Die staatliche Organisation zum Schutz und zur Wahrung der Rechte indigener Volksgruppen, die “Fundação Nacional do Índio“ (FUNAI), hatte in 46 Jahren 34 Präsidenten an ihrer Spitze – wir veröffentlichen Ergebnisse aus Interviews mit den letzten sechs. Sie alle bezeichnen übertriebenen Entwicklungseifer und Rassismus als die zentralen Probleme.
Seit Juni des Jahres 2013 hat die FUNAI keinen offiziellen Präsidenten mehr. Die Rechtsanwältin Maria Augusta Boulitreau Assirati übernahm das Amt im Juni ersatzweise, nach dem ihre Vorgängerin Marta Azevedo ausgeschieden war. Und in dieser Situation erlebt die FUNAI die grösste Krise ihrer Geschichte. In verschiedenen Städten des Landes kämpfen indigene Völker zur Verteidigung ihrer Rechte, es ist die grösste Mobilmachung seit Einführung der Verfassung. Dazu aufgerufen hat die “Articulação dos Povos Indígenas do Brasil“ (Apib) und unterstützt wird sie von verschiedenen Organisationen der zivilen Gesellschaft. Zwei legislative Massnahmen stehen im Mittelpunkt des Protestes: die PEC 215, eine Gesetzesänderung, welche die Macht der Demarkation von Indio-Territorien an die Legislative überträgt – und die PEC 227, die den Indios die exklusive Nutzung ihrer Territorien entzieht. Die PEC 215 in der Praxis, bedeutet das Ende der FUNAI, zumal der grösste Beitrag der FUNAI genau darin besteht, die Indio-Territorien zu demarkieren und zu schützen. Was bliebe, wären verschiedene Hilfeleistungen für die Indios, zusammen mit anderen Organen der Regierung, aber ohne jedwede territoriale Macht. Die Indios, in geschlossener Formation, verteidigen die FUNAI und ihre Verstärkung.
Die “Fundação Nacional do Índio“ wurde 1967, während der Militärdiktatur, gegründet, um den “Serviço de Proteção ao Índio“ (SPI) zu ersetzen, ein Regierungsorgan, welches von Marechal Cândido Rondon 1910 gegründet worden war. Es handelt sich also um eine jahrhundertealte Institution, eine der ältesten des nationalen politischen Systems. Das Ende des SPI nahte nach einer Veröffentlichung von Skandalen, darunter auch das “Relatório Figueiredo“, erst kürzlich im “Museu do ìndio“ wiederentdeckt. Unter anderen Absurditäten steht dort, dass man die “Indios in die nationale Gesellschaft integrieren“ sollte, und sie “desindigenisieren“ müsse. Die FUNAI vertrat dagegen eine Position zur Verteidigung der Indios, mit einem besonders starken Engagement während der Repressionsperiode. Und sie bewies sich als ein effizientes Landvermessungs-Organ – nach der Föderativen Verfassung von 1988 demarkierte sie insgesamt 460 Indio-Territorien.
Die Zahl der Territorien, deren Demarkation noch immer offen ist, kann man nicht genau benennen, denn jedes einzelne Territorium hängt von der Anerkennung durch die entsprechende indigene Kommune ab. Nach Auskunft von Beto Ricardo, vom “Sozioambientalen Institut“, ist der gegenwärtigen Stand der Demarkation folgender: “Heute befinden sich 128 Indio-Territorien im Stadium der Identifizierung, 35 sind identifiziert und genehmigt durch die FUNAI – jedoch noch ohne Genehmigung vom Justizminister, und 66 sind vom Minister genehmigt aber noch nicht rechtskräftig. Insgesamt also 228 insgesamt“.
Von den 34 Präsidenten der FUNAI in 46 Jahren waren die letzten vier aus der Ära Lula und Dilma. Wir wollten wissen, warum das Problem der Demarkationen nicht gelöst werden konnte, während sie im Chefsessel sassen, und wie sie persönlich die gegenwärtige Situation beurteilen. Ganz allgemein ist zu bemerken, dass alle unisono den beschleunigten Entwicklungseifer und den Rassismus der nationalen Gesellschaft als problematisches Zentrum kritisieren. Sie weisen auch auf die allgemeine Unkenntnis hinsichtlich der indigenen Völker hin, auf Probleme der Erziehung und auf den Rassismus der Presse. Ein offener Weg der Intoleranz für jene, die nur daran interessiert sind, die Ressourcen der indigenen Territorien an sich zu reissen.
