Müll

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Sie treffen sich zufällig vor dem Müllschlucker in ihrem Stockwerk des Appartement–Hochhauses. Jeder mit seiner Abfalltüte. Es ist das erste Mal, dass sie miteinander sprechen.

Guten Morgen…
Guten Morgen.

Sie sind die Dame von 610, nicht?
Und Sie der Herr von 612, hab‘ ich recht?
So ist es.
Ich habe Sie bisher noch nie persönlich getroffen….
Ja, tatsächlich…
Entschuldigen Sie meine Indiskretion, aber ich sah ihren Müll…
Meinen was?
Ihren Müll.
Ah…
Und mir ist aufgefallen, dass es nie sehr viel ist – Ihre Familie muss klein sein…
Eigentlich besteht sie nur aus mir selbst.
Mmmmm. Habe auch bemerkt, dass Sie viel aus Büchsen essen.
Das ist richtig. Da ich mir alles selbst mache muss und nicht kochen kann…
Verstehe.
Und Sie als Dame…
Ach bitte duzen Sie mich doch einfach…
Also, verzeih mir bitte ebenfalls die Indiskretion meinerseits – aber ich habe die Essensreste in deinem Müll gesehen – Champignons, so Sachen halt…
Nun, ich koche für mein Leben gern. Verschiedene Menus. Aber da ich allein lebe, bleibt eben manchmal was übrig…
Haben Sie… hast du denn keine Familie?
Doch, hab‘ ich – aber nicht hier in Rio de Janeiro.
In Espirito Santo also.
Woher weisst du das denn?
Hab’s auf den Briefumschlägen gesehen – aus Espirito Santo.
Das ist richtig. Mama schreibt mir jede Woche.
Ist sie Lehrerin?
Das ist ja unglaublich – wie hast du das denn geraten?
Wegen der Schrift auf dem Umschlag – sieht wie die Schrift einer Lehrerin aus.
Du erhälst wohl nicht viele Briefe? Wie man aus Ihrem Müll entnehmen kann.
Tja, leider…
Vor ein paar Tagen hab‘ ich allerdings ein zerknülltes Telegramm gesehen.
Richtig.
Schlechte Nachrichten?
Mein Vater. Ist gestorben.
Oh, das tut mir aber leid.
Nun, er war schon sehr alt. Dort im Süden. Haben uns lange nicht gesehen.
Hast du deshalb wieder angefangen zu rauchen?
Woher weisst du das denn?
Von einem Tag auf den andern sind in deinem Müll Zigarettenschachteln aufgetaucht.
Tatsächlich. Aber ich hab‘ wieder aufgehört.
Ich hab‘, Gott sei Dank, nie geraucht.
Verstehe. Aber es gab da ein paar Tabletten–Fläschchen in deinem Müll…
Beruhigungsmittel. Das war eine Phase. Ist schon vorbei.
Hast mit deinem Freund gestritten – richtig?
Hast du das auch aus dem Müll entnommen?
Zuerst ein Blumenstrauss – mit Widmungskärtchen – weggeworfen. Danach ein Haufen Papiertaschentücher.
Weil ich viel geweint habe. Aber ist schon vorbei.
Heute waren aber wieder Papiertaschentücher im Müll…
Weil ich ein bisschen Schnupfen habe.
Ah.
Ich entdecke viele Hefte mit Kreuzworträtseln in deinem Müll.
Das ist richtig. Nun, ich bin viel zu Hause. Geh‘ nicht oft aus. Nun, du weisst ja wie das ist.
Freundin?
Nein, keine.
Aber vor einigen Tagen hab‘ ich das Foto einer Frau in deinem Müll gesehen. Sie schien mir recht nett.
Ich hatte meine Schubladen ausgeräumt – alte Sachen.
Du hast aber das Foto nicht zerrissen. Das heisst, tief im Innern, möchtest du, dass sie zurückkommt.
Sag einmal, du analysierst meinen Müll?
Nun, ich kann nicht abstreiten, dass dein Müll mich interessiert hat.
Das ist doch… als ich meinerseits deinen Müll untersuchte, hatte ich das Gefühl, dich gern kennen lernen zu wollen. Ich glaube das waren deine Gedichte.
Nein! Du hast meine Gedichte gesehen?
Hab‘ ich – und sie haben mir sehr gefallen.
Aber sie taugen überhaupt nichts!
Wenn du sie wirklich schlecht gefunden hättest, hättest du sie zerrissen – sie waren aber nur gefaltet.
Wenn ich gewusst hätte, dass du sie lesen….
Hab‘ sie nur nicht mitgenommen, weil das schliesslich Diebstahl wäre. Obwohl, das weiss ich nicht genau: ist der Müll einer anderen Person eigentlich noch deren Eigentum?
Glaub‘ ich nicht. Müll ist Allgemeingut.
Du hast Recht. Durch den Müll verwandelt sich privates in öffentliches. Was von unserem Privatleben übrig bleibt, verbindet sich mit dem Abfall der andern. Der Müll ist Allgemeingut. Und dies ist unser Beitrag zur Gesellschaft. Hab‘ ich Recht ?
Nun, jetzt tauchst du ein bisschen zu tief ein in den Müll. ich finde…
Gestern, in deinem Müll…
Was?
Nun, vielleicht habe ich mich getäuscht, aber waren das nicht Schalen von Crevetten?
Doch – Du hast richtig beobachtet. Habe ein paar grosse Crevetten gekauft und die Schalen entfernt.
Nun, ich liebe Krebse, Crevetten und Langusten – eigentlich alle Schalentiere.
Hast du sie aus den Schalen gepult aber noch nicht gegessen. Vielleicht sollten wir…sie gemeinsam essen?
Ja.
Ich möchte dir keine Arbeit machen.
Ist keine Arbeit.
Du wirst deine Küche verschmutzen.
Überhaupt nicht. Die räume ich in wenigen Augenblicken wieder auf und werfe die Reste weg.
In deinen Müll oder in meinen?

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AutorIn: Klaus D. Günther

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