Das Gelächter

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

“Schrei bitte nicht so”!
“Ich schreie nicht. Ich lache”.
”Laut sprechen oder diese furchtbare kehlige Lache sind für mich ein und dasselbe. Das ist eine animalische Angewohnheit, welche meine Natur nicht erträgt. Ihr kennt meine Faszination für die Frauen. Nichts übt auf mich eine grössere Anziehung aus, als eine Frau.

Aber auch die hübscheste Frau, die perfekteste und faszinierendste Eva, provoziert in mir, falls sie laut redet oder gar explosiv lacht, ein monströses Verlangen, ihr den Hals mit meinen Händen zuzudrücken. Ich fühle mich ausserstande etwas dagegen zu tun – es ist ein impulsiver Reflex. Nur Tiere drücken ihre Präsenz durch Gebrüll aus – nur moralisch und geistig desklassifizierte Kreaturen kommunizieren mit Geschrei und lachen aus der Kehle. Und jetzt wisst ihr es – schreit nicht und lasst auch nicht solche schrecklichen Lacher in meiner Nähe los, wenn ihr mich nicht in einen Kriminellen verwandeln wollt. Ich hab mich bei solchem Lärm einfach nicht mehr unter Kontrolle – was immer auch der Grund dafür sein mag.

Gaspar und seine beiden Freunde unterhielten sich in einer Bar, es war weit nach Mitternacht, Zigarettenrauch und Alkoholdunst mischten sich mit den Tönen eines leicht verstimmten Pianos, über dessen speckige Tastatur die müden Finger eines Schwarzen hinwegglitten.

André, nachdem er mehrere Gläschen Whisky intus hatte, von explosiver Fröhlichkeit erfüllt, erging sich im Nacherzählen schlechter Witze, deren Pointe er jedes Mal mit seiner fürchterlich bellenden Lache zerriss.

Der Dritte, Maurício, fast bewegungslos und still, beobachtete ausgiebig alle Gäste der kleinen Bar. Sein besonderes Interesse galt zwei Details des menschlichen Körpers: den Händen und dem Nacken.

”Gaspar, du definierst und klassifizierst die Kreaturen nach ihrer Art zu reden und ihrer Lache. Und du hast recht. Es kann weder grosse Intelligenz noch geistige Bildung in einer Person vorhanden sein, die ihre Freude und ihre Meinung durch Gebrüll ausdrückt. Ihr beiden kritisiert mich immer, wenn ich die meiste Zeit still und mit meinen Augen beschäftigt die Hände und Nacken der Leute vor mir betrachte. Ich will’s erklären. Ich für meinen Teil, mag die Essenz eines Individuums anhand seiner Hände und seines Nackens definieren. Seht euch zum Beispiel mal den Kerl an jenem Tisch zu unserer Linken an. Gezwungenermassen ist er eine kleinkarierte Type mit einem Hang zum Geiz, vierundzwanzig Stunden am Tag bereit zu allen möglichen Schlechtigkeiten. Er ist in Begleitung einer Frau, die einzig und allein durch ihren traurigen Blick auffällt. Der Rest an ihr ist gewöhnlich und unbedeutend. Ihre Art sich zu kleiden ist vorstädtisch. Ihr Blick dagegen ist schwer von der Last der erduldeten Erniedrigungen und Strafen. Der Mann, den sie begleitet, merkt davon gar nichts und erdrückt die arme Frau“.

”Hast du, Maurício, die Traurigkeit der Frau und die Kleinkariertheit des Charakters dieses Mannes von seinen Händen abgelesen – nur von seinen Händen“? – fragte André verblufft.

”Jawohl, von den Händen. Beobachtet mal seine Gesten und die kurze und dicke Form seiner Hände, sie sind flach, mit winzigen, ins Fleisch eingegrabenen Nägeln, behaarte Finger, die Handgelenke ebenfalls behaart. Seine Hände gleichen schlafenden Spinnen, wenn er sie ruhig hält. Es sind widerliche Hände, bestimmt in ständiger Transpiration – stets nass vom Schweiss. Beobachtet die Gesten dieser Hände – stets in kleinen Kurven in Richtung seines Bauches, sie scheinen die Krümel des Tisches in seinen Magen fegen zu wollen. Nichts an seinem Körper definiert seine Kleinkariertheit besser als seine Hände“.

”Kennst du ihn denn, dass du mit solcher Sicherheit seinen Charakter beschreibst“?