In ihrem ersten Interview, nachdem sie ihren Posten bereits verlassen hatte, sagte Marta Azevedo, Anthropologin und Demografin der Universität von Campinas (São Paulo), dass sie aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden sei – im Gegensatz zu dem, was die Bauern damals verbreiteten (es zirkulierten nämlich Gerüchte, dass der Bauernverband sie gestürzt habe), bezeichnete sie die Gewalt gegen die Indios als grösstes Problem, dem sie je gegenüber gestanden habe.: “Allein während meiner Amtszeit wurden sieben Indio-Führer der Guarani im Lauf von territorialen Konflikten ermordet! Und das hat mich krank gemacht! Wie kann so etwas in einer demokratischen Regierung geschehen?“
Marta, die zwischen April 2012 und Juni 2013 an der Spitze der FUNAI stand, als man während ihrer Amtsführung über die Kraftwerke am Rio Tapajós diskutierte, die sich noch im Prozess der Planung befanden, kommentierte damals: “Was da gegenwärtig geschieht, seit jenem neuen Ausbruch von Entwicklungseifer, mit dem man die Ressourcen der Natur unseres Teils des Planeten bis zur Erschöpfung ausbeuten will, genau dem stehen einige indigene Völker im Weg, weil sie auf Territorien leben, in und unter denen sich diese natürlichen Ressourcen befinden.“
Marta Azevedos Vorgänger war Márcio Meira, Präsident der FUNAI, der sich am längsten an der Spitze der Institution halten konnte (von April 2007 bis April 2012). Während seiner Amtsführung genehmigte die Regierung das polemische Kraftwerk Belo Monte, und das “Supremo Tribunal Federal“ (STF) – der Oberste Gerichtshof – entschied über den Fall “Raposa Serra do Sol“ (das letzte demarkierte grosse Indio-Territorium im Bundesstaat Roraima). Meira ist Anthropologe des “Museu Paraense Emílio Goeldi“ (Goeldi-Museum im Bundesstaat Pará).
Nach Aussage von Márcio Meira existiert eine “anti-indigene Welle”: “Seit einigen Jahren, als ich noch Präsident der FUNAI war, stand es für mich bereits fest, dass in der brasilianischen Gesellschaft eine anti-indigene Welle wieder aufleben würde, vor allem hervorgerufen von den Erben der alten Agrar-Eliten, die ihre jüngsten Provokationen auf dem Mittleren Westen und Amazonien richten. Dabei handelt es sich um Gerüchte, welche von jenen Sektoren der Wirtschaft und Gesellschaft ausgestreut werden (deren Produktionskette sich weit über die landwirtschaftlichen Aktivitäten strictu sensu – im buchstäblichen Sinne – erstreckt) und von den Medien ad infinitum reproduziert werden: dass die Indios, deren zugeteilte Territorien “übertrieben gross“ seien, ein “Hindernis“ zur Entwicklung Brasiliens darstellten“.
