„Eine Erinnerung an eine traurige Geschichte Brasiliens“: Diesen Satz schrieb die Fotografin Lilo Clareto am 31. August 1993 auf die Rückseite eines auf Papier gedruckten Fotos, das sie mir als Andenken an die existenziellste journalistische Berichterstattung meines Lebens schenkte: Das Massaker an 16 Yanomami-Indios im Bundesstaat Roraima.
Das «Massaker von Haximu», wie diese Tragödie im Zusammenhang mit dem illegalen Goldrausch genannt wurde, fand zwischen dem 15. Juni und dem 26. Juli 1993 statt, doch die nationale Presse berichtete erst einen Monat später darüber, als die brasilianischen Behörden die ersten Informationen veröffentlichten. Es gab viele widersprüchliche Berichte über Angriffe der mit Gewehren, Revolvern und Macheten bewaffneten Goldsucher auf die indigene Bevölkerung: Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder starben. Zu dieser Zeit war ihr Häuptling Davi Kopenawa Yanomami bereits international anerkannt, weil er die Invasion in sein Gebiet im Amazonas anprangerte.
Zu dieser Zeit war die Kommunikation zwischen dem Regierungssitz in Brasilia und den Bundesstaaten prekär: Es gab kein Internet. Es war daher notwendig, dass die Medien eine zeitnahe Berichterstattung organisierten, damit die Journalisten Zugang zu den indigenen Völkern und den mit ihnen zusammenarbeitenden Organisationen hatten, zu denen damals die «Pro-Yanomami-Kommission (CCPY)», die «Diözese Roraima» und der «Indigene Missionsrat (Cimi)» gehörten.
Die Nationale Indio-Stiftung (FUNAI) wurde von dem Sertanisten Sydney Possuelo geleitet, der 1992 an der Ratifizierung des indigenen Territoriums beteiligt war. 1993 arbeitete ich als Korrespondentin für die Zeitung „O Globo“ in Roraima und war im Urlaub, als es meiner Chefin gelang, mich in Manaus (Amazonas) ausfindig zu machen. Sie bat mich, in die Hauptstadt von Roraima zurückzukehren und mich dem Team anzuschließen, das sich bereits in der Stadt befand: den Journalisten Rudolfo Lago und Edson Luiz (1960-2020), die von Brasilia geschickt worden waren. Sie hatten bereits am 20. August 1993 einen Bericht mit dem Titel „Funai: 40 Indios massakriert“ veröffentlicht. Ich war verzweifelt und machte mich noch am selben Tag auf den Weg nach Boa Vista.
Lilo Clareto war die Fotografin der Zeitung „O Estado de S. Paulo“. Sie wurde zusammen mit dem Journalisten Marco Uchôa (1969-2005) von der Hauptstadt São Paulo nach Boa Vista versetzt. Mit den Journalisten Denise Martins von TV Educativa Macuxi und Efrem Ribeiro von “Folha de S. Paulo“ bildeten wir während dieser langen und äußerst anstrengenden Berichterstattung eine Gruppe von Freunden. Obwohl wir von verschiedenen Medien und nationalen Wettbewerbern kamen, herrschte zwischen uns Kameradschaft und Respekt.
Mit Unterstützung von Superintendent Raimundo Cutrim begleiteten wir verschiedene Aussagen von Goldsuchern, die von der Bundespolizei verhaftet und der Ermordung von Ureinwohnern beschuldigt wurden. Die Berichterstattung war schwierig, denn die Reise in das Land der Yanomami-Indios war nur mit einem offiziellen Flug möglich: eine drei- oder vierstündige Hin- und Rückreise mit einem Armeeflugzeug. Da es in den Flugzeugen keinen Platz für alle Reporter gab, konnte nur das Bildteam (Fotografen und Kameraleute) in das indigene Dorf Haximu, an der Grenze zu Venezuela, fliegen. Lilo war eine von ihnen.
Die „Texter“, so wie ich, wurden mit anderen Aufgaben bei der Erstellung der Berichte betraut. Unser Ziel war es, die Überlebenden von Haximu zu finden, aber das war unmöglich. Wie könnten wir das Land der Eingeborenen ohne Transportmittel oder Genehmigung erreichen?
