Eine Reportage über ein Volk, das ums Überleben kämpft – und um seine Kinder.
Wenn ein Yanomami-Kind geboren wird, wird es von den Armen seiner Mutter umschlossen und sofort an ihre Brust gelegt. In diesem Moment wird es Teil einer Gemeinschaft, die seit Jahrtausenden im Rhythmus des Waldes lebt. Kindheit bei den Yanomami bedeutet Freiheit: Die Kinder laufen barfuß durch die Dörfer, begleiten ihre Eltern beim Fischen, Sammeln und Feiern. Sie lernen durch Beobachtung, durch Nachahmung, durch Leben.

Doch dieses freie Aufwachsen und das soziale Geflecht, das es trägt ist bedroht. Ein aktueller Bericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF), gemeinsam mit der Hutukara Yanomami Association (HAY), zeigt in schonungsloser Deutlichkeit, wie der illegale Goldabbau das Leben der Yanomami zerstört und vor allem das ihrer Kinder.
Das Yanomami-Territorium, das sich über 9,6 Millionen Hektar zwischen den Bundesstaaten Amazonas und Roraima erstreckt, ist das größte indigene Schutzgebiet Brasiliens. Doch in den letzten Jahren drangen bis zu 20.000 Goldsucher ein. Sie rissen Schneisen in den Regenwald, vergifteten Flüsse mit Quecksilber und zerstörten Felder. Die Spuren dieser Zerstörung reichen tief bis in die Familien und Herzen der Menschen.
Gold, Konsum und verlorene Werte
Die Yanomami leben von und mit dem Wald. Ihr Wissen über Pflanzen, Tiere und Heilmethoden wurde über Generationen weitergegeben. Doch mit dem Gold kamen Boote, Handys, Alkohol, Waffen und neue Versuchungen.
„Viele junge Männer, die als Garimpo arbeiten, haben plötzlich Geld und Besitz“, erklärt die Anthropologin Ana Maria Machado, die seit fast zwei Jahrzehnten mit den Yanomami forscht. „Sie gewinnen Ansehen und das verändert die Hierarchien in den Dörfern. Die traditionellen Führer, die pata thëpë, verlieren an Einfluss.“
Diese Entwicklung hatte der Schamane Davi Kopenawa Yanomami schon vor Jahren vorausgesehen. In seinem Buch „Der Sturz des Himmels“ schrieb er: „Ihr Denken wurde trübe angesichts der Schönheit der Metalltöpfe und Gewehre der Weißen. Sie achteten nicht mehr auf ihre Kinder. Ihr Geist war gefangen in der Sprache der Waren.“
Heute wiederholt sich diese Warnung. Jugendliche, die einst von Ältesten lernten, wenden sich vom Wissen der Alten ab. Der Wunsch nach Konsum ersetzt die Werte wie der Gemeinschaft, Gegenseitigkeit, Fürsorge und Respekt.
Eine Generation in Gefahr
Die humanitäre Krise im Yanomami-Territorium hat ein Ausmaß erreicht, das erschüttert. Zwischen 2019 und 2022 erkrankten über 21.000 Yanomami-Kinder an Malaria, siebenmal mehr als in den Jahren zuvor. 47 von ihnen starben.
Gleichzeitig leiden immer mehr Kinder an Hunger und Mangelernährung. In manchen Gemeinden wiesen alle untersuchten Kinder Parasiten auf, und über 80 Prozent der Kinder unter fünf Jahren zeigten Anzeichen chronischer Unterernährung.

Im Januar 2023 erklärte die brasilianische Regierung den Gesundheitsnotstand. Die Bilder aus dem Dschungel: Kinder mit eingefallenen Gesichtern, Mütter, die zu schwach sind, um ihre Babys zu stillen gingen um die Welt.
Doch trotz aller Sofortmaßnahmen blieb die Krise bestehen. Die Goldsucher passten sich an, drangen über neue Wege ein, und mit ihnen kamen Krankheiten, Alkohol, Waffen und Gewalt.
Die unsichtbare Gewalt
„Mit dem Goldabbau kommt das Schlimmste unserer Gesellschaft“, sagt Machado. „Alkohol, Drogen, Prostitution, Gewalt.“
In vielen Dörfern berichten Frauen von sexuellen Übergriffen. Mädchen, manche kaum zwölf Jahre alt, werden von Goldgräbern missbraucht, oft im Austausch gegen Nahrung. Einige bringen Kinder zur Welt, deren Väter längst verschwunden sind.
Die gesundheitlichen Folgen sind verheerend. Krankheiten wie Syphilis, Gonorrhö und HIV breiten sich aus. Yanomami-Frauen klagen über Blutungen, Fehlgeburten, Schmerzen, die sie früher nicht kannten.
Eine ältere Yanomami-Frau sagte: „Früher kannten wir diese Krankheiten nicht. Jetzt, seit die Goldsucher mit ihrem Cachaça kamen, haben sie uns ihre Krankheiten gebracht.“
Zwischen Wald und Internet
Auch die Bildung steckt in der Krise. Viele Schulen stehen leer, Lehrer fehlen. Die Älteren klagen, dass die Jugendlichen „nur noch am Handy hängen“.
Doch das Smartphone ist längst Teil der neuen Realität und zugleich ein Werkzeug des Widerstands. Über ihre Telefone dokumentieren die Yanomami illegale Aktivitäten, melden Eindringlinge und Missstände im Gesundheitssystem. Sie filmen Feste, teilen Lieder und Tänze und bewahren so ein Stück ihrer Kultur im digitalen Raum.
„Die Handys verändern viel“, sagt Machado. „Sie bringen neue Möglichkeiten, aber auch neue Risiken. Zwischen TikTok, WhatsApp und Videos aus der Stadt verschwimmen Welten. Doch das Bewusstsein wächst: Es braucht Regeln, Austausch, Verständnis.“
Ein Ruf nach Respekt und Zuhören
Der UNICEF-Bericht endet mit einem klaren Appell: Das Überleben der Yanomami hängt nicht nur vom Schutz ihres Landes ab,sondern auch vom Respekt vor ihrem Wissen, ihrer Kultur und ihren Stimmen.
Die Umsetzung des Yanomami-Planes für territoriale und ökologische Verwaltung (PGTA) gilt dabei als Schlüssel. Er wurde von den Gemeinschaften selbst entwickelt, als Leitfaden für ein Leben im Gleichgewicht mit dem Wald.
„Den Schutz der Yanomami-Kinder zu sichern bedeutet, ihre Kultur und Vielfalt zu respektieren, ihre Organisationen zu stärken und ihre Stimmen in politische Entscheidungen einzubeziehen“, sagt Joaquin Gonzalez-Aleman, UNICEF-Vertreter in Brasilien. „Nur durch langfristige, kulturell angepasste Lösungen lässt sich die Zukunft einer ganzen Generation retten.“
Der Bericht, entstanden in Zusammenarbeit zwischen der Hutukara Association, der Urihi Yanomami Association und dem Anthropologen-Team um Ana Maria Machado und Marcelo Moura, wurde von UNICEF Brasilien koordiniert und von der Europäischen Union unterstützt.

In den Dörfern, zwischen den Flüssen und Wäldern Amazoniens, wächst eine Generation auf, die zwischen zwei Welten lebt: der alten, die vom Wald erzählt – und der neuen, die das Gold sucht. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass ihre Stimmen gehört werden, bevor das Schweigen des Waldes endgültig lauter wird.
Original: Nicoly Ambrosio, AmazoniaReal
Adaption/deutsche Übersetzung: BrasilienPortal
Wer ist Amazônia Real
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