Aus gegebenem Anlass möchten wir unseren Lesern ein aquatisch lebendes Säugetier – den Amazonasdelfin – vorstellen, das den wenigsten Europäern bekannt sein wird, denn sein Lebensraum ist, wie bereits sein Name andeutet, auf das Becken des Amazonasstroms und das des Rio Orinoco, sowie ihrer Nebenflüsse, beschränkt.
Es handelt sich um einen Delfin des Süsswassers, mit dem wissenschaftlichen Namen Inia geoffrensis, den die Brasilianer “Boto-cor-de-rosa“ (Rosafarbener Schweinsfisch) oder kurz “Boto“, nennen. Wie so oft ist diese volkstümliche Bezeichnung irreführend, denn es handelt sich bei diesem Tier nicht um einen Fisch, sondern wie bei seinen Verwandten, dem Gemeinen Delfin (Delphinus delphis) oder dem Grossen Tümmler (Thursiops truncatus), um ein Säugetier, und diese Arten sind wiederum verwandt mit den grössten Säugetieren unseres Planeten, den Walen.
Der “gegebene Anlass“ ist, wie so oft in Berichten aus dem Regenwald Amazoniens, eine unkontrollierte, skrupellose Ausbeutung der Natur durch Menschen, die sich ohne die geringsten Gewissenskonflikte auf alles stürzen, was man irgendwie zu Geld machen kann, ganz egal ob der Natur dadurch ein unersetzlicher Schaden entsteht. Die immer noch fortschreitende Regenwaldzerstörung ist das weltweit bekannteste Verbrechen an der Natur, und darüber haben wir unsere Leser inzwischen ausführlich informiert.
Über den illegalen Handel mit exotischen Wildtieren, besonders Papageien und Aras, und ihren Schmuggel ins Ausland, der die wild lebenden Arten an den Rand des Aussterbens bringt und viele bereits ausgerottet hat, haben wir im BrasilienPortal ebenfalls berichtet. Inzwischen hat uns eine alarmierende Nachricht erreicht, nach der gegenwärtig in Amazonien ein harmloses, aquatisch lebendes Säugetier nicht nur gefangen oder geschmuggelt, sondern brutal abgeschlachtet wird, um in Stücke gehackt, als Köder für den Fang eines Speisefisches herzuhalten, der auf dem Markt eine gute Gewinnmarge einbringt. Doch bevor wir auch auf dieses abscheuliche Verbrechen an der Natur näher eingehen, möchten wir Sie erst einmal mit dem Opfer dieser Schandtaten, dem Amazonasdelfin, bekannt machen.
Seine Verbreitung erstreckt sich über etwa sieben Millionen Quadratkilometer und wird hauptsächlich vom Meerwasser, von unüberwindbaren Stromschnellen und Wasserfällen, sowie Flussabschnitten begrenzt, die für seinen massigen Körper zu seicht sind. Neben dem Inia geoffrensis, der im zentralen Amazonasbecken lebt, kennt man zwei Unterarten, die in unterschiedlichen Regionen der besagten Flusssysteme vorkommen: Inia geoffrensis humboldtiana lebt im Orinoco-Becken, und Inia geoffrensis boliviensis findet man im oberen Abschnitt des Rio Madeira, den ein gewaltiger Wasserfallkomplex vom Amazonasstrom trennt.
Inia geoffrensis ist der grösste Vertreter dieser Flussdelfine, die Männchen erreichen eine Körperlänge von bis zu 2,55 Metern und ein Gewicht bis zu 200 Kilogramm. Weibliche Exemplare sind kleiner, bis zu 2,18 Meter lang und einem Gewicht bis zu 154 Kilogramm. Dieser Grössenunterschied der Geschlechter (Dimorphismus) ist einzigartig unter den Delfinen, bei denen die Weibchen, in der Regel, grösser und schwerer sind als die Männchen.
Die Körperfärbung verändert sich mit zunehmendem Alter. Junge Individuen sind dunkelgrau, während ausgewachsene Tiere eine, manchmal gefleckte, Pink-Färbung präsentieren – Männchen sind in der Regel stärker pinkfarben als die Weibchen. Einige erwachsene Tiere haben einen dunkleren Rücken als andere – Wissenschaftler nehmen an, dass die Färbung von der Temperatur, der Klarheit des Wassers und der geografischen Region abhängen könnte.
