Dies ist die älteste und bekannteste Geschichte, die man sich unter den Gaúchos am Lagerfeuer erzählt. Sie stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich die weissen Gutsbesitzer und Rinderzüchter von Rio Grande do Sul ebenfalls schwarzer Sklaven bedienten – besonders für die Arbeit im Haushalt und die der Landwirtschaft – während sie im allgemeinen für die Arbeit mit den Rindern Indianermischlinge vorzogen, denn die verstanden es besser mit den Pferden umzugehen.
„Weg da, Rotznase“! – die alte Claudina wirft zwei grosse Fleischstücke in den eisernen Kochtopf auf dem Herd und gibt dem Jungen, der sich am Feuer etwas wärmen will, einen Stoss in die Rippen, dass er gegen die dicke schwarze Afonsina taumelt und dieser das Messer aus der Hand fällt, mit dem sie gerade beim Kartoffelschälen ist. Um grösserem Unheil aus dem Weg zu gehen, zieht sich der kleine Vicentinho gebückt zu dem Fenster im hinteren Teil der Küche zurück – und da bleibt er und gibt keinen Mucks mehr von sich. Jedes Mal zu dieser Stunde, so kurz vor dem Abendessen, ist die Küche der Estância für ihn die reinste Hölle, denn dann hacken alle Bediensteten gemeinsam auf ihm herum, während er tagsüber, draussen, sich nur vor dem einen oder anderen zu fürchten hat, falls es ihm nicht gelingt, ihnen auszuweichen.
Die alte Claudina, die am Herd hantierte, war eine furchtbare Gefahr: ihre Hände teilten genauso oft harte Schläge aus, wie ihr breiter Mund lästerliche Flüche. Die Sklavin Afonsina drückte ihm wegen jeder Kleinigkeit die Kehle zu, und die ganze Bande von Crioulinhas und Crioulas behandelten ihn schlecht und hänselten ihn, wann immer er ihnen begegnete.
Er drückt sein Gesicht gegen die Fensterscheibe, sieht wie das letzte Licht des Tages vergeht. Ein hässlicher Winter ist das diesmal. Regengüsse über Tage und Wochen haben die Campos in einen Sumpf verwandelt – Himmel und Erde vereint in einer grauen, nebligen Masse. Heute erscheinen schmale, rot leuchtende Bänder am Horizont, bevor der Tag stirbt – es scheint aufzuklaren, sogar ein paar Sterne blinken wieder in der schwarzen Nacht. Morgen wird er in einem grellen Licht aufwachen – von den gefrorenen Wasserlachen zwischen dem Gras reflektiert – der Frost wird über Nacht einbrechen und Raureif, ein paar Stunden lang, das ganze Land bedecken.
Alles dort draussen scheint starr vor Kälte – ab und zu, wenn das Heulen des Minuano (polarer Wind) etwas abebbt, trägt er das traurige Blöken der Rinder von der Koppel herüber. Von den dunklen Schatten der windgepeitschten Bäume, fühlt der Junge eine unendliche Traurigkeit in sich aufsteigen. Was für eine Kälte würde das werden?
Seine dünnen Beine, sein magerer Hals, bedecken sich schon im Voraus mit einer Gänsehaut. Denn wer arm ist, spürt die Kälte doppelt! Und dieser Junge war so arm wie ein Anú (Kuckucks-Vogel), der nicht mal ein eigenes Nest hat! Er hatte nichts, was ihm gehörte, war braun und hässlich, und ohne eine einzige Kreatur, die ihn mochte, schien es ihm, als ob er auf seinen schwachen, kleinen Schultern das ganze Gewicht der Schlechtigkeit dieser Welt zu tragen hätte.
Er war Waise seit der Revolution. Gleich am Anfang war sein Vater eingezogen worden – zweimal machte die Nachricht von seinem Tod die Runde – zweimal wurde sie widerrufen. Auf ihrem Rancho (kleiner Privatbesitz) häuften sich die Schwierigkeiten. Die Mutter arbeitete schwer den ganzen Tag. Die Arme, was konnte sie schon ausrichten! Die Traurigkeit und die Misere wuchsen von Tag zu Tag. Am Ende hatten sie nur noch Mate und süssen grünen Mais zum leben – und dann gab es plötzlich keinen Mais und auch keinen Zucker mehr.
