Sivam – Der überwachte Urwald

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Sivam – und der überwachte Urwald. Mehr als die Hälfte der enormen Fläche Brasiliens entfallen auf den brasilianischen Teil des Amazonasbeckens – 5,2 Millionen Quadratkilometer – das grösste Süsswasser- und Sauerstoffreservoir der Erde, dessen tropischer Regenwald unter der Bezeichnung „Grüne Hölle“ die Fantasie so mancher Abenteurer beflügelt hat. Unter den idealen klimatischen Bedingungen – kein Frost, keine Trockenheit – hat sich der Erde artenreichste Pflanzenvielfalt entwickelt, die von keinen Jahreszeiten abhängig ist oder bedrängt wird. Blüten und Früchte trifft man hier gleichzeitig, und als ob die schöpferische Fantasie überschäumt, meint man zunächst in jedem Baum eine neue Art zu entdecken – auf einem Hektar Fläche kann man hier durchschnittlich 150 verschiedene Baumarten entdecken, während in Europa insgesamt nur etwa 60 verschiedene Baumarten heimisch sind. Während von der Flora bisher rund 36.000 Arten katalogisiert wurden – man schätzt, das dies nur etwa 30% der gesamten Pflanzenspezies Amazoniens entspricht – präsentiert die Fauna zirka 250 Arten von Säugetieren, 2.000 Arten von Fischen, 1.100 Arten von Vögeln. Vom gesamten Regenwald unseres Planeten, der auf 8,5 Millionen Quadratkilometer geschätzt wird, gehören 60% Brasilien.

Rio Amazonas
Er ist die wichtigste hydrografische Arterie Amazoniens und wurde im Januar 1500, an seiner Mündung, durch den Spanier Vicente Yanez Pinzon entdeckt – der nannte ihn „Mar Dulce“ (Süsswassermeer) – und die Entdeckung seines Verlaufs geht auf das Konto von Francisco Orelhana, der ihn von West nach Ost befuhr (1541) und ihm seinen Namen nach der Begegnung mit jenen kriegerischen Frauen, an der Mündung des Rio Nhamunda, gab.

Der Amazonas (sein am Oberlauf benutzter Name „Rio Solimões“ wird inzwischen offiziell nicht mehr benutzt) bildet eine natürliche Wasserstrasse durch diese immergrüne Wildnis und ist mit 6.300 Kilometern – wenn man seinen Quellfluss, den Rio Ucayali, miteinbezieht – auch die längste der Welt. Sechsmal so lang wie der Rhein, von 1.100 nennenswerten Nebenflüssen gespeist – 20 von ihnen ebenfalls länger als der Rhein. Die Tiefe des Hauptstromes schwankt zwischen 10 und 60 Metern, seine Breite zwischen 1,5 Kilometern an der peruanischen Grenze und 6 Kilometern am Unterlauf – das gesamte Mündungsdelta, in der Bucht von Marajó, hat eine Ausdehnung von 200 km. Er befördert mit seinem Hauptstrom 80.000 bis 90.000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde in den Atlantischen Ozean. Seine Hauptquellen befinden sich oberhalb der Lagoa Santana, in den peruanischen Anden – sein Sammelbecken ist von einer ewigen Eiskruste bedeckt.

Gefahren
Schon während der 80er Jahre bezeichnete man Amazonien weltweit als „Lunge der Welt“ und die Brasilianer als „Brandstifter, die den Sauerstoff unseres Planeten vernichten“. Und die tonangebenden Länder dieser Welt – so sehen es die Brasilianer – „erklärten sich besorgt um die Gesundheit der Erde und fingen an, Ratschläge auszuteilen in allem, was mit Amazonien zu tun hatte, weil sie mit einem Auge auf die Reichtümer unseres Regenwaldes schielten“. Zu dieser Zeit existierten in dieser riesigen Region tatsächlich verschiedene Routen des Drogenhandels, eine ungeregelte Landbesetzung durch Siedler, Invasion der den Indianern zugesprochenen Gebiete, Schmuggel und ausbeuterische Aktionen – besonders der skrupellosen Holzfäller und Goldschürfer – sowie eine Reihe anderer krimineller Machenschaften. Mangels fehlender Kommunikation und Kontrolle war es der brasilianischen Regierung damals unmöglich, sich ein wahrheitsgetreues Bild der Verhältnisse in Amazonien zu schaffen.