Die Körper dieser Tiere scheinen fett und schwer zu sein, aber sie sind aussergewöhnlich flexibel und können, zum Beispiel, ihren Kopf in alle Richtungen drehen. Sie besitzen eine breite, dreieckige Schwanzflosse und extrem lange Brustflossen. Die langen Oberarmknochen befähigen ihre Brustflossen zu kreisenden Bewegungen, wodurch sie ungewöhnlich beweglich sind, wenn sie sich innerhalb der Vegetation von überfluteten Wäldern aufhalten. Allerdings mindern diese Charakteristika auch ihre Geschwindigkeit beim Schwimmen. Ihre Augen sind klein, obwohl es scheint, dass sie sowohl über als auch unter der Wasseroberfläche gut sehen können. Sie besitzen eine kleine, schwammige Beule auf ihrer Stirn, die von einem Muskel kontrolliert wird und als Echolot dient, mittels dessen sie sich in den oft lehmig trüben Gewässern besser zu orientieren verstehen, als mit ihren Augen.
Innerhalb der genannten Flusssysteme kann man die “Botos“ in fast allen Mikrohabitats entdecken, in den grossen Strömen, den schmalen Kanälen, Flussmündungen, Seen und dicht vor Wasserfällen und Stromschnellen. Der Wasserstand-Zyklus hat den grössten Einfluss auf die Lebensgewohnheiten dieser Delfine während der verschiedenen Jahreszeiten – einerseits durch die jeweiligen Navigationsmöglichkeiten und zweitens durch das mehr oder weniger reichliche Fischvorkommen in den verschiedenen Gebieten. Daher trifft man die “Botos“ während der Trockenperiode in den grösseren Flüssen, weil die Nebenflüsse dann zu seicht werden – auch die Beutefische konzentrieren sich in dieser Zeit in den Haupftflüssen. Jedoch während des hohen Wasserstandes in der Regenperiode können Botos auch in den kleineren Zuflüssen jagen – einige Exemplare wagen sich dann sogar bis in den überfluteten Regenwald vor.
Männliche und weibliche Tiere scheinen unterschiedliche Lebensgewohnheiten zu bevorzugen – die Männchen kehren bereits in den Hauptstrom zurück, während das Wasser immer noch steigt, während die Weibchen mit ihren Kälbern noch weiter im Inland verweilen, und das aus verschiedenen Gründen: Wegen der Babys ziehen sie das ruhigere Wasser dort vor, denn die Strömung in den grösseren Flüssen könnte ihnen gefährlich werden – im ruhigen Wasser können sie bei der Mutter trinken und lernen, wie man Fische fängt. Und sie sind weniger gefährdet durch aggressive Männchen und eventuelle Beutegreifer.
Über die Fortpflanzungsgewohnheiten von Inia geoffrensis weiss man nur wenig. Verschiedene eingeborene Beobachter behaupten, dass die “Botos“ monogam leben. Einige Autoren haben wilde Kämpfe zwischen männlichen Rivalen in freier Wildbahn beobachten können, während andere die Kopulationsversuche der männlichen Botos in Gefangenschaft als extrem aggressiv beschreiben. Bei gefangenen Männchen stellte man ausserdem zahlreiche Verletzungen an Rücken- und Brustflossen, sowie rund um das Atemloch fest, der ganze Körper war mit frischen und vernarbten Wunden aus Zweikämpfen übersät. Daraus schliessen die Forscher, dass Flussdelfine sehr wohl polygam leben und die Kopulation mit einem Weibchen gegen eventuelle Rivalen erkämpfen müssen.
Männliche Botos haben die sexuelle Reife erreicht, wenn sie zirka 2,0 Meter lang geworden sind – die Weibchen bei zirka 1,60 bis 1.75 Metern. Eine Reproduktion findet nur einmal im Jahr statt – die Geburtenperiode fällt in der Regel auf den höchste Wasserstand der Flüsse, zwischen Mai und Juli, wenn ihr Wasser längst über die Ufer getreten ist und das tiefer gelegene Inland kilometerweit überflutet hat. Dort im überschwemmten Regenwald bringen die Mütter ihre Babys nach 11 Monaten Tragzeit zur Welt, umgeben von seichtem, ruhigem Wasser, das jetzt langsam zurückgeht.
