Wie bei allen Legenden, mit ihrer Tendenz sich grösser darzustellen als die simplen Fakten, enthält die Saga des Lampião, aus dem Nordosten Brasiliens, sämtliche Elemente von Abenteuer, Romantik, Gewalt, Liebe und Hass der grossen Geschichten der Menschheit.
Virgulino Ferreira da Silva (volkstümlich „Lampião“) wurde am 4. Juni 1898 in Passagem das Pedras, im Distrikt Villa Bella (heute Serra Talhada), einem kleinen Flecken des nordöstlichen Sertão im Bundesstaat Pernambuco, geboren. Durch den Mord an seinem Vater, dessen Schuldige er in Stücke hackte und den Geiern zum Frass vorwarf, wurde er ins kriminelle Abseits gedrängt und entwickelte sich zum gefürchtetsten „Cangaceiro“ aller Zeiten (der Name stammt aus dem nordöstlichen Volksvokabular und bezeichnet Gesetzesbrecher, die in organisierter Form, am Anfang des vergangenen Jahrhunderts, den brasilianischen Nordosten unsicher machten).
Lampião und seine Bande durchstreiften sieben Bundesstaaten der Nordost-Region während der 20er und 30er Jahre – sie brachten Blut, Tod und grosse Furcht über die Bevölkerung des Sertão. Sie bedeuteten, darüber hinaus, auch grosse Schwierigkeiten und Probleme für die Wirtschaft des Interiors aller Nordoststaaten, und ihre Geschichte ist bis heute ein mysteriöses Gemisch aus Wahrheit und grenzenloser Übertreibung.
Anfang der 30er Jahre verfolgten ihn mehr als 4.000 Soldaten – in den verschiedenen Bundesstaaten. Seine Bande war zu dieser Zeit um die 50 Mitglieder stark – unter ihnen sowohl Männer als auch Frauen. Er selbst wurde von der hierzulande überall bekannten Maria Bonita begleitet – einer kühnen und entschlossenen Kämpferin aus gleichem Schrot und Korn. Die Bande stand auf freundschaftlichem Fuss mit verschiedenen Fazendeiros (Grundbesitzern), die ihnen im Gegenzug Unterkunft und Verpflegung gewährten und sie auch materiell unterstützten.
João Bezerra da Silva, ein junger Offizier aus Pernambuco, im gleichen Alter wie der Räuber, entwickelte sich zu seinem Erzfeind – nach mehreren Zusammenstössen, die jedes Mal mit der Niederlage und dem Rückzug der Soldaten endeten, überrascht seine Soldateska Lampião, seine Geliebte Maria Bonita und noch neun andere seiner Bande in einem Hinterhalt bei Angico, im Bundesstaat Sergipe, am 28. Juli 1938 – nach einem nur etwa 15 Minuten dauernden Gefecht waren alle Räuber tot. Dies war die von Bezerra offiziell verbreitete Version – aber es war ganz anders. (Lesen Sie, was die Historiker über die Saga des Lampião herausgefunden haben). Die Soldaten schnitten den Leichen die Köpfe ab und stellten sie später, zusammen mit ihren Kleidungsstücken und ihrer Bewaffnung, öffentlich zur Besichtigung aus.
Lampião wird heute noch verehrt und gehasst – mit derselben Intensität! Und sein Andenken lebt in der Fantasie des Volkes weiter. Mehr als 60 Jahre nach seinem Tod ist er zum Märtyrer einer von Reichtum und politischer Macht dirigierten Ära und ihres korrupten Polizeiapparats geworden, unter dem auch das einfache Volk Furchtbares erdulden musste – und deshalb verstanden sie ihn. Sein heutiger Einfluss auf die Kunst, Musik, Malerei, Literatur und das Kino ist schlicht beeindruckend. Der brasilianische Film „O Cangaceiro“, der einen Ausschnitt aus dem nordöstlichen Cangaço beleuchtet, wurde auch in den europäischen Kinos gezeigt.