Vor Meira war Mércio Gomes Chef der FUNAI, während seiner Amtszeit wurde das Projekt für die Wasserkraftwerke des Madeira-Komplexes verabschiedet. Ich beziehe mich in diesem Bericht auf die Kraftwerke der letzten drei Amtsperioden, weil sie ein deutliches Zeichen für den zunehmenden “Entwicklungseifer“ der gegenwärtigen Regierung sind. Gomes präsentiert eine andere Analyse, er zog eine schriftliche Stellungnahme vor, anstatt in einem Interview zu antworten. Er ist Anthropologe der Staatlichen Universität in Rio de Janeiro und äusserte sich wie folgt: “…es ist entsetzlich, die gegenwärtige anti-indigene Kampagne mitanzusehen und verfolgen zu müssen“. Er ist der Meinung, dass ihre Motive zum Teil folgendermassen zu erklären sind: “…das Agrar-Business bringt zur Zeit besonders hohe Gewinne und deshalb expandiert es in alle möglichen Regionen“, ohne ökologische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Grenzen. Und das erklärt auch den Grund der “Inkapazität der Regierung, gegen diese anti-indigene Welle vorzugehen“. Und er meint, “die Regierung weiss, dass sie die FUNAI nicht auflösen kann, denn das hiesse, die Indios der Gesetzgebung der jeweiligen Bundesstaaten zu überlassen, und das würde ein Desaster von katastrophalen Ausmassen provozieren.“
Der erste FUNAI-Präsident der Ära Lula war Eduardo Almeida, der sich nur ein Semester auf dem Chefsessel hielt – von Februar bis August 2003. Er glaubt, dass die Agrarproduzenten “nicht notwendigerweise oder ideologisch gegen die Indio-Bevölkerung eingestellt“ sind, das wäre eine Konstruktion der “Bancada Ruralista“ (Bauernverband). Das Problem: “die Idee eines grossartigen Brasiliens, kleingeistig und unangebracht in einer heutigen Welt mit soviel demokratischen und ambientalen Dringlichkeiten, in der eine rücksichtslose Entwicklungsgeilheit längst überholt ist und nur dazu dient, das Volk aufzuhetzen und unterbelichtete, linke Reaktionäre zu einen. Falls man solche und andere Initiativen durchgehen lässt, wird Brasilien in ein dunkles Loch sinken – und alles deutet darauf hin. Man sollte nicht vergessen, dass es zu absurden Spannungen kommen wird, mit nicht voraussehbaren Folgen, aber in jedem Fall keine guten.“
Márcio Santilli, einer der Gründer des “Instituto Socioambiental”, war Präsident der FUNAI während der Regierung von Fernando Henrique Cardoso – zwischen September 1995 und März 1996. Wie er glaubt, ist der Angriff auf die indigenen Rechte ein momentanes Strohfeuer: “Ziel der Unternehmer und Bauern ist die Aneignung von Ländereien unter dem Schutz der Regierung – egal, ob es sich dabei um Land der Indios, der Quilombos, um biologische Reserven, Niederlassungen der Agrarreform oder Privatbesitz handelt. Es ist ein Disput um das, was vom brasilianischen Territorium noch übrig ist, in der Absicht, die Grenzen der Agrarproduktion mittels Landbesetzung zu erweitern.“ Das Fundament der anti-indigenen Gewalt sei in der “Verzerrung der politischen Präsenz“ zu suchen.
Vergleichsweise hat niemand mehr Indio-Territorien demarkiert und rechtskräftig anerkannt, als der Ex-Präsident Fernando Collor de Mello. Es gibt unzählige Gründe, mit denen man diese Tatsache erklären kann, ohne dass Collor deshalb ein besonderes Fabel für die indigene Sache zugesprochen werden kann: Die Verfassung determinierte einen Zeitraum von fünf Jahren für die Demarkationen, und der internationale Druck jener Epoche der ECO 92 trug ebenfalls dazu bei, dass er versuchte, das Image Brasiliens im Ausland aufzupolieren. Natürlich demarkierte er zuerst die weniger konfliktbeladenen Territorien im Süden und im Südosten des Landes – obwohl die Demarkation fast aller indigenen Territorien eine harte, undankbare Aufgabe gewesen ist. Collor hatte den “Sertanista“ (Waldläufer) Sydney Possuelo zum Präsidenten der FUNAI ausgewählt, der dieses Amt zwischen Juli 1991 und Mai 1993 bekleidete.
Possuelo kritisiert die Regierung, weil sie sich in Übereinstimmung mit den anti-indigenen Interessen verhält. “Es gibt eine Konvergenz von Faktoren – viele davon traditionell anti-indigen – und mit allen stimmt die Regierung überein, aus Interesse oder Angst vor Konsequenzen. “Und die Situation tendiert dazu, noch schlimmer zu werden: “Ich betrachte diese Regierung (Dilma Rousseff) als eine der unheilvollsten in Bezug auf die indigenen Völker, seit Beginn der Ära Lula bis heute. Ihre Devise heisst: Entwicklung um jeden Preis – und der Indio ist immer noch das Hindernis“.