”Nein, ich habe ihn noch nie gesehen. Aber seit ich hier bin, ist mir seine abstossende Persönlichkeit durch seine behaarten Hände aufgefallen – kurze Hände und mit abstossenden Bewegungen“.

Während Maurício noch seine Beobachtungen erklärt, beschwert sich der Mann plötzlich mit grossem Gebrüll beim Kellner über ein unbedeutendes Bedienungsgeld, welches auf die Rechnung gesetzt worden war. Er gibt zu verstehen, dass dieses Bedienungsgeld ihn nunmehr dazu zwinge, zu Fuss nach Hause zu gehen.

Die Frau neben ihm fühlt mit niedergeschlagenem Blick ihre eigene Erniedrigung, einer Begleiterin, die zum schweren finanziellen Problem eines Mannes beigetragen, der sie in diese Bar geführt hat – als ob sie sich des exzessiven Preises ihrer eigenen Begleitung schäme, verdunkelt sich ihr Blick in noch tieferer Traurigkeit.

Maurício sieht seine Freunde mit dem Lächeln eines Siegers an, der ins Schwarz getroffen hat. Der Mann mit den kurzen, behaarten Händen hat gerade seine Essenz offenbart.

”So, und jetzt werft mal einen Blick auf den Nacken jenes Kerls, der uns gerade den Rücken zukehrt. Ein bleicher Nacken, ein Specknacken, mit einem sehr hohen Haaransatz, der aussieht wie die etwas spärlich gewordenen Fransen eines alten Vorhangs. Im Nacken eines Mannes sollte der Haaransatz etwa in der Mitte des Halses anfangen – mit starken Haaren, die Vitalität und Entscheidungskraft ausdrücken. Misstraut allen Männern, deren Nacken sich bis zur Hälfte des Kopfes hinaufzieht! Ein solcher Kerl ist auf jeden Fall ein untreues, verräterisches Individuum, mit Tendenz zu einem oberflächlichen Leben, der seine Existenz durch die Ausnutzung der Frauen garantiert“.

”Was für ein Blödsinn! Und solche, die überhaupt keinen Hals haben, die keinen Nacken haben und deren Kopf direkt auf die Schultern aufgesetzt ist – wie sind die“? – insistiert nun André, schon ziemlich betrunken.

”Nun, das sind die hartnäckigen Esel. Starrköpfig und eitel. Und sie sind gefährlich. Sie fühlen sich als Götter der Weisheit, und wenn sie eine kleine Machtposition innehaben oder sich ein Vermögen gesichert, meinen sie, das Recht zu haben, auf den anderen herumtreten zu können – sie haben das Sagen, weil sie das Geld haben. Wie ich schon sagte, die ohne Hals sind die Gefährlichen für das Kollektiv.

In diesem Moment lenkt Maurício wieder die Aufmerksamkeit seiner Freunde auf den Kerl mit dem Specknacken.

”Schaut euch an, was er jetzt macht, und wie unfehlbar meine Studien sind“!

Der Mann bekommt gerade von seiner Begleiterin die Geldscheine zugeschoben – über das Tischtuch – mit denen er die Rechnung bezahlen wird.

”Maurício, was bezweckst du eigentlich mit deinen Studien, den Charakter der Kreaturen anhand ihrer Hände und ihres Nackens bestimmen zu wollen“?

”Nun, ich möchte mich so nahe wie möglich an die Essenz der Dinge herantasten. Das ist ein Studium wie jedes andere auch. Ist auch vergnüglich. Meine Studien und Beobachtungen werden allerdings nicht verhindern können, dass weiterhin kleinkarierte Männer mit abstossenden Eigenschaften geboren werden, ich weiss. Aber mit jedem Mal, in dem meine Beobachtungen mit meiner Einschätzung übereinstimmen, wächst mein Interesse an diesen Studien. Es ist so eine Art Spiel mit mir selbst. Das Prinzip menschlicher Ignoranz besteht darin, etwas zu definieren, was man ausspricht oder was man vorzieht auszusprechen, in Bezug auf etwas, das man noch nicht weiss, und was man auch nicht definieren kann. Ich spreche von dem, was man noch nicht definieren kann. Und ich versuche, bis zur menschlichen Ignoranz vorzudringen“.

