Das Kleid

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Die meisten Menschen fürchten den Tod, weil sie in ihrem Leben nichts vollbracht haben. (Peter Ustinov)

Suzana legt ihr Stethoskop auf dem Schreibtisch ab, ihren Kugelschreiber, den Rezeptblock – dann steht sie von ihrem Stuhl auf, ergreift ihre Handtasche und hastet über den endlos scheinenden Korridor der Ambulanz dem Ausgang zu. Sie winkt ein Taxi zu sich heran und beeilt sich einzusteigen.

Während der Fahrer sich wieder in den hektischen Verkehr der Grossstadt einfädelt, um sie zum angegebenen Ziel zu bringen, drängen sich ihr Bilder aus ihrer Kindheit auf – einer behüteten Kindheit, mit der liebevollen Zuneigung einer Familie, die zu den wohlhabenden der Gesellschaft gehörte, und die der Intelligenz und individuellen Kapazität ihrer Mitglieder grosszügigen Freiraum gewährte. Als sie zu einer jungen Dame herangewachsen, sagte ihre Mutter zu ihr: „Du bist zu intelligent, um nur Windeln zu wechseln und Töpfe zu spülen. Entwickle dein Potential – mach‘ ein Universitätsstudium und nimm vorläufig von den Gedanken an eine Heirat Abstand“

So erzogen, fühlte sie sich erhaben über die bescheidenen Ideen ihrer Mitschülerinnen. Bei denen drehte sich alles um den Stoff und die Farben der Kleider für den nächsten Ball – ihre Köpfe waren voll von den Artikeln der Gesellschafts–Kolumnisten, deren albernes Gefasel sie geradezu gierig verschlangen: über die „besten Partien“ in der kleinen Stadt, über die neuesten Flirts und über die bevorstehenden Hochzeiten. Suzana hatte eine Busenfreundin, deren Interessen den ihren so vollkommen zuwiderliefen, dass eigentlich niemand jene enge Freundschaft verstand, welche die beiden zu verbinden schien.

Sônia war aus einfachem Haus aber über die Massen ehrgeizig. Als Tochter einer Witwe, die als Lehrerin an einer Klosterschule die Töchter der besseren Gesellschaft unterrichtete, hatte sie dort ihr Studium gratis. Sie benutzte jedoch diese Gunst des Schicksals lediglich dafür, Kontakte mit Kolleginnen ihrer Gruppe aufzubauen, und es gelang ihr stets, zu deren Festen und Ausflügen eingeladen zu werden, wo sie es auf deren Freunde, Brüder und Cousins abgesehen hatte – um einen solventen Partner zu entdecken, der mit ihr ein Verhältnis anfinge. Sie gab sich hilfsbereit und zuvorkommend, für alles zu haben und geschickt darin, unerwartete Probleme zu lösen und verwandelte sich so in eine von der Gruppe gern akzeptierte Figur – weil sie sich unentbehrlich zu machen verstand. Und sie war einfach immer da.

Sônia lernte niemals, aber es gelang ihr, anhand ihrer allgemeinen Beliebtheit, mit Abschreiben und angebotenen Spickzetteln durch die Prüfungen zu kommen. Sie setzte sich hinter den Platz von Suzana und schrieb die Lösungen ihrer Freundin einfach ab. Sie hasste alle Anstrengung, verachtete die Hingabe an ein ernstzunehmendes Ziel oder Leistung ohne materielle Vergütung. Und sie glaubte unwiderlegbar daran, dass eine Heirat die Lösung all ihrer Probleme wäre. „Es gibt nur zwei Arten, aus der Misere zu kommen“, pflegte sie zu wiederholen, „reich geboren werden oder einen reichen Mann zu angeln. Da ich schon in der Misere geboren bin, bleibt mir nur noch die zweite Möglichkeit“. Und auf die Proteste ihrer Freundin entgegnete sie: „Für dich ist das alles kein Problem, du bist in einer goldenen Wiege geboren. Also sag nichts zu Dingen, von denen du nichts verstehst. Glaubst du vielleicht, ich merke nicht, wie dich die frommen Schwestern betüteln, und wie sie mich ablehnen? Sie machen keinen Hehl draus, dass ich gratis studiere, und dass ich diese Gelegenheit gefälligst zu benutzen hätte, die mir das Leben bietet. Was für eine verdammte „Gelegenheit“ ist das denn: Waise eines Taxifahrers zu sein, der gestorben ist, ohne uns einen Cent zu hinterlassen – meine Mutter, Lehrerin reicher Töchter, aber die mir nicht mal ein neues Kleid kaufen kann, um zu den Festen zu gehen. Wenn da nicht die Kleider wären, die du mir überlässt, wüsste ich nicht, wie ich mich überhaupt sehen lassen könnte“. Und sie fügte hinzu: „Ich fühl mich nicht besonders wohl in den Kleidern, die du nicht mehr anziehst. Ich hasse es eigentlich, sie zu tragen, aber ich mach’s, weil ich eben keine anderen habe.“

