Copyright Fotos und Text by Piers Armstrong und BrazilMax
Der berühmteste Platz in Salvador heisst „Pelourinho“ – benannt nach dem historischen Schandpfahl, an welchen aufsässige Sklaven angekettet und ausgepeitscht wurden. Heute wird das gesamte historische Stadtviertel drum herum nach ihm benannt. Nach dem gesellschaftlichen Niedergang während des zwanzigsten Jahrhunderts, verfiel diese ehemalige Patrizier-Enklave mit ihren vornehmen Villen zu einem gefährlichen Rotlicht-Distrikt. Wie vom berühmten bahianischen Romancier Jorge Amado 1960 beschrieben, war der Pelourinho aber auch der Ort kultureller Initiative und Versammlungsort von verschiedenen afro-brasilianischen Praktikern. Und viele europäische Touristen waren ausserdem mehr an seiner lebendigen Kultur interessiert, als dass sie ihn fürchteten – eine Haltung, die stark mit jener der ansässigen weissen Elite kontrastierte, welche die Gegend mieden. Diese positive Persistenz veranlasste die örtlichen Behörden, den Pelourinho-Distrikt zu restaurieren und damit auch einen spektakulär erfolgreichen Kommerzialisierungs-Prozess des historischen Stadtteils einzuleiten. Heute ist er rehabilitiert – sowohl die Einheimischen als auch die Touristen machen hier am liebsten ihre Spaziergänge – auf dem Pelourinho gelingt es ihnen sogar, die Gegensätze zwischen arm und reich zu vergessen.
Foto Nr. 1: „Bonde da Historia“
Die Strassenbahn im Vordergrund ist festlich geschmückt – wie ein Karussell – eine Inspiration zu dem Satz: „Verpass‘ nicht den Zug der Geschichte“. Dahinter, auf der linken Seite, erkennt man restaurierte historische Gebäude – zur Rechten, das Haus von Jorge Amado. Davor die Dekorationen „Wald, Indianer, Papageien, Regenbogen“ gehören zur Endeckung von Brasilien im Jahr 1500.
Foto Nr. 2: „Desde 500 anos“
Wahrscheinlich die berühmtesten Sänger Brasiliens, gehören zu einer Gruppe von Bahianern, die während der letzten 30 Jahre aus Bahias erster kultureller Renaissance hervor gegangen sind. Wir entdecken Gilberto Gil (links), Gal Costa und Caetano Veloso auf dem Bild. Sie alle sind mit der Bewegung des „Tropicalismo“ verbunden, welche lokale ethnische und folkloristische Musik mit eklektisch elektrischem Sound aufmischten und damit auch indirekt die Absurdität der damaligen Militärdiktatur anprangerten. Gil und Caetano sind zu Ikonen des bahianischen Karnevals geworden. Auf dem Bild trägt Gil ein Kostüm der „Filhos de Ganhy“, einer Gruppe, der er 1970 zu ihrem Come-back verholfen hat.
Foto Nr. 3: „Bisavo do Neto“
Dieser betagte Bürger ist das „Maskotchen“ des grössten Karnevals-Clubs „Filhos de Gandhy“, mit rund 5.000 Mitgliedern, die sich in Weiss kleiden, mit Samenketten behängen und einen Turban tragen – jedes Jahr. Der Club wurde von Hafenarbeitern gegründet (1949) – ausschliesslich Afro-Brasilianer mit einer Ideologie der sozialen Gerechtigkeit, inspiriert durch Mahatma Gandhi. Eine so genannte „Afoxé-Gruppe“, die ihre liturgische „Candomblé-Musik“ bei festlichen Anlässen spielt. Neben seiner theatralisch-karnevalistischen Personifikation ist da auch ein deutlicher Aspekt von authentischer Referenz in dieser Figur zu erkennen. Wo verläuft eigentlich die Grenze zwischen Phantasie und heiligem Ritual?
