Xavante

Zuletzt bearbeitet: 3. März 2021

Die Xavante von Mato Grosso, die sich selbst als “A’we“ bezeichnen, bilden mit den Xerente von Tocantins die zentrale Gesellschaft der linguistischen Jê-Familie. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren Xavante und Xerente ein einziges grosses Volk (Akwe), das sich allen Befriedungsversuchen widersetzte und sich schliesslich vor der weissen Übermacht zurückzog – die Xavante wanderten ab zum Oberlauf des Rio das Mortes (Mato Grosso) und die Xerente verblieben am rechten Ufer des Rio Tocantins.

Xavante

Andere Namen: Akwe, A´uwe
Sprache: aus der linguistischen Familie Jê
Population: 22’256 (2019)
Region: Serra do Roncador, im Bundesstaat Mato Grosso
INHALTSVERZEICHNIS
Name und Sprache
Geschichte des Erstkontakts
Überlebenstechniken
Gesellschaftliche Organisation und Kosmologie
Politik
Gesundheit und Erziehung
Quellenangaben

Es gibt da allerdings eine Besonderheit, wodurch sich die Xavante nicht nur von ihren Brüdern, den Xerente, sondern von allen anderen Indianern Brasiliens unterscheiden: Sie haben den einzigen eingeborenen Ex-Abgeordneten des brasilianischen Parlaments hervorgebracht: MÁRIO JURUNA – den “Indianer mit dem Tonbandgerät“ – lesen Sie seine Biografie im BrasilienPortal!

XAVANTE
Xavante People, Brazil
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Xavante
a jaguar scaring me
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nach obenName und Sprache

Die Xerente nennen sich selbst “Akwe” und bilden mit den Xavante (die sich selbst “A’we” nennen) die zentrale Gesellschaft der linguistischen Familie Jê. Die “Xacriabá”, gegenwärtig in Minas Gerais ansässig und die “Acroá” (ausgerottet), gehören sprachlich und kulturell ebenfalls zu dieser Gruppe. Mit aller Wahrscheinlichkeit wurde ihnen der Terminus “Xerente” von Nicht-Indianern verliehen, um sie von den übrigen “Akwe” zu differenzieren, besonders von den Xavante.

Xerente und Xavante sprechen Dialekte derselben Sprache, die zu denen der Familie Jê gehört. Die Xerente haben sie in all ihrer Vitalität bewahrt. Kinder sprechen bis zum fünften Lebensjahr nur ihre eingeborene Muttersprache. Die Erwachsenen gebrauchen sie bei allen Gelegenheiten innerhalb des täglichen Lebens im Dorf. Wenn sie mit Nicht-Indianern reden, sprechen sie flüssig Portugiesisch.

nach obenGeschichte des Erstkontakts

Es gibt ein paar mündlich überlieferte Berichte der Indianer, nach denen die “Akwe” vor undenkbarer Zeit in der Nähe des Meeres gelebt haben sollen. Hingegen verlegen die ersten schriftlichen Dokumentationen den Erstkontakt zwischen den “Akwe” und nicht-indianischen Personen ins 17. Jahrhundert, als sich Jesuiten-Missionen und Kolonisatoren (Bandeirantes) dem brasilianischen Mittelwesten näherten.

Im 18. Jahrhundert, nach der Entdeckung von Goldminen, verdichtete sich die Kolonisation dereingeborenen Territorien, welche sich im Einzugsgebiet der damaligen “Capitania de Goiás” befanden. Zwischen 1750 und 1790 legte man die ersten Eingeborenen-Siedlungen an, die von der Krone finanziert wurden. Mit der “Befriedung” der diversen Indianerstämme in diesem Gebiet wollte man seine Öffnung für die wirtschaftlichen Interessen der Krone erreichen. Ein Teil der “Akwe” (Xavante, Xerente, Acroá, Xacriabá), sowie die Javaé und Karajá, unter anderen, liessen sich eine gewisse Zeit lang in diesen Siedlungen nieder (Duro, Formiga und Pedro III – auch bekannt unter dem Namen “Carretão”) – revoltierten aber schliesslich und flohen in weniger bevölkerte Gebiete, im Norden der Capitania.

Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts richtet die Provinzregierung Militär-Festungen in der Nordregion ein, die von Xavante und Xerente bewohnt war, in der Absicht, die Schiffahrt auf dem Rio Araguaia zu sichern. Der Widerstand der Indianer ging weiter, mit Attacken auf jenbe Festungen und auf Siedlungen von Nicht-Indianern. Deshalb trieb man neue Versuche voran, besonders die “Akwe” in Siedlungen unter Kontrolle zu bekommen – diesmal setzte man auf die Befriedungskunst der Kapuziner-Pater – hinter denen allerdings die Militärpräsenz der Regierung für Nachdruck sorgen sollte. In einer dieser Siedlungen, genannt “Teresa Cristina”, heute im Distrikt von “Tocantínia”, zählte Frei Raffael de Taggia (1851) mehr als 3.000 Xavante und Xerente. Nach der wahrscheinlichsten These geschah die definitive Trennung dieser beiden Akwe-Gruppen gegen Ende des 19. Jahrhunderts: die Xavante wanderten in den Cerrado von Mato Grosso aus – in der Nähe des Rio das Mortes – während die Xerente an den Ufern des Rio Tocantins verblieben.

Das 20. Jahrhundert brachte den Xerente grosse existenzielle Probleme mit der Invasion ihres restlichen Territoriums, das ihnen von ihrem traditionellen, ehemaligen Wohngebiet geblieben war, durch Landbesetzer und Viehzüchter. Der SPI (Serviço de Proteção aos Índios) errichtete erst im Jahr 1940 zwei Indianerschutz-Posten – nachdem die Regierung von Berichten des Ethnologen Curt Nimuendajú aufgescheucht worden war, in denen dieser die schrecklichen Lebensumstände der Xerente anprangerte. Zu dieser Zeit kam auch eine Baptisten-Mission in der Region an, welche bis zum heutigen Tag unter den Xerente wirkt. Dokumente, welche die Sorge der Regierung hinsichtlich einer Demarkation des Xerente-Gebiets ausdrücken, datieren vom Ende der 50er Jahre.

Endlich 1972, nach mehr als 200 Jahren eines bedrückten und konfliktreichen Zusammenlebens mit diversen nicht-indianischen Segmenten – die Tote auf beiden Seiten zur Folge hatten – gewannen die Xerente ihre erste bürokratische Schlacht mit einem demarkierten Territorium, das in den Analen der FUNAI als “Área Grande” (Grosses Areal) eingegangen ist. Weitere 20 Jahre mit grossen Anstrengungen waren nötig, bis ihnen der Zuspruch des zweiten Indianer-Territoriums “IT Funil” gelang.

nach obenÜberlebenstechniken

Die Xerente nutzten den Cerrado (Savanne) durch die Jagd und das Sammeln von wilden Früchten – mittels einer Feldbearbeitung rundeten sie ihr existenzielles Programm ab. Besonders die Weite ihres traditionellen Territoriums garantierte ihnen stets ein ausreichendes Angebot zur Erhaltung und Reproduktion ihrer Gesellschaft. Es ist nicht von ungefähr, dass die maskuline Identität der Xerente direkt mit “einem guten Jäger” und “guten Läufer” verbunden ist. Die Aktivitäten der Jagd, des Fischens und des Sammelns, wie auch die des Ackerbaus, sind verwoben mit den Kenntnissen, welche die Xerente hinsichtlich der Natur besitzen, ihren Kräften und ihren Grenzen.