Suzana, voller Mitleid mit ihrer Freundin, antwortete, so als ob sie sich ihres wohlhabenden Elternhauses schämte: „Aber ich gebe dir doch nie alte Kleider. Es sind vielmehr Stücke, die ich nur ganz wenige Male überhaupt getragen habe“. „Aber die alle Leute schon an dir gesehen haben – und jetzt wissen sie, dass ich deine Reste trage. Sie lachen hinter meinem Rücken über mich – glaubst du, das weiss ich nicht? Aber lass nur, das wird nicht immer so bleiben. Ich werde diese Platte noch umdrehen.“ Suzana bemerkte noch: „Du musst endlich ernsthaft lernen, dich auf einen Beruf vorbereiten, auf deine Karriere“. Und Sônia lachte: „Aus deinem Mund sprechen die frommen Schwestern. Hast du immer noch nicht begriffen, dass ich das Studium hasse? Dafür bin ich nicht geboren, glaub‘ mir. Ich begreife immer noch nicht, wie du ein ganzes Buch durchlesen kannst. Hör zu, was ich dir jetzt sage: „ich werde mich früh verheiraten – mit jemandem, der der mir alles geben kann, was ich brauche“.

Am Ende der Gymnasial–Periode matrikulierte sich Sônia in der Haushaltsschule. „Warum nicht in der normalen Universität?“, fragte besorgt ihre Mutter, „du kannst Lehrerin werden, kannst ein Studium in Pädagogik belegen – ein würdiger Beruf. Du kannst Direktorin eines Kollegs werden, eine Sache mit Prestige. Die Haushaltsschule ist ein Kurs für die, welche auf einen Ehemann warten! Nicht mal ein Diplom gibt’s dafür!“ Der Mutter antwortete Sônia nichts, aber ihrer Freundin erklärte sie empört: „Das ist einfach zuviel für meinen Kopf – Psychologie, Philosophie, Pädagogik, all das und noch die Arithmetik – dafür tauge ich einfach nicht. Und vor allem will ich auf gar keinen Fall Lehrerin werden! Aber mich auf einen Ehemann vorbereiten, das will ich! Warum auch nicht? Und ein reicher Ehemann muss es sein – von den mit den abgelatschten Füssen möchte ich Abstand! Ich sehe mich einfach als „Madam“ – als Liebling der Kolumnenschreiber, als ihre „Soninha“. So werden sie mich nennen, du wirst sehen – ohne Familienname – nur „Soninha“, und jedermann wird sofort wissen, dass nur ich damit gemeint sein kann.