In den enger werdenden Kanälen steigt das Nahrungsangebot an Fischen, die den Müttern Energie spenden für die Geburt und das anschliessende Stillen ihrer Neugeborenen (eine in Gefangenschaft beobachtete Geburt dauerte 4 – 5 Stunden). Die Mütter haben jeweils nur ein junges “Delfin-Kalb“, und nachdem die Nabelschnur abgerissen ist, helfen sie ihren Neugeborenen an die Wasseroberfläche, um zum ersten Mal zu atmen. Die Kälbchen von Inia geoffrensis sind bei Geburt etwa 80 cm lang, und sie wachsen pro Jahr um zirka 21 cm (in Gefangenschaft). Die Boto-Mütter säugen ihre Jungen etwas länger als ein Jahr – bei einigen Individuen hat man beobachtet, dass sie noch während der nächsten Schwangerschaft ihr zuletzt Geborenes gesäugt haben. Die Intervalle zwischen zwei Geburten liegen zwischen 15 – 36 Monaten, und die Neugeburten verteilen sich auf 2 – 3 Jahre. Mutter und Kalb pflegen eine enge und lange Verbindung. Die meisten Boto-Paare, die man in freier Wildbahn antrifft, sind Mütter mit ihren Kälbern – ein solches Paar war sogar in Gefangenschaft über drei Jahre lang unzertrennlich. Forscher kommen zu dem Schluss, dass diese ungewöhnlich lange Zeit unter dem Schutz der Mutter als Lernperiode für ihr Kalb zu werten ist.
Typisch für Inia geoffrensis ist seine individuelle Lebensweise – nur selten sieht man ihn in kleinen Gruppen von mehr als drei Exemplaren (bei Paaren handelt es sich in der Regel um Mütter mit ihren Kälbern). Wie auch immer, lockere Zusammenschlüsse um einen Fischschwarm einzukreisen oder in der Reproduktionsphase, gibt es hin und wieder. Auch in Gefangenschaft scheinen Botos keine gesellschaftliche Hierarchie mittels Aggressionen anzustreben, jedoch sind gewalttätige Aktionen nicht ungewöhnlich und haben bereits zum Tod angegriffener Individuen geführt. Andererseits sind sie bekannt dafür, gefangenen oder verletzten Individuen zu Hilfe zu kommen und sie zu beschützen. Sie sind sowohl am Tag aktiv als auch in den Nachtstunden, und sie wurden schon beobachtet, wie sie sich mit anderen Tieren zusammenschliessen – zum Beispiel mit Tucuxis (Sotalia fluviatilis) und Riesenottern (Pteronura brasiliensis) – wenn sie einen Fischschwarm verfolgen.
Botos sind langsamere Schwimmer als andere Delfine (normalerweise zwischen 1,5 und 3,2km/h), aber sie sind in der Lage, Höchstgeschwindigkeiten von 14 – 22km/h zu erreichen. Oft entdeckt man sie oberhalb von Stromschnellen, was beweist, dass sie einer stärkeren Strömung während einer längeren Zeit widerstehen können. Sie tauchen nicht besonders tief, und nur selten heben sie ihre Schwanzflosse über die Wasseroberfläche. Wenn sie an die Oberfläche kommen, präsentieren sie die Spitze ihres “Schnabels“, ihre Sonar-Beule am Kopf und ihre Rückenflosse simultan über der Wasserfläche. Wie ihre Verwandten sind sie spielerisch veranlagt und besonders neugierig. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sie sich an Kanus reiben oder plötzlich einem Fischer das Kanupaddel entreissen, und man hat sie dabei beobachtet, wie sie Gras unter Wasser ausreissen, Stöckchen werfen, mit Holzstücken und kleineren Tieren spielen (inklusive Fischen und Schildkröten). In Gefangenschaft ist Inia geoffrensis auch weniger scheu als andere Delfinarten, er ist jedoch schwerer zu trainieren als die andern.
Der Inia geoffrensis bedient sich eines Echolotes oder Sonars, um seine Beute zu fangen, zu navigieren und sich in seiner Umgebung zurechtzufinden. Die Frequenz seiner “Klicks“ scheint nicht weniger effizient als die von Thursiops truncatus (Grosser Tümmler) zu sein, einer Delfinspezies, die in allen Ozeanen verbreitet ist. Diese Klicks, sie reichen von 16 bis 170 kHz, werden auch benutzt, um zwischen den einzelnen Individuen zu kommunizieren. Bei Botos in Gefangenschaft wurden zehn verschiedene Sonar-Klicks zum Zurechtfinden und zur Kommunikation festgestellt – und sie scheinen den Schnabel beim Kommunizieren zu öffnen, was man anhand der zahlreichen, von Zähnen stammenden Narben, folgern kann, die alle Individuen an ihren Körpern aufwiesen.