Der Aktivitätenzyklus, welcher der Feldarbeit gewidmet ist, unterteilt sich in die Trockenperiode – von ihnen als “Sommer” bezeichnet – und die Regenperiode – den “Winter”. Die erste betrifft die Monate Mai bis September, und die zweite Oktober bis April. Die Felder befinden sich zum grössten Teil im Umkreis der Dörfer, in der Nähe von Bachläufen und Galeriewäldern. Eine andere Art von Feld wird am Ufer des Rio Tocantins angelegt, entlang der westlichen Grenze ihres Territoriums, über fast 12 km Länge. Der Prozess zur Bearbeitung der Mehrheit der Felder (Rodung, Abbrennen, Umgraben, Pflanzen und Ernten) wird vom Kollektiv einer bestimmten Wohngemeinschaft vorgenommen (Vater, unverheiratete Söhne, verheiratete Töchter und Schwiegersöhne), und in einigen Dörfern organisiert man grössere Felder, die von verschiedenen Wohngemeinschaften gemeinsambearbeitet werden. Im ersten Fall wird die Feldproduktion unter den Mitgliedern einer Wohngemeinschaft verteilt – im zweiten unter den Bewohnern des gesamten Dorfes.

Andere für die Ernährung wichtige Komponenten, wie Honig, Früchte und diverse Wurzeln, findet man durch Sammeln – eine wichtige Tätigkeit, mittels der man auch die Heilpflanzen aufspürt. Der Fisch, einst eine bedeutende Nahrungsquelle im Leben der Xerente, hat im Lauf der Jahre an Quantität in ihrem Wohngebiet gewaltige Einbussen hinnehmen müssen, Schuld daran sind die Auswirkungen grosser Industrieprojekte (Staudämme, Hydroelektrische Einrichtungen) am Rio Tocantins. Auch der Bestand jagdbarer Tiere ist konstant zurück gegangen, Schuld daran sind ist die zunehmende illegale Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch Nicht-Indianer.

Im Gegenzug haben haben sich die Xerente neue Einnahmequellen aufgebaut. Die Konfektion und der Verkauf von Kunsthandwerk – Körbe, Keulen, Pfeile und Bogen, Ketten etc. – sind, obwohl schlecht bezahlt von den regionalen Kunden, eine der bedeutendsten Aktivitäten der Gruppe, denn die benutzten Rohmaterialien (Buriti-Fasern, Samen vom Schneidgras, Stroh von Kokospalmen etc.) sind ihrer Gesamtbevölkerung leicht zugänglich. Einige Wohngemeinschaften bekommen auch finanzielle Mittel aus den Lohngeldern ihrer Mitglieder in einer Anstellung bei der FUNAI (als Bootspilot oder Posten-Helfer), beim Staat (als eingeborene Lehrer oder Sanitäter), oder aus einer Rente der älteren Mitglieder.

nach obenGesellschaftliche Organisation und Kosmologie

Studien der Jê-Völker weisen als ihre grundsätzliche Charakteristik das Zusammenspiel eines einfachen technologischen Systems – angepasst an die ambientalen Bedingungen – mit einem extrem komplexen kulturgesellschaftlichen System aus. Diese Systeme organisieren sich mittels eines strukturellen Dualismus, der sich in einer Vielfalt von “Hälften” in den Aktionen der Gesellschaft ausdrückt. Im Fall der Xerente erkennt man diesen Dualismus in ihren Ritualen, maskulinen Zeremonien, Namensgebung, Altersklassen, sportlichen Gruppierungen etc., die alle innerhalb von verwandtschaftlichen Beziehungen organisiert werden. Die Basis dieser Ordnung gründet auf zwei sozio-kosmologischen Hälften: “Doí” und “Wahirê” – assoziiert, in derselben Reihenfolge, mit Sonne und Mond, den mythologischen Helden und Gründern der Xerente-Gesellschaft. Auch der Jaguar (Huku) hat seinen Platz in der Xerente-Mythologie, er hat ihnen den Gebrauch des Feuers beigebracht.

Die “Hälfte” der “Doí” besteht aus den Clans Kuzaptedkwá („die Herren des Feuers“), Kbazitdkwá („die Herren der Baumwolle“) und Kritóitdkwa („die Herren des Spiels mit der gebratenen Kartoffel“ oder „Herren des Gummis“). Die andere « Hälfte » der « Wahirê » besteht aus den Clans der Krozaké, Kreprehí und Wahirê – letzterer trägt denselben Namen wie seine « Hälfte ». Diese beiden Hälften und ihre dazugehörigen Clans unterhalten miteinander ein Netz von gegenseitigen Verpflichtungen und Gegenleistungen. Beide Hälften mit ihren sechs Clans und den Linien, aus denen sie stammen, sind patrilinear, das heisst, ergänzen sich vom Vater auf den Sohn, vom Grossvater väterlicherseits auf den Enkel oder Urenkel. Jeder Xerente-Clan besitzt eine Anzahl von Eigennamen, welche von Geneation zu Generation weitergegeben werden, verantwortlich für die Identifikation und Unterscheidung der einzelnen Individuen innerhalb ihrer gesellschaftlichen Organisation.