Suzana lachte mitleidig über die Träume ihrer Freundin, denn sie schienen ihr damals viel zu fern und unwahrscheinlich. Obwohl nicht besonders hübsch, höchstens von angenehmem Äusseren, besass Sônia ein faszinierendes Lächeln und war von geradezu auffallender Vitalität. Sehr sportlich, wandelte sie sich zu einer beachteten Basketball–Athletin und fand unter den anderen Spielerinnen auch ihre Gruppe und den entsprechenden gesellschaftlichen Anschluss. Ausserdem liebte sie das Kartenspiel – sie verbrachte ganze Wochenenden spielend und rauchend zwischen Gleichgesinnten, denen das Studium ebenfalls nichts bedeutete. Obwohl sie an einer Schwesternschule aufgewachsen und stets Umgang mit wohlerzogenen Töchtern wie Suzana gepflegt hatte, war Sônia alles andere als eine zurückhaltende, wohlerzogene junge Frau. Sie besass unter anderem auch die hässliche Angewohnheit, Schwälle von Flüchen und Schimpfworten auf ihr unsympathische Personen abzuschiessen – unkontrolliert, wie unter Zwang. Und Suzanas Mutter konnte sich mit der Freundschaft ihrer Tochter zu dieser „unangenehmen Person“ nicht abfinden. „Man nennt diesen Defekt „Coprolalie! Aber was ihr eigentlich fehlt, ist eine gute Erziehung. Sie ist eine würdige Vertreterin dessen, was man „Piraten–Papagei“ nennt – jemand, der sich an berühmten Personen anlehnt, um in den Klatschspalten zu erscheinen. Sie benutzt dich, deine Kontakte, deine Freundschaften, um sich einen ordentlichen Mann zu angeln. Aber ich bezweifle, dass die jungen Männer unserer Gesellschaft sich mit einer solchen Kreatur einlassen werden. Wenn’s nach mir ginge, dürfte diese Person unser Haus nicht mehr betreten. Sie lässt uns alle vor Scham im Boden versinken, mit ihren schlechten Manieren und ihren Schimpfworten. „Und wirklich, die beiden jungen Frauen entfernten sich langsam von einander. Suzana entschloss sich zum Medizinstudium und widmete diesem Ziel ihre jungen Jahre.

Während das Taxi im chaotischen Verkehr seinen Weg sucht, erinnert sich die Ärztin ihrer letzten Jugendjahre und der Vorbereitungen zum Medizinstudium. Erinnert sich auch der Feste, die sie wegen ihrer Vorbereitung zum Abitur ausgelassen, Flirts, die sie in Biologie– und Chemiebüchern erstickt hatte und aufkeimende Leidenschaften, die sie dem Studium der Physik und Mathematik geopfert hatte. Sie spürt eine fast schmerzende Sehnsucht nach den Tagen ihrer Jugend, die sie nicht ausgelebt zu haben glaubt – Sehnsucht nach der Schönheit ihrer Jugend, der zu wenig Anerkennung zuteil geworden war – immer hatten sie nur ihre Intelligenz bewundert. Sie flüchtet sich zurück ins Raupenstadium und ihre damaligen Gefühle. Und ihre Verwandlung in einen Schmetterling – aber es gelingt ihr nicht mehr, den Zeitpunkt dieser Metamorphose festzulegen, denn sie befand sich ja nie zwischen Rabatten mit bunten Knospen und duftenden Blumen, sondern stets zwischen geruchlosen Büchern und Heften von undefinierbaren Farben. Nie war sie über einen Laufsteg geschritten oder hatte der Applaus der Zuschauer, als Anerkennung für ihre Schönheit, sie verführt – aber sie hatte eine Prämie für eine besondere literarische Leistung auf der Hochschule erhalten, und da hatten sie geklatscht.

In einer scharfen Kurve, in der sich der Taxifahrer mit zornigem Hupen Platz verschafft, streichelt sie der Morgenwind im Gesicht, derselbe Wind, den sie nicht nach durchtanzten, sondern für ihr Studium durchbüffelten, Nächten gespürt hatte. Während der Taximeter tickt, erinnert sie sich auch an ihre Ankunft in Rio de Janeiro, wo die Abschlussprüfung stattfand: die bunte Avenida Presidente Vargas, noch drapiert mit den Resten des Karnevals, ihre Sicht durch das Hotelfenster auf einen nass glänzenden Asphalt, übersät mit Konfetti und einem Salzgeruch von der Bucht her. Schliesslich das festlich geschmückte Maracanã–Stadion, riesig und überfüllt, auf seinem grünen Rasen alle die jungen Leute und ihre Kollegen – müde, erwartungsvoll, nervös. „Ich hab’s geschafft, Papa – ich hab‘ bestanden, Papa! Der erste grosse Sieg in meinem Leben!“