Am 25. August 1993 meldete die CCPY, dass 69 Überlebende im “Hilfsposten Toototobi“ in Amazonas eingetroffen waren, darunter vier Verletzte durch Gewehrkugeln, zwei Mädchen (sieben und sechs Jahre alt) und zwei Männer (zwanzig und achtzehn Jahre alt). Unter den Journalisten war der erste, der den Bericht erhielt, ein Reporter des „Magazins Manchete“, an dessen Namen ich mich nicht erinnere. Da es sich um eine Monatszeitschrift handelte, gab der Journalist den Bericht an den Reporter Rudolfo Lago weiter, und so war die Zeitung O Globo die erste, die veröffentlichte, dass 16 Indigene bei dem Massaker von Haximu ermordet worden waren.
Auf der Grundlage der Berichte von Überlebenden veröffentlichte der Anthropologe Bruce Albert am 27. September 1993 einen Bericht, in dem er schätzte, dass 14 Goldsucher dieses Massaker verübt hatten. Bei den Toten handelte es sich „in der Mehrheit um Frauen, alte Männer und Kinder, die entweder erschossen oder mit Macheten erschlagen wurden. Die Zahl der Todesopfer war nur nicht höher, weil ein großer Teil der Bevölkerung von Haximu in einer anderen “Maloca“ (indigene Siedlung) zur Durchführung von Ritualen versammelt war.
Allerdings wurden nur fünf der Verbrecher am 12. September 2000 vom Bundesgerichtshof (STF) wegen Völkermordes verurteilt. Einer ist im Gefängnis. Die anderen starben ungestraft.
In einem anderen Dorf auf indigenem Territorium, “Surucucu“, machte Lilo Clareto das Foto des jungen Yanomami-Mädchens, das ich zu Beginn dieses Artikels beschrieben habe. Wie hat sie es geschafft, angesichts eines Massakers ein Bild von jemandem zu machen, der in diesem Moment lächelt? Ich habe mich oft nach der Sensibilität der Fotografin gefragt, aber jeder, der Lilo kennt, weiß, dass wir mit ihr lächeln, wenn sie lächelt. Deshalb war das Lächeln, das sie registrierte, das Lächeln des Widerstands, des unermesslichen Lebenswillens eines jungen indigenen Mädchens in einem so bedrohten Umfeld.
Heute ist Lilo nicht mehr bei uns auf dieser Ebene des Lebens. Am 21. April war es ein Jahr her, dass sie durch Covid-19 starb. Ihre Familie und Freunde erwiesen ihr die Ehre, indem sie ihre Asche in “Riozinho do Anfrísio“, im Bundesstaat Pará, verstreuten.
In Lilos Foto des Yanomami-Mädchens wurde ihre ungewöhnliche Stärke bei der Unterstützung der traditionellen Völker des Amazonas festgehalten, wohin sie 2017 zog, um mit ihrer Freundin, der Journalistin Eliane Brum, in Altamira (Bundesstaat Pará) zu arbeiten.
Lilos Bild steht auch dafür, wie viel uns das Volk der Yanomami in jenem Jahr 1993 gelehrt hat und bis heute lehrt. Aber eine Frage blieb: Wer könnte dieses Mädchen auf dem Foto sein?
Also wandte ich mich an Dario Kopenawa, den Sohn des großen Anführers Davi Kopenawa Yanomami, der mir bei der Suche nach dem Mädchen helfen sollte.
Über das soziale Netzwerk WhatsApp antwortete Dario, dass das von Lilo Clareto fotografierte Mädchen heute eine verheiratete Frau und Mutter von zwei Kindern sei. Aber er konnte mir nicht sagen, in welchem Dorf sie mit ihrer Familie lebt.
Dario erzählte mir, dass diese Frau immer noch um das Überleben ihres Volkes kämpft, dessen Territorium vor 30 Jahren offiziell abgegrenzt wurde und bis heute, am 25. Mai 2022, von Kriminellen überfallen wird, die auf der Suche nach Reichtümern sind und durch die Nachlässigkeit des brasilianischen Staates die Ausrottung der Eingeborenen provozieren.
Original von Kátia Brasil „AmazôniaReal“
Deutsche Bearbeitung/Übersetzung: Klaus D. Günther
Wer ist Amazônia Real
Die unabhängige und investigative Journalismusagentur Amazônia Real ist eine gemeinnützige Organisation, die von den Journalisten Kátia Brasil und Elaíze Farias am 20. Oktober 2013 in Manaus, Amazonas, Nordbrasilien, gegründet wurde.
Der von Amazônia Real produzierte Journalismus setzt auf die Arbeit von Fachleuten mit Feingefühl bei der Suche nach großartigen Geschichten über den Amazonas und seine Bevölkerung, insbesondere solche, die in der Mainstream-Presse keinen Platz haben.