Ein anderer fundmentaler Organismus zur Identifikation und Ortung der Xerente innerhalb ihres sozio-kulturellen Universums ist, auf eine weitläufigere Art, ihre Körperbemalung. Ihr liegen zwei basische Bildmotive zugrunde, welche diese Form der Identifikation bestimmen: die Linie, sie gibt an, dass die von ihr markierten Individuen einem der Wahirê-Clans angehören – und der Kreis, er bezeichnet den Träger als dem Doí-Clan zugehörig. Die Erwachsenen bemalen ihre Körper nur zu zeremoniellen Anlässen. Die Kinder dagegen, werden täglich bemalt. Bemalungen der Erwachsenen können mit den verschiedensten Sphären gesellschaftlicher und ritueller Organisation zusammenhängen: mit Altersklassen, zeremoniellen Parteien, sportlichen Wettkampfgruppen, Eheschliessungen, Beerdigungen etc. Die Grundfarben der Körperbemalung werden aus den folgenden Elementen gewonnen: Holzkohle gemischt mit Saft vom “Pau-de-leite” ergibt ein tiefes Blauschwarz, Samen der Urucum-Kapsel ergeben das Rot und Weiss wird mit Flaumfedern oder Baumwolle ergänzt. Vor der Bemalung werden die Körper mit Babaçu-Öl eingerieben (grundiert). Die Details – Kreis oder Linie – werden als “Stempel” aus dem Mark der Buriti-Palme angefertigt und dann in regelmässiger Folge auf die Haut gedrückt.

In ihren berühmten Wettläufen mit Buriti-Palmstämmen (schon beschrieben im Text über die “KRAHÔ”), mit denen die Xerente ebenfalls die Dualität ihrer Gesellschaft betonen, trägt der Vordermann jedes gegnerischen Teams – “Steromkwá” und “Htamhã” – das Stück eines Palmenstammes auf seinen Schultern – beschnitzt und bemalt mit Motiven und Mustern, die mit der Anaconda und der Schildkröte in Zusammenhang stehen. Eine der Aufgaben der Schamanen ist es, die von der Rinde befreiten Stämme zu bemalen und damit den Schutz der Waldgeister zu beschwören. Dieser Wettlauf gehört zu den bevorzugten Sportarten der Xerente-Männer und wird heutzutage nur noch von einem gemeinsamen Fussballspiel übertroffen – natürlich das Team der einen gegen das der anderen “Hälfte”.

Die Vision vom Kosmos der Xerente hängt direkt mit den verschiedenen Elementen zusammen, aus denen ihre Umwelt besteht. Mit den verschiedenen auf sie eindrängenden Prozessen der Evangelisation durch Missionare – Katholiken wie Protestanten – haben sie verschiedene Werte dieser Religionen aufgenommen oder angewendet, ohne jedoch von ihren eigenen abzurücken. Beweis dafür ist die aktive Teilnahme der Schamanen am gesellschaftlichen und politischen Leben der Gruppe.

Ausser drei besonders grossen Dörfern, die sich gegenwärtig auf mehr als 150 Bewohnern pro Dorf belaufen, bestehen die anderen Dörfer in der Regel aus zwischen 10 und 50 Personen. Die Regel der Wohngemeinschaft ist uxorilokal, das heisst, der Schwiegersohn wohnt im Dorf (oder dem residenziellen Segment) des Schwiegervaters. Im Allgemeinen machen die Xerente keine Einschränkungen bei interethnischen Verbindungen – zwischen nicht-indianischen Frauen und Xerente-Männern – aber sie genehmigen nur in Ausnahmefällen eine Verbindung des umgekehrten Typs. Alle Nicht-Indianer, die mit Xerente-Angehörigen verheiratet sind, werden im Netz der Verwandtschaft integriert und nehmen folglich auch am zeremoniellen und politischen System der Gruppe teil, innerhalb dessen ihnen Rechte und Pflichten gegenüber den Anderen erwachsen.