Die Revolution ging zu Ende, aber der Vater war nicht nach Hause gekommen. Auch keine Nachricht mehr von seinem Tod – niemand wusste etwas von ihm. Er hatte sich irgendwo verloren – war verloren gegangen, wie so viele andere – wie die trockenen Zweige, die das Wasser der Überschwemmung losreisst und über die Grasflächen verstreut zurücklässt. Plötzlich starb die Mutter – an einem wunderschönen Nachmittag, an dem der Sabiá (Drossel) vor Freude über die warmen Sonnenstrahlen, im Ipê-Baum vor der Hütte sang. Sie holten sie ab auf einem Handwagen, der von zwei Peões, Freunden des Vaters, gezogen wurde – bis zum alten Friedhof der Estância, um sie dort zu begraben.
Ihn, den kleinen Vicentinho, schleppten sie ins Haupthaus, für dessen Herrschaft sein Vater als Rinderhirte tätig gewesen, und hier begann sein Martyrium. Alle behandelten ihn schlecht. Die zwei Söhne des Besitzers gaben ihm ihre zerbrochenen Spielsachen, und der Rest der Familie schubste ihn herum wie einen unerwünschten Hund. Das war die Folter, mit der er dafür bezahlen musste, dass sie ihn aufgenommen hatten. Die Küche war buchstäblich die Hölle für ihn, wo unzählige Gefahren ihn bedrohten – der Ärger der schwarzen Weiber, heisse Wassertropfen, die durch die Luft flogen, glühende Kohlen, die über den Boden rollten, und die aufgeschichteten Feuerholzstücke, mit denen diese Teufel ganz unerwartet nach ihm warfen. Also flüchtete er sich vorzugsweise in eine Ecke, wie jetzt, um an seinem Fenster den furiosen Weibern aus dem Weg zu sein und dort auf sein Essen zu warten.
In dieser Nacht hatte der Schatten des verlassenen Kindes in ihm zugenommen. Auch die Schauer, die ihn überliefen und plötzlich schüttelten, kamen nicht von der Kälte – es waren Fieberschauer. Schon seit Tagen hatte er sich schlecht gefühlt, und da er es niemand sagen konnte, war es schlimmer geworden. In seinem ausgemergelten kleinen Gesicht hatten sich zwei rote Ringe festgesetzt, ab und zu klapperte er mit den Zähnen, wenn ihn die Schauer überfielen.
Das Essen rührt er kaum an. Ohne, dass es jemand bemerkt, zieht er sich in das dunkle Zimmerchen neben der Küche zurück, wo er zu schlafen pflegt. Dort legt er sich auf das Bettgestell und rafft den zerschlissenen Poncho über seine magere Gestalt – dann verliert er das Bewusstsein. Die Schauer schütteln ihn wieder, und er kommt zu sich – um endlich wieder zurückzufallen, in einen unruhigen Schlaf.
Er sieht sich unter dem Stamm des grossen Mango-Baums. Um ihn herum eine Menge Peões, die schreien etwas von Krieg und rennen aufgeregt herum. Vom Tal herauf kommt eine Schar Reiter, mit wehenden Bändern an den Hüten, sie schwingen Säbel und Lanzen. Dann überfallen sie die Estância. Aber die alte Claudina kommt aus der Scheune mit einem Bündel Holz und vertreibt die Angreifer.
Und ein bisschen später sitzen sie alle friedlich in der Küche und essen Mogango com Leite (Kürbis mit Milch), bedient von der alten Claudina. Der Junge bindet den Azulego (Pferderasse) vom Patron los und springt auf, um seinen Vater zu suchen.