Wie die Räder des Taxis, so drehen sich die Gedanken und Bilder in ihrem Kopf. Die erste Nacht allein in ihrem Zimmer im Studentenheim. Eine Geburtstagsparty im Parterre, mit viel Gelächter, Spass und gesungenen „Fados“ von Francisco José: „Teus olhos castanhos de encantos tamanhos são a minha luz“ Suzana, allein, erinnert sich auch an den sternenübersäten Himmel in dieser Nacht und an ihre Träume von einer glänzenden Zukunft – einem neuen Leben, das sie nun anfangen wollte, mit ihren jungen und vielversprechenden achtzehn Jahren. „Ich kleide mich in Blau, und mein Glücksstern hat sich prompt gedreht“, plärrte das Radio der Nachbarin, um den „Fado–Gesang“ zu übertönen. Und Suzana trug sich mit der Hoffnung, jetzt vielleicht ein Paar „kastanienbrauner Augen“ zu finden, die sich in den ihren verlieren würden – sie hätten ruhig auch grün oder blau sein dürfen, wenn sie ihr nur ein bisschen Zärtlichkeit und Liebe brächten, die sie bisher immer aufgeschoben, und für die sie sich jetzt bereit fühlte. Es tat ihr damals so leid, dass sie nicht in ihrem Heimatstädtchen sein konnte, wo ihre ehemals beste Freundin Sônia ihren Traum verwirklicht hatte: einer der Erben der mächtigsten Familie des Ortes führte sie zum Traualtar. Wie hatte sie das hingekriegt? Sônia selbst erzählte es ihr später: „Er dachte, dass ich leicht zu erobern wäre. Immer wieder hat er’s versucht, aber als es ihm nicht gelang, mich ins Bett zu kriegen, blieb ihm nichts anderes übrig als mir die Heirat anzutragen&. Klar, seine Familie findet, dass ich seiner nicht würdig bin, aber die können nichts machen, denn er ist schrecklich in mich verschossen“. Und dann erzählte sie mit sichtbarer Genugtuung von der Familie, in die sie nun eingetreten ist: „Erinnerst du dich an den älteren Bruder von Sílvio, Arnaldo? Nun, dieser Kerl ist ein Idiot, der sich als Intellektueller ausgibt – glaubt, dass er den „König im Bauch“ hat, so arrogant ist der! Als ich schon Braut war und unser Hochzeitsdatum festgelegt, kam der aus Frankreich zurück und hörte, dass Sílvio der Bräutigam einer „illustren Unbekannten“ sei – woraufhin er seinen Bruder fürchterlich abgekanzelt hat. Trug ihm an, sich selbst mehr Wert beizumessen – und, dass ich keine Frau für ihn sei. Und dann, an einem Samstag – Sílvio und ich waren gerade von einem Picknick zurückgekommen, und er verschwand zu einer Dusche im Badezimmer – setzte ich mich zu seiner Mutter vor den Fernseher. Wir sprachen kein Wort, als plötzlich Arnaldo erschien. Er begrüsste mich nicht, aber musterte mich von oben bis unten und begann dann ein Gespräch mit seiner Mutter auf Französisch und ignorierte meine Präsenz vollkommen. Eine solche Unverschämtheit… aber der wird noch sehen, aus welchem Holz ich geschnitzt bin. Lass mich nur erst einmal die Heirat hinter mir haben. Rache ist ein Menu, das man kalt geniesst – und er wird mir seine Ignoranz eines Tages noch teuer bezahlen.“