Der Magen eines einzigen Botos kann mehr Fischspezies enthalten, als die Gesamtzahl der Beutefische anderer Delfine. Ihr stark diversifiziertes Nahrungsangebot enthält mindestens 43 unterschiedliche Fischarten aus 19 Familien – die Grösse dieser Beutefische liegt zwischen 5 und 80 Zentimetern. Ihre kräftigen, mit Zähnen besetzten Kiefer können ausserdem gepanzerte Beutetiere ebenfalls zermalmen, inklusive Flussschildkröten und Krebse. Ihre Nahrung ist besonders vielfältig während der Regenperiode, wenn die Fische sich auf die überfluteten Waldregionen verteilen und deshalb schwieriger zu fangen sind – und sie wird selektiver während der Trockenzeit, wenn die Fischpopulationen sich in den verbliebenen seichten Flüssen zusammendrängen.
Botos jagen in der Regel allein und sind besonders aktiv zwischen 06:00 und 09:00 Uhr morgens, sowie zwischen 15:00 und 16:00 Uhr am Nachmittag, wobei sie jeden Tag etwa 2,5% ihres Körpergewichts verkonsumieren. Oft begegnet man ihnen in der Nähe von Wasserfällen und Flussmündungen, wo die Fischschwärme durch die Wasserströmungen auseinander getrieben werden und so leichter zu fangen sind. Botos benutzen auch die Wasserwirbel von Motorbooten, um die dadurch desorientierten Beutefische zu fangen.
Bisher wurden Botos von den eingeborenen Fischern kaum bejagt – während sie in historischen Zeiten von den portugiesischen Siedlern wegen des Öls für ihre Lampen getötet wurden. Ausserdem benutzte man ihr Fett zur Heilung von Asthma, das aus ihm gewonnene Öl zur Linderung rheumatischer Schmerzen und gegen Infektionen bei Haustieren. Augen, Genitalien und Zähne galten als Liebeszauber oder wurden als Amulette getragen. Niemals verwendeten sie allerdings ihre Haut oder assen ihr Fleisch. Die Fischer bedienten sich dagegen der Botos, um durch sie zu den Fischschwärmen geführt zu werden.
Heutzutage üben menschliche Aktivitäten einen starken Druck auf die Boto-Populationen aus. Zahlreiche negative Zusammenstösse zwischen den Flussdelfinen und den Fischern sind inzwischen bekannt geworden. Seit eine modernere Fischereitechnologie bis nach Amazonien vorgedrungen ist, hat der unabsichtliche Fang von Botos zugenommen, weil sie sich in Netzen verstricken. Aber man hat sie auch harpuniert, erschossen und sogar vergiftet, weil sie Fische aus Netzen stehlen und dabei die Fischereiausrüstung zerstören. Und eine wachsende Nachfrage des Marktes nach Fisch verringert zunehmend das Angebot an Beutefischen für die Botos.
Wasserkraftwerke, und die mit ihnen verbundenen Staudämme, sind in verschiedener Hinsicht ein Problem. Sie mindern das den Botos normalerweise zur Verfügung stehende Nahrungsangebot, indem sie verschiedene Fischarten in ihren Wanderungen flussauf und flussab behindern, und sie verringern den Sauerstoffgehalt des Wassers. Die Dämme spalten die Populationen von Inia geoffrensis, reduzieren genetische Pools innerhalb dieser Populationen auf ein Niveau ohne genügend genetische Vielfalt zum Überleben, und erhöhen damit das Risiko des Aussterbens dieser Spezies.
Die Waldzerstörung zugunsten einer Agrarwirtschaft auf den periodisch überfluteten Festlandsarealen, reduziert die Fischpopulationen durch das Verschwinden von Früchten und Samen des gefluteten Waldes, von denen sich die Fische ernähren – und damit verringert sich auch das Nahrungsangebot der Botos. Die Flüsse, in denen sie leben, sind teilweise durch Pestizide von bewirtschafteten Feldern stark verschmutzt, und mit Schwermetallen (inklusive Quecksilber) verseucht, die bei der Goldwäsche benutzt werden – sie schädigen beide, den Flussdelfin und seine Beutefische.
Es gibt keine Berichte über natürliche Feinde der Botos, obwohl Schwarze Kaimane (Melanosuchus niger), Bullenhaie (Carcharhinus leucas), Anakondas (Eunectes) und Jaguare (Panthera onca) durchaus in der Lage wären, mit einem Boto fertig zu werden, jedoch in Anbetracht eines üppigen Nahrungsangebots für jeden von ihnen, lassen sie ihn in Ruhe.