: Was waren die wichtigsten Themen, die Sie mit Papst Francisco besprochen haben?

Dom Erwin Kräutler: Wir sprachen über die Kommunen des Bistums Xingu, die das Heilige Abendmahl nicht erhalten können, weil wir nur 27 Pater haben, um zirka 800 Kommunen zu betreuen. Der Papst bat darum, ihm einen Vorschlag zu unterbreiten, mit dem man das Problem lösen könnte, das zirka 70% der Kommunen Amazoniens betrifft, in denen es keine Abendmahl-Zeremonie gibt. Und wir sprachen über die ökologische Situation.

Frage: Und was die Situation der Indios betrifft? Was haben Sie da besprochen?

Dom Erwin: Wir unterhielten uns über die Indio-Frage im Allgemeinen, aber auch über die spezielle Situation einiger Völker, wie zum Beispiel der Guarani-Kaiowá, aus Mato Grosso do Sul, die heute in einem viel zu kleinen Territorium eingeschlossen sind. Ich habe die Situation der Völker im Tal des Rio Javari, in Amazonien, erwähnt, wo die Indios von Krankheiten, wie der Hepatitis, befallen sind, und die Regierung kaum etwas dagegen unternimmt. Ich habe von den isoliert lebenden Indio-Gruppen erzählt, die offiziell überhaupt nicht existieren. Um ihn an die Zuneigung zu erinnern, die ihm die Eingeborenen entgegenbringen, erwähnte ich auch seinen Besuch in Rio de Janeiro im vergangenen Jahr 2013. Und ich versicherte ihm, dass die Indios Brasiliens auf seine Unterstützung zählen und erwarten, dass er einen Apell an die brasilianische Regierung richtet, endlich die Demarkation ihrer Territorien abzuschliessen.

Frage: Sie sind ein bekannter Kritiker der Megaprojekte Brasiliens und pflegen die Regierung und einige Parlamentarier zu beschuldigen, dass sie nach der Pfeife bestimmter wirtschaftlich interessierter Gruppen tanzen. Als Sie über die Probleme sprachen, welche die Indios betreffen, welche Aspekte kamen da zur Sprache?

Dom Erwin: Logischerweise habe ich mich auf das Wasserkraftwerk von Belo Monte, am Rio Xingu, bezogen, ein Projekt, das nicht nur die Indios dieser Region betrifft, sondern durch die Art und Weise, wie es ausgeführt wird, hat es auch die Stadt Altamira bezüglich Gesundheit, Bildung, Transport und Sicherheit der Bevölkerung ins Chaos gestürzt. Der oberste Gerichtshof in Brasília hat entschieden, dass das verantwortliche Unternehmen, die “Norte Energia“, sämtliche Bedingungen noch vor Beginn der Bauarbeiten zu erfüllen hat, aber dem wird offensichtlich nicht entsprochen. Der Gerichtsentscheid ist zwar positiv, aber leider kam er zu spät. Es gibt indigene Kommunen, die bereits aufgelöst worden sind, und erst jetzt scheinen ein paar Autoritäten die Anormalität der Situation zu bemerken. Allein das Wachstum der Bevölkerung von Altamira ist bedenklich – der kleine Ort ist darauf nicht vorbereitet. Wir empfinden Belo Monte wie eine Dampfwalze, die über uns hinwegrollt – obwohl der Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) einst versprach, dass dieses Projekt “niemandem im Hals stecken bleiben solle“ – aber genau das geschieht.

Frage: Haben Sie die brasilianische Regierung beim Papst kritisiert?

Dom Erwin: Ich sagte ihm, dass die Regierung und der Nationalkongress Initiativen präsentieren, welche den Interessen der indigenen Völker widersprechen. Massnahmen, aus meiner Sicht, in konstitutioneller Art. Es gab keine Zeit, um meinerseits in Details zu gehen, aber ich sagte, dass die Regierung nicht für die indigene Sache kämpft. Und dass der Nationalkongress die indigenen Rechte missachtet, anhand verschiedener Initiativen, die diesen Rechten widersprechen, wie zum Beispiel der Vorschlag eines Appendix zur Verfassung – genannt PEC 230 – in dem das Vorrecht der Regierung Indio-Territorien zu demarkieren, von der Exekutive zur Legislative verschoben wird.

