Dass wir an diesem Jahresende (2015) länger in Brasilien unterwegs sind, haben unsere Leser aus unseren letzten Berichten wie “Was macht eigentlich der Elvis Presley von São Paulo“ oder “Die Avenida Paulista als Flaniermeile für Fussgänger und Sportler – ganz ohne Autos!“ und “Brasilien zwischen zwei Mega-Events: Nach der Fussball-WM 2014 und vor der Olympiade 2016“ bereits erfahren.
Bisher haben wir eigentlich immer positive Erfahrungen gemacht, wenn man sich auf einer Reise durch ein anderes Land, oder einen anderen Kontinent, den dort üblichen Sitten und Gebräuchen, nach Möglichkeit anpasst – dazu ist es hilfreich, sich vor der Abreise durch entsprechende Literatur oder Internetportale (zum Besipiel das BrasilienPortal) auf die Kultur und die Traditionen des jeweiligen Landes ein wenig einzustimmen. In manchen Fällen ist allerdings die beste Vorbereitung für die Katz, wenn nämlich gewisse Sitten und Gebräuche auf empfindliche europäische Nerven treffen, deren Protestreaktion auch durch die beste Vorbereitung nicht vermieden werden kann – nehmen wir zum Beispiel mal die “Geräuschkulisse einer brasilianischen Grossstadt“:
Bereiten Sie sich bei einem Brasilienbesuch darauf vor, dass besonders die grossen Städte um mehrere Dezibel lauter sind als zum Beispiel in Deutschland oder in der Schweiz – das heisst: sehr viel lauter! An den für europäische Touristen nervtötenden Strassenlärm sind die Brasilianer gewöhnt, auch das immer wieder aufbrandende Hupkonzert, mit dem einige Blödel anscheinend die Autoschlangen auflösen wollen oder die erste Reihe beim Wechsel der Ampeln auf Grün in Bewegung zu setzen gedenken – hier wird endlich die Autohupe ihrer eigentlichen Bestimmung gerecht, nicht wie bei uns, wo sie in der Regel zum Schweigen verurteilt ist.
Und wenn Sie länger zu bleiben gedenken, werden Sie weder eine ruhige Strasse noch eine ruhige Wohnung in der Grossstadt finden – Krach ist einfach überall: Natürlich mieten Sie keine Wohnung an einer Hauptverkehrsstrasse, aber wenn Sie Pech haben, ist Ihr Nachbar schwerhörig und seine voll aufgedrehten Musikboxen lassen Ihre Wände erzittern (Zimmerlautstärke ist in Brasilien unbekannt) – ganz besonders sollten Sie darauf achten, dass Ihre Wohnung nicht im Umfeld einer Kirche liegt, sonst kann es Ihnen passieren, dass die Mitternachtsmesse regelmässig per Lautsprecher auf die gesamte Nachbarschaft übertragen wird. Die Polizei? Nun, die reagiert auf solche Beschwerden in Brasilien überhaupt nicht.
Allerdings werden Sie wider Erwarten erleben, wie sich Brasiliens Bürger ordentlich und geduldig in einer Reihe auf Ämtern, in Banken und in der Post anstellen und auch den Respektabstand vor dem Schalter brav einhalten – wundern werden Sie sich aber über die Lautstärke, in der sie sich miteinander unterhalten: ohne Anstrengung erfahren Sie hier – falls Sie Portugiesisch können – sämtlichen Klatsch der einen wie auch der anderen Seite, und wenn in der Warteschlange irgendein Handy schrillt, werden sogar alle Wartenden in die zu besprechende Angelegenheit miteinbezogen, denn anstatt wie bei uns besagtes Gerät ans Ohr zu halten – eventuell sich sogar ein paar Schritte zu entfernen – schalten die Brasilianer den Lautsprecher ein, sodass man die Diskussion beider Seiten mithören kann (oder muss).
Und wenn sich eine solche Szene dann auch noch im Restaurant abspielt, kann einem Gast, je nach Thema der Handy-Diskussion, schon mal der Appetit vergehen. Auf ein Ende dieser Reizüberflutung ist wohl nicht mehr zu hoffen, denn die Unterhaltungsindustrie hat ihre Chance erkannt, Unsummen mit einem Grundbedürfnis des modernen Menschen zu verdienen: immer bequemer, kürzer und inhaltsloser kommunizieren zu wollen – jedoch scheinen die Meisten das Schwinden der Substanz ihres eigenen Intellekts nicht zu bemerken, den sie dieser Bequemlichkeit opfern.
Aufgefallen ist uns auch der Umgang der Brasilianer mit ihren Kindern – ein heikles Thema ohne Frage. Brasilianer lieben ihre Kinder, ich würde sogar behaupten, sie vergöttern sie – so sehr, dass sie ihnen kaum oder gar keine Grenzen setzen – brasilianische Kinder geniessen in der Regel die totale Narrenfreiheit, und sie kosten sie aus. Wenn man als Gast z.B in einem Restaurant sein Befremden über tobende Kinder ausdrückt, bekommt man wahrscheinlich eine stereotype Antwort wie: “Lieber Gott, es sind doch nur Kinder“! Was weder eine entsprechende Beruhigung der Kinder seitens der Eltern nach sich zieht, noch dem Gast endlich die Möglichkeit verschafft, sein Gespräch ungestört fortzusetzen – also wird er wohl danach trachten, seinen Besuch abzukürzen und sich bald zu verabschieden.