WIE ES BEGANN
Schon die historischen Aufzeichnungen über die genaue Geburt des illustren Räubers gehen auseinander – eigentlich nicht verwunderlich in einer Gegend, in der es noch heute schwierig ist, ein neugeborenes Kind zu registrieren, denn entsprechende Gemeindezentren und Amtsstuben verlangen von den Eltern einen oft tagelangen Kräfte zehrenden Fussmarsch durch den trockenen Sertão. Was Wunder also, dass man sich mit dem Geburtsregister Zeit gelassen hat: die verschiedenen angenommenen Daten seiner Geburt differieren bis zu einem ganzen Jahr.
Der kleine Virgulino war der zweite Sohn von José Ferreira da Silva und seiner Frau Maria Lopes dos Santos. Die beiden hatten insgesamt neun Kinder – fünf Knaben und vier Mädchen. Der alte José Ferreira arbeitete als fliegender Händler in der Umgegend – verkaufte den Nachbarn allerlei notwendige Utensilien, die er mit einem Trupp Esel transportierte. Die Jungen halfen dem Vater bei seinem Geschäft, während die Mädchen zuhause der Mutter zur Hand gingen und sich im Herstellen von Klöppelspitze übten. Die Familie besass auch ein paar Haustiere, Ziegen und Kühe, die sich selbst ihr Futter in der Weite der kargen Caatinga suchen mussten. Ab und an wurde eins der Tiere geschlachtet – dann war es Aufgabe der Söhne, es einzufangen. Dieses Training im Umgang mit den halbwilden Rindern und seine Erfahrung mit der Buschwildnis der Caatinga, machten aus Virgulino bald einen tüchtigen und viel bewunderten Vaqueiro – einen Cowboy des Nordostens. Ausserdem verstand er es wie kein anderer, halbwilde Pferde zuzureiten – er war so geschickt, dass man ihn sogar als Zureiter auf Fazendas in der Nachbarschaft verpflichtete.
Das Leben seiner Familie verlief vorläufig ohne nennenswerte Zwischenfälle, und ihrer aller Arbeit war die Grundlage einer sehr bescheidenen Existenz. Das Studium der Kinder, auch in Anbetracht der vielen notwendigen Arbeiten und des Mangels einer Schule in ihrer Gegend, wurde vorläufig nicht als relevant angesehen. Allerdings, im Alter zwischen sieben und zehn Jahren, lernte der kleine Virgulino ein bisschen Lesen und Schreiben in der Schule von Domingos Soriano und Justino Nenéu – beides Lehrer aus Nazaré, einem Flecken in der weiteren Umgebung des Elternhauses. Virgulinos Geduld mit der Schule währte jedoch nicht länger als drei Monate. Man erzählt sich, dass er damals zu einem seiner Onkel, Mané Lopes, gesagt haben soll: „Um Vaqueiro zu sein genügt, was ich kann“! Und das war es, was er unbedingt werden wollte.
An die elterliche Fazenda Passagem das Pedras grenzte ein anderer Besitz, die Fazenda Pedreira des reichen und politisch engagierten Saturnino Alves de Barros. Dieser hatte zwei Söhne und einer von ihnen, José Alves de Barros, den man in der Gegend nur „Saturnino das Pedreiras“ nannte, gilt als eigentlicher Urheber der ganzen Intrige, die drei der Söhne der Familie Ferreira dazu trieb, sich dem „Cangaço“ (Räuberleben) anzuschliessen und das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen: Virgulino, Antônio und Livino. Neid, politische Gegnerschaft, Ignoranz und der Verdacht des Viehdiebstahls waren die zündenden Funken zwischen den beiden Familien, welche vorher sogar durch Einheirat und Patenschaften miteinander verbunden gewesen – sie brachten ein Pulverfass zur Explosion, das den gesamten Sertão der 20er Jahre in ein blutiges Schlachtfeld verwandelte.