Erste Initiativen
Beschlossen wurde das Projekt eines elektronischen Überwachungs-Systems für Amazonien auf dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro, im Jahr 1992, auf dem man, unter anderem, besonders die Zerstörung des „für die gesamte Menschheit so kostbaren Regenwaldes“ beklagte. Im September 1990 präsentierten die „Secretaria de Assuntos Estratégicos da Presidência da República (SAE/PR)“ und die Ministerien der Luftwaffe und der Justiz ihrem Präsidenten gemeinsam eine Aufstellung der „tatsächlichen Realität Amazoniens“, mit allen seinen Problemen. Gemeinsam wurden die Richtlinien erarbeitet, nach denen sich jede der beteiligten Institutionen hinsichtlich des Umweltschutzes zu verhalten habe – wie die Ausbeutung natürlicher Ressourcen zu rationalisieren sei, und wie man die Entwicklung zur Selbsterhaltung der Bevölkerung Amazoniens fördern könnte:

Der SAE/PR kam dabei die Aufgabe zu, ein nationales Koordinations-System zu formulieren – das gegenwärtige „Sistema de Proteção da Amazônia (SIPAM)“ System zum Schutz Amazoniens – in dem die integrierten Aktionen der Regierungs-Organe die Promotion der selbsterhaltenden Entwicklung, des Naturschutzes und die Verfolgung jeglicher Ungesetzlichkeiten zum Ziel haben.

Dem Luftwaffen-Ministerium wurde die Installation des „Sistema de Vigilância da Amazônia“ (SIVAM) übertragen – es sollte in das „Sistema de Proteção da Amazônia (SIPAM)“ integriert werden, als Werkzeug für dessen Funktion.

Und dem Justiz-Ministerium fiel schliesslich die Aufgabe zu, die gesetzliche Regelung für das ganze Projekt zu schaffen, mit anderen Worten, den Arm des Gesetzes auf das SIVAM auszudehnen, um bei vom System erfassten Ungesetzlichkeiten einschreiten zu können. Aus dieser erweiterten Gesetzgebung heraus erarbeitete man das „Projekt Pro Amazonien“, welches der Polizei der Brasilianischen Föderation in Amazonien besondere Handlungsbefugnisse einräumt.

Vorbereitung
Die Konzeption des SIVAM erforderte eine Anstrengung von der Grössenordnung 9.000 Männer/Arbeitsstunde – zwischen September 1990 und April 1992. Als diese erste Phase abgeschlossen war, ging man zur Konfiguration des Systems über, wofür man zirka 7.000 Männer/Arbeitsstunde einsetzte – die Konfiguration war im Dezember 1992 fertig. Zwischen Dezember 1992 und September 1993 wurden noch einmal 5.600 Männer/Arbeitsstunde eingesetzt – und zwar für die Korrekturen der Konfiguration und für die Vorbereitungen hinsichtlich des Vorgehens zur Auswahl der beteiligten Liefer-Firmen des technischen Know-how.

Ausschreibung
Im September 1993 wurde über das Aussenministerium und die Botschaften der einzelnen Gastländer in Brasília offiziell der Wettbewerb für die Erstellung des SIVAM-Systems ausgeschrieben. Am 5. April 1994 waren von 60 anfänglichen Bewerbern noch 11 übrig geblieben, von denen aber nur 7 auch Vorschläge zur Finanzierung eingebracht hatten. Und zwar: Dasa/Alenia (Deutschland/Italien), Raytheon (USA), Thomson/Alcatel (Frankreich), Unisys (USA), Fokker (USA), IAI/Electronic (Israel) und Sierra Technology (EUA). Von diesen sieben, enthielten aber nur vier einen tatsächlichen Finanzierungsvorschlag von Anfang an – die andern redeten sich damit heraus, dass sie eine Finanzierung erst anvisieren würden, wenn sie den Zuschlag bekämen. Dasa/Alenia und Unisys waren teurer als Raytheon und Thomson, also schieden sie aus. Am 18. Juli 1994 stand der Sieger fest: die amerikanische Raytheon. Für diese Entscheidung war die grössere finanzielle Sicherheit ausschlaggebend, die die Amerikaner den Brasilianern, unabhängig von ihrer momentanen finanzwirtschaftlichen Situation, garantierten.

Inbetriebnahme
Das 1,4 Milliarden teure SIVAM-System wurde am 25. Juli 2002 durch den damaligen Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso in Betrieb genommen. In seiner Ansprache im Operations-Zentrum von Manaus, betonte dieser, dass nunmehr die „Geschichte Amazoniens in zwei Phasen geteilt werden könne: in die vor und die nach der Implantierung des SIVAM“. Das bisher teuerste Überwachungs- und Kontroll-System der Geschichte wird, wenn alle seine einzelnen Komponenten fertiggestellt sind, den Regenwald lückenlos überwachen können – „kein Moskito wird mehr unbeobachtet von einem Ast zum andern fliegen“, wie sich einer der anwesenden Militärs sehr drastisch ausdrückte.