”Zum Beispiel: Gaspars Unkontrolliertheit, wenn er jemanden schreien hört oder laut lachen, scheint mir eine Reaktion zu sein, die im Innersten mit seiner Sensibilität gekoppelt ist. Seine Eindrücke, seine Visionen oder seine unerwarteten Ausbrüche dürften je nach seiner jeweiligen, durch grelle Lacher und starken Lärm brutalisierten Rezeptivität, variieren. Die Reaktion der Sensibilität jedes Menschen kann sich in Irrewerden oder auch in verbrecherischen Handlungen manifestieren. Ich habe einen Jungen gekannt, der verlor seine Stimme jedesmal, wenn er von Lärm oder durcheinander schreienden Menschen umgeben war. Dann blieb er über mehrere Stunden lang stumm. Vollkommen stumm. Er schloss sich in sein Zimmer ein und vergrub sich in seine Bücher. Die Familie war jedesmal von seiner Stummheit betroffen – die Medizin konnte da auch nicht weiterhelfen. Seine Stummheit war total, und sein Gehör folgte demselben Prozess. Einen Tag später erschien er dann wieder mit normaler Stimme und Gehör. Er erschrak auch immer furchtbar, wenn er von weitem das Motorengeräusch eines herankommenden Flugzeugs am Himmel vernahm. Und falls das Telefon läutete, wenn er in der Nähe war, rannte er in sein Zimmer, wie ein geschlagener Hund. Sie sagten, er habe „ein unausgeglichenes Wesen“, aber bald nahmen sie ihre Meinung wieder zurück, als seine Familie beschloss, ihn auf eine ”Fazenda“ (Bauernhof) im Landesinnern zu schicken, wo er nur Kontakt mit der Stille der Natur hatte.

Die Lösung war tatsächlich, ihn von allem und allen so weit wie möglich fernzuhalten. Während dieser Zeit sprach und hörte er ganz normal, und besonders interessant ist, dass er anfing, Wiegenlieder seiner Mutter zu singen, und seine Stimme hatte einen wunderbaren Klang – der Tumult der Stadt, das Gebrüll, das Durcheinanderschreien, das Gelächter, hatten seine Stimme und sein Gehör stets unterdrückt und malträtiert – jetzt, in der Stille hatten sie sich zur Perfektion entwickelt. Man betrachtete ihn allgemein als einen enigmatischen Eigenbrötler. Nun, unser Gaspar reiht sich wahrscheinlich, ohne es zu wissen, ein in die seltenen Typen, die unter demselben Phänomen leiden. Daher seine Unkontrolliertheit, sein Entsetzen, wenn jemand neben ihm rumschreit oder in brüllendes Gelächter ausbricht. Dann kann man bei ihm auch eine sofortige Veränderung seiner Gesichtszüge beobachten, eine abwehrende Haltung – und es ist sicher nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn er selbst die Möglichkeit zugibt, dass er wegen eines schallenden Gelächters zum Mörder werden könnte“!

Gaspar hörte zu, ohne Maurício zu unterbrechen – er schien sich der Diagnose seines Freundes anzuschliessen.

Eine plötzliche Stille legte sich über den Tisch der Drei. Aus jener vom Rauch und Alkoholdunst geschwängerten Ecke der Bar klangen immer noch die abgehackten Töne des Pianos herüber – die letzten Nachtschwärmer, welche die Theke belagerten, palaverten sichtlich müde und berauscht vor sich hin. Am Tisch der drei Freunde ging eine junge Frau vorüber. Sie war nicht besonders hübsch, aber auch nicht gerade hässlich – eine Barfrau eben. Gaspar hielt sie am Arm fest und fragte sie, ob sie allein sei. Die junge Frau nickte mit dem Kopf.

”Wo willst du denn hin“?

”Nach Hause“.

”Wart einen Moment, ich geh mit dir“! Und nachdem Gaspar sich von seinen Freunden verabschiedet hatte, verliessen die beiden die Bar.

In einem billigen Hotel hörten ein paar Frühaufsteher die Tür eines Zimmers ins Schloss fallen. Dann das Gemurmel von Stimmen eines Paares. Plötzlich schallte das gellende Gelächter der Frau durch den Korridor. Noch einmal dasselbe schallende Gelächter – danach absolute Stille.

Am Morgen, als die Consierge ihren Dienst aufnahm und an dem Zimmer vorbeiging, das von jenem Paar in der Morgendämmerung bezogen worden war, sah sie durch die halboffene Tür eine nackte Frau ausgestreckt auf dem Bett liegen, und über ihrem Gesicht das Kopfkissen. Ihr starrer Körper war sehr weiss und präsentierte ungewöhnlich voluminöse Brüste.

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AutorIn: Klaus D. Günther

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