nach obenPolitik

Die politischen Relationen – sie drücken sich in Ritualen, in der Körperbemalung und, ganz besonders, in einem intensiven Parteigeist aus – gründen auf einer Reihe von Verpflichtungen und Rechten, welche von den verwandtschaftlichen Verbindungen bestimmt werden. Sie orientieren sich ebenfalls an Artikulationen der einzelnen Fraktionen mit diversen nicht-indianischen Vertretern, die in der Region anwesend sind (Conselho Indígena Missionário, Procuradoria da República, Governo do Estado, Prefeitura Municipal, FUNAI, Missão Batista, etc). Die Fraktionen der Xerente – Gruppierungen von Individuen (blutsverwandt und eingeheiratet), welche einen (oder mehr) ihrer Führer unterstützen – leben in kontinuierlichem Wettbewerb um die politische Herrschaft eines jeden einzelnen Dorfes, wie auch um die Kommunikation und Artikulation mit den nicht-indianischen Agenten. Eine solche Dynamik bringt Parteien hervor, lässt die Zahl der Dörfer und ihrer Führer anwachsen, und in Konsequenz dessen entstehen auch neue politische, soziale und zeremonielle Organisationen. Damit man sich ein Bild von diesem Dynamismus der Xerente machen kann: bis 1988 gab es neun Xerente-Dörfer. Heute sind es 33. Allerdings führen solche Veränderungen weder notwendigerweise zu einer Auflösung der verwandtschaftlichen Bande, noch bringen sie die interne Einheit der Gruppe in Gefahr. Die politischen Rollen des höchsten Respekts sind die des Häuptlings, des Schamanen und des Mitglieds des Ältestenrats (Wawes).

Neuartige Formen politischer Führung sind allerdings dabei, auch unter den Xerente eine respektable Stellung einzunehmen – wie zum Beispiel die Direktoren einer Vereinigung oder die Lehrer in einer Schule. Die Xerente haben auch einen istitutionellen Politiker hervorgebracht, einen Stadtverordneten in der “Câmara Municipal de Tocantínia”, während der Legislaturperiode von 1992 bis 1996. Ohne politische Erfahrung und durch lokalen anti-indianischen Druck, distanzierte sich der gewählte Stadtverordnete immer mehr von seinem eigenen Volk – welches anfing, seine diesbezügliche Initiative zu bereuen. Trotzdem, bei den Distriktswahlen 1996 fehlten nur ganz wenige Stimmen, um zwei Kandidaten der Xerente in die Stadtverordnetenversammlung von Tocantinia zu befördern. Die Xerente-Wähler, mehr als 600 (Männer und Frauen), sind von entscheidender Bedeutung in der lokalen Parteiszene. Es gibt Denunzierugen von seiten der eingeborenen Führung, dass der Wahlprozess (die Wahl selbst und vor allem die Auszählung) zum Nachteil der Indianer manipuliert wird. Und es gibt eine allgemeine Befürchtung unter den nicht-indianischen Bewohnern von Tocantinia – vorerst noch scherzhaft ausgedrückt – dass dieser Distrikt, eingeschlossen vom Indianer-Territorium der Xerente, sich zum “Ersten Indianischen Distrikt Brasiliens” entwickeln könnte.

