Warum singt der Sabiá-laranjeira im Morgengrauen?

Zuletzt bearbeitet: 11. August 2021

Es gibt mehr als 300 verschiedene Arten von Drosseln, die über die ganze Welt verteilt sind – in Brasilien nennt man sie „Sabiá“. Nur wenige wissen es, aber kurioserweise sind alle Arten, die heute in Südamerika leben, eigentlich Nachfahren eines gemeinsamen Vorfahren, der vor etwa 20 Millionen Jahren aus Nordamerika hier einwanderte.

Rotbauchdrossel – Sabiá-laranjeira – Foto: sabiá brasilinfo

Die Rotbauchdrossel – wie er in deutsch heisst – (Turdus rufiventris) ist die häufigste und bekannteste der brasilianischen Vogelarten, sie ist leicht an der orangen oder rostfarbenen Färbung ihres Bauches oder an ihrem melodiösen Gesang zu erkennen. Eine der beliebtesten Vögel im Land, so beliebt, dass sie 1968 per Gesetz (Dekret Nr. 63.234) zum nationalen Symbol für den „Tag des Vogels“ erklärt wurde, der jährlich am 5. Oktober gefeiert wird.

Sein schöner Gesang hat berühmte Dichter wie Guimarães Rosa, Carlos Drummond de Andrade, Jorge Amado, Tom Jobim, Luiz Gonzaga und Chico Buarque inspiriert. Aber unter all den Huldigungen ragt eine im Volksgedächtnis heraus, das Gedicht „Canção do Exílio“ (Lied aus dem Exil), in dem der Dichter Gonçalves Dias den Vogel in seinen berühmten Versen verewigte: „Mein Land hat Palmen, wo die Drossel singt“.

Trotz aller Beliebtheit war die Drossel 2013 Ziel einer der größten Kontroversen in der Welt der Vögel. Unerwartet tauschten Populationen der Art, die in einigen Gebieten der Stadt São Paulo leben, den Tag mit der Nacht und begannen die ganze Nacht hindurch zu singen. Von einem Moment auf den anderen wurde ihr großartiges Lied, einst in Gedichten vergöttert, zum Mittelpunkt tausender Beschwerden von Paulistanos (Bürgern dieser Stadt), die sich über den spätabendlichen Gesang ärgerten.

Aber welcher Grund könnte ganze Populationen dieses Vogels dazu gebracht haben, ihre Aktivitätspläne drastisch zu ändern? Zunächst ist es notwendig zu verstehen, warum Vögel singen. Für Vögel ist das Singen eine Frage des Überlebens, wie bei anderen Singvogelarten singen männliche Drosseln hauptsächlich, um Weibchen anzulocken oder andere Männchen zu erschrecken, mit anderen Worten könnte man sagen, dass das Singen für Vögel so wichtig ist, wie Smartphones heute für die Menschen sind.

Mehrere wissenschaftliche Studien, die mit verschiedenen Arten durchgeführt wurden, haben gezeigt, dass in der Vogelwelt die Individuen, die lauter, schneller und mit einem größeren Repertoire an Tönen singen, diejenigen sind, die größere Chancen haben, sowohl Territorien mit reichlich Nahrung zu verteidigen, als auch die besten Weibchen zu erobern und Fortpflanzungserfolg zu erzielen.

Lauschen Sie im folgenden Video dem Gesang einer Drossel. Als nächstes kehren wir zu dem Rätsel um den Gesang dieses Vogels in den frühen Morgenstunden in São Paulo zurück.

Warum hat die Rotbauchdrossel sich entschlossen, im Morgengrauen zu singen?

Nach Albert Einstein ist „das Schönste, was wir erleben können, ein Geheimnis. Das ist die Quelle aller Kunst und Wissenschaft“. Der Initiator des Projekts ”Die Stunde der Drossel” hat seit dem Beginn seiner Karriere als Forscher und schon in seiner Kindheit, seine Leidenschaft für die Enthüllung von Geheimnissen angetrieben, die das Leben so vieler Wissenschaftler bewegt.

Er verfolgte aufmerksam alle Vorgänge rund um die Schlaflosigkeit der Drossel, und eine Frage ging ihm nicht aus dem Kopf: „Was könnte das Geheimnis hinter dem seltsamen Verhalten dieses Vogels sein?

Um dieses seltsame Phänomen zu untersuchen, das sich in der Stadt São Paulo darbot, schuf er das Projekt “Die Stunde der Drossel”. Der Name sagt es bereits: Es ist das Ziel, die Zeiten zu identifizieren, in denen die Drossel im ganzen Land singt.