Aber ein grosser Ast war vom Mango-Baum gefallen, und die Äste scheinen von allen Seiten nach dem Pferd zu greifen, sodass es bockt und ihn fast abgeworfen hätte. Er überspringt das Geflecht der Zweige, aber andere ragen vor ihm auf – noch höher und bedrohlicher. Dann galoppiert er plötzlich an einem Waldrand entlang, und hört hinter sich die Reiter – er weiss, dass sie zu seiner Verfolgung aufgebrochen sind – sie schiessen auf ihn. Und dann erreicht ihn einer der Bande und hebt seinen Säbel…
Er erwacht schweissgebadet. Braucht einen Moment, um sich in der Dunkelheit des Raumes zu orientieren. Dann fährt er mit der Hand unter sein Kissen, holt ein kleines Päckchen hervor und macht es auf.
Ein Stück Rollentabak, ein Kerzenstummel und eine Schachtel mit Streichhölzern – alles noch so, wie er es eingewickelt hat. Seine grosse Hoffnung, seine Rettung. Um diese paar Dinge zusammenzukriegen hatte er viel riskiert – hatte sich viele Tage gedulden müssen. Das Stückchen Tabak war leicht gewesen – er hatte es in der Scheune gefunden, war wahrscheinlich einem Peão aus der Tasche gefallen. Der Kerzenrest und die Schachtel – mit nur zwei Hölzchen – hatte er, nach verschiedenen, äusserst gefährlichen Versuchen, aus der Küche entwendet. Endlich würde er seinen Traum verwirklichen und den Negrinho do Pastoreio um Hilfe bitten können. Jeder kannte die Geschichte vom schwarzen Hirtenjungen – sie wurde überall an den Camp-Feuern der Peões erzählt – für Vicentinho war sie die schönste Erinnerung, die er von seinem Vater hatte – als er ihn an einem Sonntag zu sich aufs Pferd gehoben, und sie zusammen an dem kleinen Flüsschen entlanggeritten waren, das den Besitz des Patrons durchquert. Der Vater hatte die Geschichte angefangen mit den Worten:
„Mein Sohn, wenn Du mal etwas verlieren solltest, was immer es sein mag – ein Messer, das aus dem Gürtel gefallen ist, einen Hut, den der Wind Dir vom Kopf gerissen, ein Pferd, das entlaufen oder ein Kalb, das sich verirrt hat – alles bringt der „Negrinho“ seinem Besitzer zurück, wenn dieser ihn darum bittet, so wie sich’s gehört: mit einer Kerze und einem Naco de Fumo (Stückchen Tabak). Die Kerze ist für die Jungfrau Maria, seine Beschützerin, und der Tabak ist für ihn selbst, denn er raucht gern.
Und dann erzählte er seinem Sohn die traurige Geschichte vom schwarzen Hirtenjungen, der einst einen Trupp Tordilhos (Pferderasse) seines Herrn in der Weite der Pampa verlor – sie warfen ihn gefesselt in einen Ameisenhaufen und nur unsere Nossa Senhora hatte Mitleid mit ihm und erlöste ihn von seinen Qualen. Was ihn das Leben kostete, das gelingt ihm jetzt nach seinem Tod: er findet alle Dinge, die jemand in der Pampa oder auf den Campos verliert, man muss ihn nur darum bitten!
Vicentinho kannte jede Einzelheit der Geschichte, und er hatte er die Sachen zusammen, mit denen er den Negrinho bitten wollte, seinen Vater zu finden, der in der Revolution verloren gegangen war. Noch in dieser kalten Nacht wollte er die Kerze unter dem Mango-Baum anzünden.
Aber er hat kaum die Kraft, sich vom Bettgestell zu wälzen und auf die Füsse zu stellen. Sein Kopf dröhnt, sein Mund ist trocken, mit einem bitteren Geschmack. Es dauert, bis er auf seinen dürren Beinchen steht – wieder diese Fieberschauer. Er tastet sich durch die Dunkelheit des Zimmers, durch die Küche, wo im Herd ein letzter Rest Glut ihm den Weg zur Tür weist – er muss zweimal ansetzen, um den schweren Riegel von der Küchentür aufzukriegen – dann schlägt ihm die eiskalte Nachtluft entgegen.