KARNEVALS-GESICHTER
Karneval ist zwar ein kollektives gesellschaftliches Ritual, aber es zelebriert den Impuls des Einzelnen am Vergnügen als Ausdruck seiner persönlichen Identität. In der portugiesischen Sprache wird das Kostüm durch das Wort „Fantasia“ ausgedrückt. Die projektierte Identität kann eine originelle, unbeabsichtigte Figur aus der Vorstellungswelt sein, oder eine, die Prestige und gesellschaftliche Anerkennung bringt (zum Beispiel waren „Marie-Antoinette-Kostüme“ die konstanten Favoriten unter den armen, und deshalb gesellschaftlich ausgegrenzten Leuten). Schönheit ist also nicht immer das Motiv sich zu verkleiden – aber visuelle Verführung ist es bestimmt!
Foto Nr. 4: „Orfeu melancólico“
In der griechischen Mythologie verliebte sich der Meister der Musik Orpheus in die schöne Eurydike. Als sie plötzlich starb, folgte er ihr in die Unterwelt und erlöste sie durch das zauberhafte Spiel seiner Flöte – bis sie, entgegen den Anweisungen der Götter, sich umdrehte und dadurch für immer verloren war. Orpheus repräsentiert sowohl die sensuelle Euphorie als auch das Gegenteil – den tragischen Verlust. Der Karneval suggeriert aus Tradition den menschlichen Widerstand gegen den harten Winter mittels Lachen – die Präsenz des Lebens gegen den zukünftigen Tod – Liebe und Vergnügen sollen die Armut ausschliessen. Im Jahr 1959 drehten die Franzosen einen Film in Brasilien (Schwarzer Orpheus), in den afro-brasilianischen Favelas von Rio de Janeiro.
Foto Nr. 5: „Ainda vivos“
Die Kultur Lateinamerikas wird oft als „barock“ beschrieben – fruchtbar, überschwänglich und ausdrucksstark – in Opposition zum inflexiblen europäischen Rationalismus. Während in den USA, zum Beispiel, Farbcodes Schwarz und Weiss trennen, gibt es in Brasilien viel mehr umgängliche und subjektive Klassifikationen. Obwohl eine maschistische Kultur, gibt man doch auch einem enormen Repertoire solcher Personen Gelegenheit zu kulturellem Ausdruck, die zwischen den Zeilen einzuordnen sind – besonders zum Karneval. Des abgebildeten Mannes Club (die „Suviteiras“) heisst Gays und Sympathisanten willkommen.
Foto Nr. 6: „Independentemente de“
Männer mit einer femininen Seite oder sexuellem Doppelleben sollten sich nicht von jenen strikt hetero Typen aus dem Gleichgewicht bringen lassen, die ihnen als Drag-Queens über den Weg laufen. Diese Karnevals-Praxis ist besonders unter kräftigen jungen Männern beliebt. Und obwohl sie sich in einigen Fällen auf verblüffende Art und Weise feminin zu geben verstehen, wird man bei längerer Beobachtung doch auch ihre eindeutig männlichen Akzente bemerken, so als ob sie die potentielle Verwirrung wieder ins Lot rücken wollten.
DIE NACHT DER SCHWARZEN SCHÖNHEITEN
„Ilé Ayé“ – gegründet 1974 während der Militärdiktatur – war der erste afro-brasilianische Karnevals-Block der Nachkriegszeit und beispielgebend für die folgende Afrikanisierung der bahianischen Karnevalskultur. Vor dem jährlichen Karnevalsfest hältder Club seine „Noite de Beleza Negra“ ab – die „Black-is-beautiful-night“. Die jährliche Königin wird unter 12-16 Finalisten gewählt – jede von ihnen trägt ein von ihr selbst geschaffenes Kostüm und muss vortanzen. „Ilé Ayé“ stammt aus dem Yoruba-Sprachgebrauch und bedeutet „Unser Haus in dieser Welt“.
Foto Nr. 7: „Deusa Mu-danca“
Die Art zu tanzen stammt noch aus Afrika – inzwischen allerdings afro-brasilianisch stilisiert. Fliessend, individuell und regenerierend ist kein deutlicher Anfang oder Ende zu erkennen – kann sich über Stunden hinziehen, so wie das während einer Karnevalsparade nötig ist. Die Kamera folgt der Bewegung – ein kleines bisschen langsamer. (Der berühmte afro-brasilianische Sänger und heute brasilianischer Kulturminister Gilberto Gil hat eine CD heraus gebracht, die heisst „O DEUS MUDANCA“ – sie erlaubt ein Wortspiel mit zwei Bedeutungen: der „Gott Mu tanzt“ – und der „Gott der Veränderung“).