Frage: In welchem Ausmass schädigt eine Verzögerung der Identifizierung, Demarkierung und rechtskräftigen Anerkennung der Indio-Territorien ihre Anwärter und trägt dazu bei, die Spannungen in den entsprechenden Regionen zu erhöhen?

Dom Erwin: Als die Föderative Verfassung 1989 erlassen wurde, legte sie auch einen Zeitraum von fünf Jahren fest, innerhalb dessen alle Indio-Territorien demarkiert sein sollten. Mit anderen Worten: 1993 sollten sämtliche, als traditionelle Indio-Territorien identifizierte Gebiete, demarkiert und gesetzlich anerkannt sein. Inzwischen sind 21 Jahre seit dem Ende dieses Zeitraums vergangen, und wenig mehr als 44% wurden effektiv demarkiert. 2013, zum Beispiel, geschah keine einzige Demarkation. Auf diese Weise werden solche Gebiete von allen möglichen Invasoren zweckentfremdet. Es ist wichtig zu verstehen, dass eine Demarkation neuer indigener Reservate nicht gleichbedeutend ist mit einer Schaffung von Enklaven, sondern mit der Anerkennung, dass es im Interior des nationalen Territoriums Gebiete gibt, welche der Union gehören und dazu bestimmt sind, von den Völkern genutzt zu werden, die seit Urzeiten auf ihnen leben.

Frage: Wie hat der Papst auf Ihren Bericht und Ihre Kritik am brasilianischen Staat reagiert?

Dom Erwin: Er ist weder auf Details eingegangen, noch hat er zum Thema offiziell Stellung bezogen, aber er hat mir aufmerksam zugehört und mir seine Unterstützung für die indigene Sache zugesichert.

Frage: Sie waren Präsident der CIMI zwischen 1983 und 1991, und Sie sind es jetzt (2007-2015) – Sie befinden sich in Ihrem zweiten Mandat an der Spitze der Organisation. Wenn Sie diese beiden Perioden vergleichen, woraus bestehen die bedeutendsten Veränderungen in der Situation der indigenen Völker?

Dom Erwin: Gegen Ende der 1980er Jahre galt unser Kampf in erster Linie der Konstitution – dem notwendigen Einsatz, um im konstitutionellen Text die Grundrechte der indigenen Völker festzulegen. Als das gelungen war, haben wir unseren Sieg gefeiert, denn wir hatten verschiedene Fortschritte erreicht, wie zum Beispiel den, dass die Indios aus der Vormundschaft des Staates entlassen wurden, um zu brasilianischen Bürgern zu werden, mit Anrecht auf ihre Territorien und ihre kulturellen Ausdrucksformen. Jetzt kämpfen wir zur Verhinderung von Initiativen, welche die indigenen Völker benachteiligen.

Frage: Aber die Situation heute – ist sie besser oder schlechter?

Dom Erwin: Ich denke, dass die Situation der indigenen Völker in den letzten Jahren schlechter geworden ist, vor allem ab 2003 bis heute. Und genau wegen fehlender Aktionen der Regierung bezüglich der Demarkationen und der gesundheitlichen Betreuung der Indios. Es fehlen politisches Interesse und Bereitschaft, die indigene Sache anzuerkennen als von grosser Bedeutung für die Verteidigung der Menschenrechte.

Frage: Gibt es etwas zu feiern an diesem “Dia do Índio“?

Dom Erwin: Ich würde vorziehen, vom “Tag der Indigenen Völker“ zu sprechen. Aber es handelt sich nicht um ein Datum zum Feiern, sondern zur Sensibilisierung und Bewusstmachung der Gesellschaft hinsichtlich der Rechte dieser Völker. In unserem derzeitigen System wird der Indio als ein Hindernis des so genannten Fortschritts angesehen, den unsere Gesellschaft lediglich vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet. Würden wir dagegen Entwicklung als Verbesserung der Lebensqualität für das gesamte brasilianische Volk betrachten, dann hätten die Indios nicht nur ihren festen Platz in dieser Entwicklung, ihr antikes Wissen würde auch als eine unschätzbare Bereicherung für unser Land endlich geschätzt werden.