Dass Erziehung nicht gleichbedeutend ist mit Liebesentzug, wird in unzähligen Fachbüchern erklärt – auch in brasilianischen. Aber der Durchschnittsbrasilianer liest kaum – dagegen ist er fernsehsüchtig, jedoch sind im brasilianischen Fernsehen weiterbildende Programme, gleich welcher Art, äusserst selten. In punkto Erziehung gewinnt man hier eher den Eindruck, dass die Kinder ihre Eltern erziehen, und das kann man überall dort beobachten, wo Kinder in Begleitung ihrer Eltern in der Öffentlichkeit auftreten – zum Beispiel in einem schicken Restaurant in Rio und einer ebensolchen “Churrascaria“ in São Paulo haben wir folgendes erlebt:
Schon auf den ersten Blick machen diese Etablissements einen gediegenen, ganz auf das Wohl der Gäste abgestimmten Eindruck, die Tische in dem riesigen Salon sind mit schneeweissen Leinentüchern drapiert – mit einer devoten Handbewegung werden wir vom “Maître“ zu unserem Tisch geführt. Es ist eigentlich für uns schon etwas spät am Abend, jedoch die Brasilianer pflegen ein Abendessen im Restaurant nie vor der “Acht-Uhr-Novela“ einzuplanen – auch an diesem Abend ist es proppenvoll.
Dass der Geräuschpegel in den hiesigen Restaurants höher ist als in Europa, habe ich bereits erwähnt, aber dass plötzlich schrille Schreie und Gekicher unser Gespräch beim Odeuvre unterbrechen, darauf sind wir nicht gefasst – die “Generation ohne Grenzen“ hat sich, sozusagen eine Etage tiefer unter den überhängenden Tischdecken, zu einem Versteckspiel zusammengefunden. Durch den ganzen Salon geht die wilde Jagd, mit gellenden Entzückungsschreien unter dem Schutz der Tischtücher, zwischendurch werden auch die leeren Stühle des Salons in das hektische Hüpfen unter ohrenbetäubendem Geheul mit einbezogen… wo die jeweiligen Eltern sind, können wir nicht erkennen, irgendwo in der Menge der Gäste lassen sie sich ungerührt ihr Essen schmecken.
Sie sind an den Kinderlärm von zuhause gewöhnt, haben jedoch keinerlei Gefühl dafür, dass er vielleicht andere Gäste stören könnte. Allerdings scheint der Tischnachbar unser Missbehagen bemerkt zu haben – er ruft den Kellner und beschwert sich über die herumtobenden Kinder – was dieser mit einem entschuldigenden Achselzucken quittiert und erklärt, dass er seine Stellung verlieren könnte, wenn er etwas gegen die Kinder unternähme. Und das ist nicht übertrieben. Ein Kellner, der in besagter Churrascaria in São Paulo, in ähnlicher Situation einen Versuch machte, die Eltern der tobenden Kinder zu bitten, Rücksicht auf die übrigen Gäste zu nehmen, wurde von der Mutter dieser Rangen dermassen empört und lautstark abgekanzelt, dass er uns leid tat.
Das sind aber keine Einzelfälle, sondern die Regel in Restaurants, Supermärkten, beim Friseur und selbst im Krankenhaus – die Narrenfreiheit der Kinder – wehe dem, der sie einschränken möchte. Zugegeben, wir haben auch Fälle erlebt, bei denen die Kinder ordentlich mit ihren Eltern am Tisch sassen, miteinander sprachen, lachten und aufmerksam zuhörten, was ihre Eltern sagten – das sind jedoch eher die Ausnahmen, und niemand konnte uns eine plausible Erklärung dafür geben, warum das so ist!
Keine Erklärung bekamen wir auch auf unsere Frage, warum das Weihnachtsfest – bei uns ein Fest der Stille und der Besinnung – in Brasilien, zwischen dem 24. Dezember und den folgenden Tagen, praktisch rund um die Uhr, mit Böller-Geknalle begangen werden muss, dass die meisten Menschen irritiert und die Tiere in Panik versetzt? Dass man nach einem Sieg im Fussball, nach der Geburt eines Sprösslings, an Sylvester oder Karneval ein Feuerwerk abbrennt, erscheint uns noch verständlich – aber an Weihnachten!? Wie gesagt, wir bekamen keine Erklärung. Niemand will über sowas reden, höchstens die kurze Antwort “so ist das halt bei uns in Brasilien“.
Wir sagten es schon: “Andere Länder, andere Sitten“, und die muss man eben akzeptieren – wenn man dort hinreist!