Weil ihre Familie keinerlei Mittel besass, heiratete Sônia am Tag der Silberhochzeit ihrer neuen Schwiegereltern. „Was macht’s denn, wenn das nicht mein Fest ist? Ich weiss, dass die ganze Stadt nur ein Thema hat: die Braut ist so arm, dass sie kein Fest zustande bringt und sogar ihr Kleid vom Verleiher stammt. Und so ist es wirklich! Eine Cousine von Sílvio hat in Recife geheiratet und mir das Kleid arrangiert. Na und? Es wird das letzte Mal sein in meinem Leben, dass ich ein Kleid aus zweiter Hand trage. Denn nun habe ich mir einen reichen Bräutigam eingefangen. Und jetzt werde ich’s diesen affigen Trinen allen mal zeigen! Alle habe ich sie abgehängt – hab‘ die beste Partie im Ort gemacht. Möchte mal sehn, ob sie immer noch hinter meinem Rücken lachen – über meine Kleider aus zweiter Hand. Ich gebe denen kein Jahr, bis sie mich umschmeicheln. Ich werde vor aller Augen heiraten – und ich werde viel Geld haben! Und natürlich heirate ich in Gütergemeinschaft, bin doch nicht blöd! Sein Grossvater hat versucht, ihn zur Gütertrennung zu überreden, aber da hab‘ ich gesagt, dass ich eine solche Entwürdigung niemals ertragen könnte – und mein Zukünftiger, ganz verrückt auf meine Unschuld, hat allem zugestimmt.“

Der Verkehr wird jetzt so dicht, dass das Taxi allenthalben eingekeilt stehen bleibt. Suzana erinnert sich an die Telefongespräche mit ihrer Mutter und die Neuigkeiten, die sie ihrer Tochter aus dem Heimatort erzählte: Durch ihre Heirat sicher geworden, zeigte Sônia nun bald ihren wahren Charakter. Unersättlich in ihrem Drang Geld auszugeben, rühmte sie sich dessen auch vor ihren Bewunderinnen, so als ob diese konvulsive Haltung eine Art von Qualität sei. Sie beschämte ihren Mann in den Salons der Kleinstadt, ihre skandalöse Lache hallte täglich zwischen den Hauswänden wider, und sie verletzte die Ohren der Gesellschaft mit ihren Flüchen und üblen Schimpfworten. Eigentlich wurde sie nur wegen des Prestiges der Familie geduldet, in die sie eingeheiratet hatte, und später, wegen des persönlichen Prestiges ihres Mannes, welches nur durch die von ihm erwählte Partnerin an Glanz verlor.

Währenddessen widmete sich Suzana ihrer Karriere. Sie seufzte, als sie an die vielen absolvierten Unterrichtsstunden dachte, die Prüfungen, die Nachtwachen, die Sezierungen von Leichen, Entbindungen und chirurgischen Eingriffe, die offenen blutenden Wunden, die übel riechenden Wundbrände, Verbrennungen, Selbstmorde, Kinder, die vom Krebs befallen, und Frauen, die ihre hilflosen Fötusse abtrieben, weil sie ihre Bäuche als unwillkommene Untermieter ausfüllten. Andere, die verzweifelt versuchten, das winzige Leben in ihrem Innern zu retten, das sich in ein blutiges Nichts auflöste. Sechs lange Jahre mit viel Arbeit und noch mehr Studium. Sechs Jahre der professionellen Reife, des intimen Kontakts mit einer harten Realität – oft grausam und erschreckend. Sechs Jahre, in denen sie lernte, ihre Scheu zu überwinden, ihre Unentschlossenheit, denn in einem Moment des Zögerns kann man ein Leben verlieren. Sechs Jahre, in denen sie ihre Jugend zu Grabe trug, unter dem scharfen Geruch von Äther und Formol und dem Gewicht ihrer pathologischen und klinischen Arbeit. „Ihr müsst den Harrison vorne bis hinten auswendig kennen, und auch den Cecil pflegte sich der strenge Professor für klinische Medizin zu wiederholen. Sechs Jahre und schliesslich ihr Diplom – „die Rolle aus Papier“, wie der Volkssänger Martinho de Vila in dem Stück „O Pequeno Burguês“ (Der Kleinstadt–Bürger) singt. Der Abschlussball, der „Schwur des Hypokrates“, die Trennung von ihren Kommilitoninnen – von denen jede ihren persönlichen Weg einschlug – und die Gewissheit, dass es viel für sie zu tun geben wird&.