Kritik
Obwohl man SIVAM von Anfang an als ein Projekt nationaler Sicherheit einstufte und deshalb erst einmal seine Realisierung durch ausländische Unternehmen ausschloss, sah man sich angesichts des fehlenden Know-how in den eigenen Reihen gezwungen, wieder von dieser Haltung abzurücken. Dass ausgerechnet die US-amerikanische Raytheon den Wettbewerb gewann – sie soll vom amerikanischen Geheimdienst mit Informationen über die Konkurrenten versorgt worden sein – hat eine Reihe von Kritikern auf den Plan gerufen, die einerseits den Auswahlprozess als „Komödie zur Begünstigung US-amerikanischer Interessen“ bezeichneten, und zum andern den Verdacht äusserten, dass die Amerikaner während ihrer anfänglichen 18 Monate langen und kontraktlich festgelegten Betreuung des Systems und die Einweisung brasilianischer Techniker, nun genaue Kenntnisse über brasilianische Bodenschätze in Amazonien erlangten, die sie als Grundlage für spätere Beteiligungsabsprachen und die endgültige Ausbeutung benutzen könnten. „Raytheon steht in direkter Verbindung mit dem Pentagon“, so sieht es der amazonensische Journalist Flávio Pinto, „das ganze SIVAM-Projekt ist als eine nur schwer durchschaubare Black-Box konzipiert“ – die natürlich, so sehen es andere Journalisten, wieder mal ein „Big American Business“ hinter den aussenpolitischen Interessen der USA verbirgt. Tatsache ist, dass die Erstellung des SIVAM für die USA einem geopolitischen Sieg gleichzusetzen ist.

Der Nutzen
Das strategische Projekt SIVAM dient primär dem Schutz des Regenwaldes im Kampf gegen illegales Abholzen, gegen den Drogenhandel und die gesetzwidrige Ausbeutung von Bodenschätzen, aber auch der Grenzüberwachung und der Luftsicherung. Es besteht anfänglich aus 19 festen und sechs mobilen Radarstationen, 3 Überwachungsflugzeugen, die unter anderem mit Infrarotkameras ausgestattet sind, Empfangsstationen für sechs Überwachungssatelliten und zehn Wetterradars, 14 Blitzsensoren und verschiedenen Ballons, die ebenfalls mit Sensoren für Umweltdaten ausgerüstet sind. Darüber hinaus machen Hunderte von meteorologische Mess-Stationen und Wassersensoren Angaben über Wasserstand und Wasserqualität der Flüsse. Zusätzlich wurden im Amazonasbecken an die 1000 mobile Telekommunikationseinheiten mit Telefonen, Faxgeräten und Internetanschlüssen verteilt. Satellitenschüsseln vernetzen sie im gesamten Amazonasgebiet mit dem zentralen Kontrollsystem in Manaus.

Im SIVAM-Kontrollzentrum, in Manaus werden alle diese Daten gesammelt und auf den Monitoren riesiger Rechenanlagen dargestellt und analysiert. Gefahren für die nationale Sicherheit und illegale Aktivitäten, gleich welcher Art, können von den Umweltbehörden und der Polizei schnell erkannt werden. Bisher ist das gewaltige System erst zu etwa 75% fertiggestellt. Mit seiner Vollendung werden auch abgelegenste Orte Amazoniens an das SIVAM angeschlossen sein – nichts wird den Monitoren in Manaus und Brasília mehr verborgen bleiben.

Fazit
Seit das SIVAM nun in die Tat umgesetzt wurde, kann man in der ausländischen Presse schon wieder Verdächtigungen lesen, „wozu wir es missbrauchen“ könnten! Hätten wir das SIVAM nicht montiert, würde man weiter mit Fingern auf uns zeigen, weil wir nichts tun – nun, da es vollbracht ist, verdächtigt man uns unlauterer Absichten. Wir Brasilianer würden zu dieser ganzen Polemik einfach nur sagen: „Cuidado com o olho grande“ – in etwa: „Hüte Dich vor dem begehrlichen Auge“. Aber besuchen Sie uns trotzdem einmal, denn eine solche Reise hilft erfahrungsgemäss Vorurteile abzubauen – und wir haben keine gegen niemanden, das beweist schon unser beispielloses Völkergemisch.

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