Foto Nr. 8: „Danca e Sorriso“
Neben der Anmut der Tanzschritte wollte ich in diesem Bild eine zweite Komponente festhalten: das Lächeln der Tänzerin. Ich will mich zwar nicht unterstehen, seine tiefere Bedeutung zu interpretieren, aber das typisch afrikanische Lächeln scheint mir doch sowohl unter Afro-Amerikanern wie unter Afro-Brasilianern eine typische Geste der Freude während ihrer Darbietung zu sein – sie gehört einfach dazu, wie jede andere ihrer ausdrucksvollen Gesten.
Foto Nr. 9: „Rainhazinhas“
Die Prinzessinnen des „Ilê Ayê“ – hier sind einige der Finalisten des Wettbewerbs abgebildet, inklusive die Gewinnerin – im Vordergrund rechts. Es gibt keine Regeln für die Haarfrisur – und das Kostüm ist eine Original-Creation für diesen Anlass, mit traditionellen Elementen, wie zum Beispiel Kauri-Muscheln, welche die Zugehörigkeit zur afro-brasilianischen Religion (Candomblê) anzeigen. Neue Ideen und traditionelle Motive werden von jeder Trägerin in einem persönlichen Kollage-Konzept gemixt.
TANZ
Foto Nr. 10: „Toda menina baiana“
Ein Parade-Laufsteg auf einem öffentlichen Platz – Tag und Nacht erleuchtet – dient jüngsten Karnevals-Enthusiasten zur improvisierten Darbietung ihrer Tanzbegeisterung, wenn er nicht gerade zu einem offiziellen Aufmarsch gebraucht wird. Obwohl der Tanz hier eher als relaxed bezeichnet werden kann, können wir doch beobachten, wie die graziösen Bewegungen hier erlernt werden – in der grössten Akademie von allen, mit den unsichtbaren Wänden – der formlosen, unbewussten Schule der Kultur selbst.
Foto Nr. 11: „Suingeira“
Mehr noch aus der Lehre über die Grazie des Tanzens. Oder besser, im Fall des Mädchens zur Rechten, über die Performance der schon beherrschten Grazie. Ihr kleiner Bruder übt noch den Swing der Dinge, aber seine Hände suggerieren bereits eine gewisse Vollkommenheit.
Foto Nr. 12: „Ginga“
Drei Erwachsene schlendern im Samba-Rhythmus einer neu entstandenen Gruppe, der „Cortejo Afro“, die Strasse entlang. Die Besonderheit des Samba als Tanz ist seine subtile Raffinesse. Die Bewegungen sind fliessend und oft leicht, sie betonen den Körper und die Beine, lassen aber den Kopf – im Idealfall – relativ unbeteiligt. Als „Ginga“ bezeichnet man den Einsprung in den Rhythmus der anderen Person, die tanzt. Noch eine eher zufällige Beobachtung: die Dame linker Hand war die einzige Frau in Salvador mit einem Afro-Look (so nannte man die voluminöse Haarfrisur aus den 70er Jahren), die ich je getroffen habe.
Foto Nr. 13: „Dancarino Timbalada“
Ein Tänzer der Gruppe „Timbalada“ demonstriert, wie man Vergnügen und Präzision mixt. Choreographierte Tanz-Flügel werden von den Afro-Blöcken ausgebildet und unterhalten – ihre Tanzschritte sind von afrikanischen Originalen abgeleitet. Wegen aufwendiger Investitionen sind sie aber langsam am Aussterben.
TOURISTEN
Foto Nr. 14: „Samba Dinamarques“
Seit dem Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts ist in einer wachsenden Anzahl von Städten rund um den Globus eine Art von Mini-Karneval entstanden. Ihr angestrebtes Basismodell soll der Karneval von Rio de Janeiro sein, sie präsentieren ihre Replik allerdings ohne die aus Rio bekannte Grandiosität, in einer eher privaten Party-Atmosphäre. Diese dänische Gruppe hat schon beim Karneval in Rio, Recife und Salvador mitgemacht.