Weitere drei Jahre in einem Ausbildungslehrgang. Zwar schon Ärztin, aber noch als Praktikantin und Studentin behandelt. Mit vielen Überstunden und Nachteinsätzen. Dann die beruflichen Positionen. Die Realität im öffentlichen Dienst, wo es am Nötigsten fehlte – besonders Betten für die Internierung, technische Einrichtungen, die von korrupten, verantwortungslosen Politikern beiseite geschafft worden waren – immer kamen sie davon, selbst wenn man sie denunzierte. Die berufliche Würde von irgendeinem Drecksgoverneur beschmutzt, der Arzt als „Metzger“ verunglimpft oder als „Säckchen Salz“ – weiss, billig und leicht zu finden. Eine Realität, die so gar nichts mehr mit ihrem ehemaligen Traum zutun haben schien. Trotz alledem fühlte sie sich als eine Frau, deren Leben einen Sinn bekommen hatte. Neben diesen Enttäuschungen im öffentlichen Dienst, hielt sie sich eine eigene Praxis, ihre Ehe konnte man als stabil und ausgeglichen bezeichnen, eine glückliche und liebevolle Familie und ehrliche, respektvolle Freundschaften.

Vertieft in ihre Gedanken, hatte sie das Taxi endlich bis zu ihrer Wohnung gebracht. Sie bezahlte die Fahrt und schloss auf – das Telefon hiess sie mit schrillem Klingeln willkommen. „Du hast also meine Angestellte untersucht? Hab‘ bei dir in der Klinik angerufen, wo sie mir sagten, dass du schon nach Hause unterwegs seiest. Verdammt – ich hab‘ mir Sorgen gemacht. Wenn du diese Mistkröte nicht untersucht hättest, müsste ich sie jetzt entlassen. Obwohl ich mich an Händen und Füssen gefesselt fühle, wenn sie nicht da ist. Neulich hab‘ ich wegen ihr sogar bei einer Modenschau gefehlt! Diese verdammten Sch. . . Kreaturen aus dem billigen Volk! Haben keinerlei Moral! Das Fest heute abend ist Stadtgespräch – mit Recht auf ein Foto in der Zeitung und so weiter ist die Geburtstagsfeier der Conceição. Werde sehen, dass ich gegen Ende einen Sprung vorbei mache, nur für die Fotos! Denn ich kann ja wohl nicht abseits stehen bei so wichtigen Ereignissender City, nicht wahr?

Ja, Suzana war von Sônias Angestellter heute in der Klinik konsultiert worden. „Um Himmels willen, gab’s denn da keine Gratis–Muster, die du ihr hättest geben können? Jetzt muss ich auch noch Geld für die Krankheiten dieser Habenichtse aus dem Fenster werfen. Ist schon schlimm genug, was ich diesen Monat alles für Heiratsgeschenke werde ausgeben müssen! Jeder lädt einen ein – für alles und einfach jede Veranstaltung – was das alles kostet! Ist nur gut, dass Sílvio es hat . . .“ Die zahlreichen Flüche und Schimpfworte, welche Sônia in jeden ihrer Monologe einzustreuen pflegte, die stets mit den Schilderungen ihrer neuesten Auftritte in der Haute Volée ihrer Kleinstadt endeten, führten Suzana wieder in ihre Erinnerungen zurück:

Nach ihrem Abschlussexamen war sie erst einmal in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Und in ihrem gesellschaftlichen Umfeld, in das sie hineingeboren wurde, traf sie auch Sônia wieder – jetzt durch ihre Heirat mit derselben Gesellschaft verbunden. Obwohl von den eher traditionellen Mitgliedern dieser Gesellschaft nicht akzeptiert, zirkulierte ihre Jugendfreundin von Fest zu Fest und hatte es tatsächlich zur „Soninha“ einiger Zeitungs–Kolumnisten gebracht, so wie sie sich das in ihren Teenager–Träumen vorgestellt hatte. Sie brüstete sich geradezu ostentativ, dass sie „niemals eine dieser Fakultäts–Bänke abgerutscht habe“ und es trotzdem im Leben zu etwas gebracht! Sie kümmerte sich kaum um ihre Kinder. Ihr Leben war ausgefüllt von Teestunden, Spielen, Zusammenkünften – stets war sie voll beschäftigt mit ihren „gesellschaftlichen Verpflichtungen“. Sônia war eine gierige Geldverschleuderin. Sie kleidete sich auffällig und bunt – immer nach der neuesten Mode – und sie legte Wert auf die besten Marken – sogar, was ihre Unterwäsche betraf. Für Handtaschen und Schuhe hatte sie ein ganz besonderes Faible und präsentierte ihre Kollektion bei allen Gelegenheiten. Nur für echten Schmuck, für Gold oder Diamanten, hatte sie komischerweise nichts übrig. Dagegen fand sie extravaganten und bunten Bijouterie–Schmuck wesentlich reizvoller, weil auffälliger. „Ich bin auf die Welt gekommen, um zu glänzen – und den Glanz, den ich brauche, können mir Gold und Diamanten nicht bieten. Die sind zu wenig für mich!“ Ihre Ohrringe waren stets riesengross, mit leuchtenden Steinen. Zusammen mit ihrem langen, vollen Haar unterstrichen diese Ohrringe das Bild der neureichen jungen Frau. Sônia selbst, unkultiviert wie sie war, redete furchtbar viel Unsinn, gespickt mit ihren üblichen Schimpfworten, und wer ihr gerade zuhörte, dem trieben ihre ungezügelten Flüche und ihre dumm–dreisten Ansichten nur zu oft die Schamröte ins Gesicht.

Als sie einmal von einer Reise nach Europa erzählte, die sie mit Sílvio unternommen, behauptete sie kategorisch, in Venedig mit „Grundeln“ gefahren zu sein. Und sie wiederholte ihren Irrtum insistent, bis schliesslich Suzana sie darüber aufklärte. Eine andere peinliche Situation: auf einem Fest, nur für Frauen, erzählte sie den Fall eines bekannten Politikers, der ihrer Meinung nach „heterosexuell“ sei. Und einige ihrer Zuhörer, lächelnd, insistierten: „Was ist der, Sônia, sag’s noch mal?“ Und sie antwortete euphorisch: „Heterosexuell. Wirklich – hetero! Seine Frau hat ihn mit einem Kerl erwischt!“ Sônia verstand die Peinlichkeit der Situation erst, als Suzana aus Mitleid mit der Freundin, diese beiseite zog und ihr erklärte: „Du willst sagen, dass er bisexuell veranlagt ist. Heterosexuell ist ein Mann, der sich zu Frauen hingezogen fühlt – so wie es normalerweise üblich ist.“

Diese und viele andere Geschichten ergänzten sich zur Folklore der Gesellschaft über Sônia. Aber das merkte sie nicht oder störte sich nicht daran. Ihr Mann Sílvio hatte sich schon seit einiger Zeit von seiner Partnerin, die seine ungestüme Jugend einmal umworben, zurückgezogen – inzwischen hatte er Trost für seinen Irrtum in den Armen einer anderen Frau gefunden, eine Tatsache, die von Sônia ohne Widerstand akzeptiert worden war, der nur daran gelegen war, ihren Status als Ehefrau des mächtigen Soundso nicht opfern zu müssen – der notwendigen Visitenkarte für ihre Partys und Feste. Die Führung ihres Haushalts und die Aufsicht über ihre Kinder wurden – „gut bezahlt“, wie sie stets betonte – an jene kompetente Hausangestellte übertragen, die Suzana an diesem Nachmittag in der Klinik empfangen hatte.