Die schneidende Kälte vertreibt sein Delirium. Er setzt vorsichtig Schritt vor Schritt. Ein dichter Nebel hat sich überall ausgebreitet – er kann nur wenige Meter weit sehen. Aber er kennt die Stelle genau und läuft auf sie zu, langsam und stetig. Hinter dem Haus erreicht er den riesigen Baum, dessen Krone während der heissen Sommertage wohltuenden Schatten spendet und dann alle Bewohner der Estância zur Siesta unter sich vereint. Vicentinho kniet sich in den Windschatten des dicken Stammes, und mit aller Vorsicht, die er in seinem schwachen Zustand eben aufbieten kann, entzündet er das erste Streichholz – der schon angebrannte Docht des Kerzenstummels nimmt das Flämmchen sofort an, aber ein Luftzug reisst sie bedrohlich zur Seite – ein paar Reisigbüsche, die er als Windschutz aufstellt, lösen das Problem. Dann legt er das dunkle Stück Tabak, auf einem Mango-Blatt, neben die leuchtende Kerze und spricht, mit kaum hörbarer Stimme, die notwendigen Worte:
„Negrinho do Pastoreio – finde meinen Papa, der in der Revolution verloren gegangen ist. Ich gebe diese Kerze für deine Madrinha, Nossa Senhora, und diesen Tabak für dich selbst.“ Dann bleibt er eine Weile vor der Kerze sitzen und starrt in die kleine Flamme. Er weiss nicht genau, was er jetzt tun soll. Sein kleiner Körper wird von einer Starre befallen. Die Kerzenflamme fängt an, im niedersinkenden Nebel zu flackern. Ein neuer Schauer schüttelt ihn – jetzt wird ihm plötzlich heiss. Und wenn er jetzt zum Friedhof ginge, um das kleine Holzkreuz der Mutter zu sehen? Aber diesmal findet er den Weg zum Friedhof nicht – zu dicht ist der Nebel in dieser hässlichen Nacht. Die Kälte nimmt wieder zu, seine Hände sind wie erstarrt, seine Haare klatschnass vom Nebel.
Er kehrt um. Dann sieht er wieder den Lichtschein der Kerze – Schritt um Schritt tastet er sich auf dem schlüpfrigen Gelände zurück – sein von Kälteschauern geschüttelter Körper ist für seine Beine zu schwer, er spürt, dass er die wenigen Meter zurück nicht schaffen wird. Das Licht vor Augen, muss er sich aufs nasse Gras setzen – nur für einen Moment ausruhen, er ist plötzlich so furchtbar schläfrig.
Und sicher wäre er eingeschlafen, wenn nicht ganz plötzlich etwas aussergewöhnliches geschehen wäre: die kleine Kerzenflamme fängt an zu wachsen – verbreitert sich – steigt in die Höhe – ein grelles, weisses Licht durchdringt den dicken Nebel, seine Strahlen reichen bis dorthin, wo Vicentinho im nassen Gras kauert. Der Nebel weicht jetzt – er kann die Silhouetten der Estância erkennen – soviel Licht! Und es reicht bis hinauf zum Himmel! Er sieht jetzt ganz deutlich, dass sich von dort oben eine lange Strasse entrollt – wie ein weisses Tuch – gesäumt von grünen Bäumen, und zwischen ihnen fliegen Vögel herum.
Jetzt galoppieren drei Reiter die helle Strasse herab. Der vorne dran, auf einem Tordilho, ist ein Negrinho, rabenschwarz, mit grossen, strahlenden Augen und weissen, leuchtenden Zähnen. Und der schreit: „Vicentinho! Vicentinho! Olhe aqui“! (Schau her!) Und zeigt ihm die zwei anderen Reiter – seinen Vater und seine Mutter.
Der Vater beugt sich herunter, hebt ihn hoch, umarmt ihn und setzt ihn dann in den Schoss seiner Mutter. Der Negrinho do Pastoreio scheint in Eile zu sein, er gibt seinem Tordilho die Sporen und schreit fröhlich: „Vamos – los, wir müssen weiter“!
Und vereint galoppieren sie in diesem herrlichen Licht die baumbegrenzte Strasse entlang – von der ihm seine Mutter ins Ohr flüstert, dass sie „direkt in den Himmel führt“.