Die weltbekannte, 2,8 Kilometer lange Avenida Paulista in der Megalopolis São Paulo, erste brasilianische Adresse der grössten Finanzinstitute und Symbol der Wirtschaft Brasiliens, wird oft auch als die “brasilianischen Wallstreet“ bezeichnet. Neben einer Vielzahl von Grossbanken beherbergt sie jedoch auch verschiedene kulturelle Einrichtungen, wie zum Beispiel Südamerikas best ausgestattetes Museum für Moderne Kunst (MASP), verschiedene Radio- und Fernsehsender und die feinsten Nobel-Boutiquen und Shopping-Malls der Stadt.
Die Avenida Paulista ist zweifellos Südamerikas teuerste Wohn- und Geschäftsgegend überhaupt, und wenn man unter der Woche den dichten Autoverkehr zwischen den Wolkenkratzern aus Beton und Glas, und die herumwieselnden Menschen auf den breiten Trottoirs beobachtet, ist von der Rezession, in der Brasiliens Wirtschaft gegenwärtig stecken soll, rein gar nichts zu bemerken.
Doch São Paulos Bürger und die meisten Ladenbesitzer weigerten sich dieses Jahr, die sonst übliche Weihnachtsdekoration an ihren Häusern und Geschäften anzubringen, um damit ihren Protest gegen die haltlos steigenden Preise und zunehmenden Steuerabgaben auszudrücken.
Die bekannteste Strasse der Stadt hat sich inzwischen auch zu einem touristischen Highlight entwickelt, und deshalb kamen ihre Verantwortlichen auf die Idee, sie an Sonntagen für den motorisierten Verkehr zu sperren, um für Bürger und Touristen hier ein Stätte der Begegnung zu schaffen – einen verkehrsfreien Raum für Freizeit im Zentrum der Stadt, den die einen als willkommene Jogging- oder Skatepiste und als Spielplatz für ihre Kinder und Hunde begrüssen, während die andern die sie umgebende Architekturkulisse bestaunen und auf ihre Smartphones zu bannen versuchen.
Und, dass die Sonne ihre Strahlen endlich mal wieder bis auf den Asphalt dieser Strassenschlucht herunterschicken kann – weil der an Werktagen übliche Abgasdunst sie nicht daran hindert – macht solche Sonntage für alle besonders wertvoll.
Gestern Sonntag, den 6. Dezember, wurde “die Paulista“ wieder für den Autoverkehr gesperrt – zwischen 10 Uhr morgens bis 18 Uhr am Nachmittag. Die Initiative ist Teil eines Programms, das von der Präfektur als “Rua Aberta“ (Offene Strasse) präsentiert wurde. “Die Menschen fangen an, São Paulo als einen Ort der Begegnung zu empfinden, offen für alle und mit unzähligen Freizeitmöglichkeiten. Die Öffnung der Paulista ist ein Symbol für die Wiederentdeckung der Besetzung des öffentlichen Raumes“ – erklärte der Präfekt (Bürgermeister) von São Paulo, Fernando Haddad in einem Interview.
Seine Entscheidung – wie könnte es anders sein – hat allerdings auch entsprechende Gegenstimmen mobilisiert. Die CET (Companhia de Engenharia de Trafego) hat bereits die ersten Anwohner der Avenida registriert, die mit ihren Autos trotz Absperrung von und zu ihren Garagen fahren wollen. Die Staatsanwaltschaft warnte, dass die Präfektur von São Paulo nach einer Sperrung der Avenida Paulista jedesmal mit einer Konventionalstrafe von R$ 50.000 (12.370 Euro) belegt würde.
Die Institution erklärte dazu, dass diese Avenida nur dreimal pro Jahr blockiert werden darf – so stünde es in der Vereinbarung TAC (Verpflichtung zur Änderung eines Zustands) von 2007. Daraufhin hat der Präfekt entgegnet, dass er die Avenida trotzdem für den Autoverkehr, wie geplant, sperren lasse, da die Politik zur Erweiterung der Freizeiträume nicht von diesem Terminus berührt würde.
Ob nun ja oder nein – Tatsache ist, dass sich sofort eine Unmenge Leute auf der verkehrsfreien Avenida einfanden, und alle in Hochstimmung! Da gab es Grüppchen, die zusammen einen Churrasco grillten, tanzende Paare, Familien mit ihren Kindern und Haustieren, Radler, Skateboarder, Rollschuhläufer und verschiedene musikalische Darbietungen unterschiedlicher Künstler – und das über die gesamte Länge der Avenida.
Es war so viel zu sehen und mitzugestalten, dass es einem schwer fiel zu entscheiden, wo man anhalten oder lieber weitergehen sollte.
Ein Besucher aus der Schweiz, den wir unterwegs kennenlernten, meinte dazu: “Eine tolle Sache ist diese Schliessung der Avenida Paulista. Es war interessant zu sehen, wie viele Bürger diese neue Freizeitidee begrüssten – alles verlief friedlich, und ich habe sogar neue Freundschaften geschlossen. Ich denke es tut den gestressten Menschen der Grossstadt gut, ab und zu einen ruhigen Sonntag geniessen zu können.
Ich habe Programme für Behinderte gesehen, die mit Spezialfahrrädern rumgefahren wurden, für Kinder gab es verschiedene Spiele, ältere Leute wurden mit Tanzvorführungen erfreut, es spielten verschiedene Bands, und sogar der “Brasilianische Elvis“ war vor Ort. In punkto Sicherheit gibt es auch nichts zu bemängeln, ich habe mich zu jeder Zeit sicher gefühlt, denn gut sichtbare uniformierte Polizisten waren zugegen. Sogar ein Ärzteteam habe ich im Einsatz gesehen“!
Und weil es bereits soviele Dinge zu sehen und zu tun gibt auf dieser neuen paulistanischen “Freizeitmeile“, hat der Stadtplanverlag “GUIA“ die Attraktionen aufgelistet – die Kultur- und Geschäftszentren, die Parks, die Märkte für Kunst, Kunsthandwerk und Antiquitäten, Restaurants, Bars, Kiosks, Büchereien und historischen Gebäude – vom Anfang bis zum Ende der Avenida Paulista, die alle an den bewussten Sonntagen geöffnet sind
Die “Paulista“ gehört uns! Und unseren willkommenen Besuchern, natürlich!!, lautet das Motto der Paulistaner.