Aber im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Studien wurde dies als kollaboratives Projekt konzipiert, d.h. obwohl er der wissenschaftliche Koordinator ist, werden die Daten von Freiwilligen aufgezeichnet.

Das 2013 gestartete Projekt hat bereits die Beteiligung von Tausenden von Menschen im ganzen Land und ist nichts weniger als das größte kollaborative Überwachungsprojekt in Südamerika und das erste echte brasilianische Citizen-Science-Projekt geworden.

Unter dem Begriff “Citizen Science” versteht man wissenschaftliche Projekte, bei denen Wissenschaftler oder Institutionen auf die Mitarbeit der Bevölkerung angewiesen sind, um Daten in der Natur zu erfassen und zu sammeln.

Die Menschen, die an solchen Projekten teilnehmen, werden “Bürgerwissenschaftler” genannt, normale Menschen, die unter der Aufsicht von Forschern auf einem bestimmten Gebiet wissenschaftliche Forschung betreiben.

Rotbauchdrossel – Sabiá-laranjeira – Foto: sabiá brasilinfo

Allein durch die Unterstützung von freiwilligen Bürgerwissenschaftlern aus mehreren Städten des Bundesstaates São Paulo, die über das Internet zwei einfache Fragen beantworteten – “zu welcher Zeit beginnen die Sabiás zu singen? Und wann hören sie auf”? – war es möglich, das Geheimnis hinter der drastischen Veränderung im Verhalten der Vögel in der Hauptstadt São Paulo zu entschlüsseln.

Überraschenderweise zeigten die Antworten von mehr als 1900 Freiwilligen aus São Paulo, dass die Vögel aus der Hauptstadt im Durchschnitt 5 Stunden früher zu singen beginnen als ihre Verwandten vom Lande. Außerdem singen die Drosseln aus dem Landesinneren – zur letzten Zeit des Tages – im Durchschnitt 4 Stunden früher als die aus der Hauptstadt.

Endlich war ein Teil des Rätsels gelöst, die Antwort war klar: Wenn die überwiegende Mehrheit der Vögel, die kleine Städte bewohnen, nicht in der Morgendämmerung singen, ist es klar, dass dies kein allgemeines Merkmal der Art ist, sondern ein exklusives Verhalten von Vögeln, die große Städte, wie São Paulo, bewohnen.

Doch eine grundlegende Frage zum Verständnis des Phänomens blieb unbeantwortet: Was hat São Paulo, die größte Metropole Lateinamerikas, was die Städte im Landesinneren nicht haben? Was könnte die Biologie und das Verhalten der Rotbauchdrossel-Populationen in São Paulo so beeinflussen, dass diese Vögel um 3 Uhr morgens zu singen anfangen und sogar die Lautstärke und Frequenz ihres Gesangs erhöhen?

Die Antwort ist einfach: Es ist der Verkehr, oder besser gesagt, der Lärm, den die Autos machen! Auf der Grundlage von Daten der “CET – Companhia de Engenharia de Tráfego” (Verkehrsingenieursgesellschaft) und von Daten, die in Versuchsstationen zur Aufzeichnung des Lärms in der Stadt gesammelt wurden, war es möglich Regionen, und sogar Straßenzüge der Stadt mit hohem Fahrzeugaufkommen und folglich höherer Lärmbelastung, mit Regionen geringeren Verkehrs zu vergleichen und diese Daten mit der Veränderung der Gesangszeiten der Vögel zu korrelieren.

Rotbauchdrossel – Sabiá-laranjeira – Foto: Klaus D. Günther

Die Ergebnisse waren schlüssig und zeigten, dass die Drosseln, welche in stark von der Lärmbelastung betroffenen Stadtteilen leben, sich wegen des übermäßigen Lärmes tagsüber umstellten und ihre Gesangszeiten in die Mitte der Nacht verlegten. Denn nur in der Stille der Morgendämmerung São Paulos finden Drosseln die idealen Bedingungen, um zu kommunizieren, zuzuhören und von anderen ihresgleichen gehört zu werden.

Jetzt wissen die Paulistanos: Wenn der Gesang ihrer gefiederten Nachbarn sie nachts wachhält, steht der Übeltäter in der Garage oder vor dem Haus. Wie wäre es also, wenn man mindestens einmal in der Woche das Auto oder Motorrad zu Hause stehen lassen und sich für ein alternatives Verkehrsmittel entscheiden würde? Die Drosseln in der Großstadt werden es allen danken!

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