Endlich kann Suzana den Hörer auflegen. Sônia hatte, wie immer, einen Rosenkranz von Banalitäten vor ihr ausgebreitet, an deren Einzelheiten sie sich schon nicht mehr erinnerte, weil sie kaum hingehört, sondern von ihren eigenen Gedanken in Anspruch genommen war – Gedanken, die sich mit dem Leben ihrer Jugendfreundin beschäftigten und der Frau, die sie geworden war. Eine „aufgetakelte Schachtel“, eitel und gelitten von ihrem Gesellschaftskreis, verhöhnt von den Geliebten ihres Mannes, begierig immer jung auszusehen, trotz der Jahre, die vorübergehen und der Falten, die sich einstellen. „Ob sich Sônia wohl als Siegerin fühlt, weil sie sich teure Kleider kaufen kann und in den Klatschspalten der Presse erscheint? Ob sie wohl glücklich ist?“, fragt sich die Ärztin. Und sich selbst fragt sie dasselbe und stellt fest: wenn die Jugend vorbei ist, stellt man in den Jahren die folgen fest, dass man einen Inhalt braucht, für sich selbst jemand werden muss – Glaubhaftigkeit und Respekt ausstrahlen. Und sie erinnert sich an ihre Sprechstunde mit Sônias Hausangestellter. Maria de Fátima ist lange geblieben, hat mit ihr über dies und das gesprochen, viele Neuigkeiten aus ihrem Ort mitgebracht. Auch vom letzten Ball erzählte sie ihr, zu dem ihre Herrin in einem Kleid erschienen war, das sie in einem Atelier der Stadt für fünftausend Reais gekauft hatte – und sie beschrieb Suzana in bewundernden Worten Einzelheiten dieses pompösen Ballkleides. Dann fügte sie noch hinzu: „Sie, Frau Doktor, so schön und wohlerzogen und aus vornehmem Haus, warum gehen Sie niemals aus und zeigen sich in der Gesellschaft? Sie kleiden sich so bescheiden – und sind doch eine Ärztin! Kein Schmuck und kein Luxus“

Suzana entlässt die Hausangestellte mit einem Lächeln, indem sie angibt, noch viele andere Patienten zu haben, die sie noch heute empfangen müsse – Maria de Fátima geht und wiegt ihren Kopf hin und her, so als bedauere sie das Desinteresse der „Frau Doktor“ an solch wichtigen Dingen. Kurz darauf betritt ein Mann aus der Buchhaltung ihr Konsulthorium und überreicht ihr den monatlichen Scheck mit ihrem Gehalt. Auf ihm steht schwarz auf weiss, wie viel dem Staat ihre monatliche Arbeit im öffentlichen Dienst wert ist: Für die von ihr geretteten Leben und das Stillen der Schmerzen, in einem Land ohne Werte noch Wahrheiten, wo Kultur, Ideale und Lebenskampf geringschätzig betrachtet werden – ein Irrtum des Landes, nicht ihrer – ist ihr Preis achthundert Reais, der Gegenwert für einen sechsten Teil des Ballkleides jener Frau, die sich einmal schämte, Suzanas Kleider aus zweiter Hand zu tragen.  

Am selben Nachmittag, schon in der Tür, um ihr Taxi für den Heimweg zu rufen, wendet sich die Ärztin Suzana an ihre Assistentin: „Dona Hiroita, niemand kann ein ganzes Leben lang die ganze Welt täuschen. Die Zukunft ist unerbittlich. Sie nimmt uns die Jugend, die Schönheit und die Gesundheit, und darüber hinaus enthüllt sie noch, wer wirklich etwas geschaffen hat auf seinem Weg.“ Und indem sie der alten Dame ihren Lohnscheck zeigt, und diese sie mit offensichtlichem Unverständnis betroffen ansieht, fährt sie fort: „Sie können es mir glauben – trotzdem ziehe ich es vor, auf dieser Seite des Lebens zu stehen. Wenigstens habe ich keine Angst vor dem Altern, keine Angst vor der Leere und keine Angst vor dem Verlust der Liebe.“

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AutorIn: Klaus D. Günther

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