Foto Nr. 15 – „Como é“?
Der kleine Karnevals-Club „Arca do Axé“ ist das spirituelle Karma eines Candomblé-Hauses – sehr erfolgreich mischen sie Touristen mit Einheimischen. Die Touristen strengen sich an, die typischen Tanzschritte zu erlernen. Einige der Einheimischen haben einen afrikanischen Hut in ihre Aufmachung einbezogen, der von Moslems aus Westafrika getragen wird. Aber die Hauptsache ist doch das T-Shirt mit dem Namen ihrer Gruppe.
Foto Nr. 16: „Os Gringos se afinam“
Eine europäische Frau innerhalb eines Tanz-Flügels von „Olodum“, dem berühmtesten Afro-Block überhaupt. Sie hat das Erste Teilnehmer-Level erreicht, das heisst, hat Kostüm und Club-Ausweis erstanden und darf jetzt am Umzug teilnehmen – innerhalb einer riesigen, locker choreographierten Truppe. Mag sein, dass sie noch einige Schwierigkeiten mit den Tanzschritten hat, aber ihre kulturellen Flügel hat sie weit ausgebreitet. „Olodum“ begrenzt seine Mitglieder nicht nur auf Schwarze oder Brasilianer. Obwohl zentralafrikanisch, vertritt der Club die Meinung, dass „alle Sympathisanten unserer Sache legitime Mitglieder werden können “ – im Gegensatz zu, „Ilé Ayé“, der eine exklusive schwarze Mitgliederschaft aufrechterhält.
STRASSE UND POLIZEI
Foto Nr. 17: „Sonhador“
Eine anderer traditioneller Teil des Karnevals ist feiern bis zum Exzess und der Kater danach. Zusammenklappen nach dem Trinken ist ein Exzess des Appetits, und auf der Strasse schlafen bricht ein gesellschaftliches Tabu. Ausserhalb der Karnevalszeit schlafen viele arme Leute auf der Strasse. In Brsilien – im Gegensatz zur USA – ist jemand eher infolge irgend eines Unglücks obdachlos, denn aus Gründen einer geistigen Unzurechnungsfähigkeit. Unser Mann auf dem Bild mag ein Zuhause haben, wo er hin kann – oder auch nicht. Abgeschaltet, vermittelt er eine fremde Zufriedenheit, in Frieden mit seinem Traum.
Foto Nr. 18: „Sonho com a polícia“
Obwohl es Tradition hat, die Polizei wegen ihrer brutalen Einschreitungen während des Karnevals zu fürchten – sie pflegen in die Menge einzubrechen, indem sie rücksichtslos von ihren Schlagstöcken Gebrauch machen – sehen wir in diesem Bild ein ganz anderes Verhalten: Toleranz, oder zumindest Gleichgültigkeit. Beide Körper – der eine stockbetrunken zusammengeklappt und der andere in offizieller Mission – könnten niemals in den USA koexistieren. In Brasilien ist das möglich – während und auch ausserhalb des Karnevals.
Foto Nr. 19: „Todo policial baiano tem jeito que Deus lhe dá“
Die Mehrheit aller brasilianischer Polizisten ist in einem Korps der „Polícia Militar“ zusammengefasst – der Militärpolizei. Aber sie sind auch für zivile Angelegenheiten da – diese rücksichtslosen Kameraden verbreiten eine gefürchtete Botschaft, und wenn sie vorüberziehen, mässigt jedermann instinktiv seine Fahrweise oder seinen Schritt, wartet bis sie vorbei sind . . . und resümiert darüber, was sie wohl hier wollten. Während die älteren Mädchen zur Linken gefasster erscheinen, erkennt man an der Pose der Jüngeren zur Rechten, einen Anflug von kindlicher Verzagtheit, vielleicht sogar Angst.
- Copyright Fotos und Text by Piers Armstrong und BrazilMax
- Deutsche Übersetzung Klaus D. Günther für BrasilienPortal