Frage: Die Verzögerung bei der Demarkation der Indio-Territorien provoziert einen Konflikt, der in vielen Fällen auch Familien kleinerer Ackerbauern involviert, Menschen, die einst von der Regierung selbst auf Ländereien gesetzt wurden, welche heute als traditionelle Indio-Territorien eingefordert werden. Unter diesen Kleinbauern gibt es Katholiken, die kritisieren, dass die Kirche, mittels des CIMI, die indigenen Interessen gegen jene der Kleinbauern und Landarbeiter vertritt. Wie stellen Sie sich zu diesen Kritiken?

Dom Erwin: Ich akzeptiere nicht, dass wir nur die indigenen Völker verteidigen – vor allem nicht gegen die Kleinbauern. Diesen Vergleich akzeptiere ich nicht, weil er nicht den Tatsachen entspricht. Was wir tatsächlich vertreten und auch gesagt haben, ist folgendes: “Wenn die Regierung jene Kolonisten-Familien auf Indio-Territorien gesetzt hat, dann ist es Sache der Regierung, eine Lösung für das Problem zu finden, welches sie selbst geschaffen hat“. Ich akzeptiere nicht, dass man eine von der Regierung platzierte Familie, mittels Polizeigewalt und ohne gebührende Entschädigung aus einem Indio-Territorium vertreibt. In solchen Fällen muss die Regierung dieser Familie ein entsprechendes Areal zur Verfügung stellen und sie nicht nur für die von ihr errichteten Einrichtungen entschädigen, sondern auch für den vergossenen Schweiss während der vergangenen Jahrzehnte. Wenn dagegen jemand ein Territorium invadiert, von dem er weiss, dass es sich um ein Indio-Territorium handelt, da sollte die Reaktion der Regierung eine andere sein.

Frage: Sie werden Ihren Posten verlassen, wenn Sie 75 Jahre alt geworden sind. Beschäftigen Sie sich bereits mit Ihrer Nachfolge?

Dom Erwin: Ich werde mein Amt am 12. Juli diesen Jahres niederlegen. Das heisst aber nicht, dass ich die Diözese von einem Tag auf den andern verlasse. Der Prozess der Wahl meine Nachfolgers wird einige Zeit in Anspruch nehmen, und es ist möglich, dass in diesem Fall drei Bischöfe diese Nachfolge antreten werden – der regionale Zweig des CNBB (Conferência Nacional dos Bispos do Brasil) hat vorgeschlagen, dass die Diözese Xingu, wegen ihrer enormen Ausdehnung, in drei Diözesen unterteilt werden soll. Ich selbst werde der CNBB ein Projekt in diesem Sinne präsentieren.

Frage: Fürchten Sie, dass mit Ihrem Rücktritt der Kampf für Amazonien und die indigenen Völker irgendwie Einbussen erleiden könnte?

Dom Erwin: Nein, das glaube ich nicht. Im Gegenteil. Ich werde sogar mehr Freiheit und Zeit haben, um dieser Sache zu dienen. Ich habe nicht die Macht, die man mir manchmal nachsagt. Was ich habe, ist das Recht und die Verpflichtung, jedesmal darauf aufmerksam zu machen, wenn die Menschenrechte verletzt werden.

Frage: Unser Land scheint einen Besorgnis erregenden Moment zu durchzumachen, mit einem Segment der Gesellschaft, das sich gegen eine schon eroberte Garantie der Menschenrechte stellt – Gruppen die unter Umgehung des Gesetzes Indios und andere Minoritäten beleidigen, bedrohen und sogar Selbstjustiz üben. Was würden Sie jenen Personen sagen, zumal sich unter ihnen viele befinden, die sich als Christen bezeichnen?

Dom Erwin: Wer über andere Menschen mit den eigenen Händen richtet, wendet sich gegen die Menschenrechte und entfernt sich von der Kirche, von seinem Glauben und von seiner Moral. Und da wir wissen, dass wir nicht nur die kürzlichen Geschehnisse betrachten, sondern auch nach den Wurzeln dieses Verhaltens forschen sollten, werden wir, insofern wir das tun, zur Schlussfolgerung gelangen, dass die Justiz in diesem Land äusserst langsam ist und es viel zu wenig Verurteilungen gibt. Wir brauchen politische Willenskraft, eine öffentliche Politik, um diese Art von Willkür bremsen zu können.

Das Interview mit Dom Erwin führte Alex Rodrigues, Reporter der Nachrichtenagentur Agência Brasil
Deutsche Übersetzung/Bearbeitung Klaus D. Günther

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