Die erste direkte Erfahrung der Xerente mit der Bildung einer Eingeborenen-Organisation – der Gründung und Funktion der “Associação Indígena Xerente” (AIX), von 1992 bis 1995 – bekam die politische und wirtschaftliche Unterstützung der lokalen CIMI und die Partnerschaft einer NGO aus Luxemburg, der “Bridderlech Deelen”. Während ihres fast vierjährigen Bestehens führte die Organisation eine Reihe von wirtschaftlichen Projekten durch, welche sämtliche Dörfer einbezogen, eine Tatsache, welche zum ersten Mal den Anfang einer Autonomie der Xerente, gegenüber dem komplizierten Netz lokaler wirtschaftlicher und politischer Verbindungen, erkennen liess. Die Organisation schloss ihre Türen wieder Ende 1995. Verschiedene Xerente-Führer bestätigen, dass das Ende der AIX durch lokalen politischen Druck herbeigführt wurde. Ab 1998 gründeten die Xerente, jetzt schon ein bisschen erfahrener hinsichtlich einer solchen Form der Organisation, gleich drei neue Eingeborenen-Organisationen, wobei sie in einer jeden bestimmte Dörfer der jeweils näheren Umgebung als ihren Kern zusammenfassten – dabei beachteten sie politische, verwandtschaftliche, zeremonielle und räumliche Aspekte.

nach obenGesundheit und Erziehung

Die Xerente/Xavante präsentieren sich in einem derzeit überdurchschnittlich guten Gesundheitszustand, verglichen mit der so oft prekären Situation verschiedener anderer Eingeborenenvölker in Brasilien. Sie glänzen mit einer Geburtenrate von um die 4%, weit über dem nationalen Mittelwert. Krankheiten, wie Malaria und Gelbfieber, verantwortlich für einen drastischen Rückgang ihrer Bevölkerung in den 60er Jahren, sind gegenwärtig unter ausgerottet. Heutzutage kommen unter den Xerente Verminosen vor, Grippe, Desinterie, Bronchitis, Lungenentzündung, Rheumatismus, Conjuntivitis und Mandelentzündung. In den beiden Orten, welche von den Xerente am meisten besucht werden, Miracema und Tocantínia, gibt es Aufzeichnungen von AIDS-Fällen unter den Nicht-Indianern, eine Gefahr, die man mit Sorge beobachten muss, denn Flirts und interethnische Verbindungen sind häufig. Ein schweres Problem, welches in den meisten Fällen einen Teil der erwachsenen Xerente-Männer betrifft, ist die Alkoholsucht, die, ausser moralischen Schäden, den Organismus schwächt und ihn für Krankheiten empfänglicher macht. Medizinische Vorsorge und Assistenz wird den Indianern sowohl in ihren Dörfern als auch in den näheren Ortschaften gewährt. In den Dörfern agieren die eingeborenen Sanitäter, die eine entsprechende Ausbildung genossen haben – finanziert von einem Zusammenschluss zwischen FUNAI, Präfektur von Tocantinia und der Staatsregierung. In den Städten können die Xerente einen Posten des “Sistema Unificado de Saúde (SUS)” aufsuchen, eingerichtet von der Landesregierung, in Miracema steht ihnen das Hospital zur Verfügung und schliesslich noch das Ärzte-Team der FUNAI im “Casa do Índio” im Distrikt von Gurupi.

Die Xerente haben diverse Erziehungsversuche hinter sich: die Evangelisierung der Kapuziner (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) und der Dominikaner (in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts). Ihre Zweisprachigkeit wurde von den Baptisten-Missionaren gesponsert (ab der 50er Jahre). In jüngerer Zeit (80er Jahre) wurden ihnen verschiedene Gelegenheits-Unterstützungen von Seiten unterschiedlicher nicht-indianischer Organisationen angeboten – von den Missionaren des CIMI, der FUNAI, Anthropologen, der Regierung von Tocantins, der Universidade Federal de Goiás). Der formelle Schulunterricht in den Dörfern, abgehalten von zirka 30 eingeborenen Lehrern beider Geschlechter (einer in fast jedem Dorf), beschränkt sich allerdings auf die 1. bis 4. Klasse der Grundschule. Danach wird eine Fortführung des Unterrichts etwas schwieriger, wegen des Transports und der Anpassung an die Anforderungen der nicht-indianischen Schulen, die sich mit gymnasialen Graden in Miracema und Tocantinia befinden. Trotz solcher Probleme ist es einigen Xerente gelungen, einen Gymnasialabschluss zu machen – auch technische Kurse mit dem Ingenieur abzuschliessen oder in Unternehmensführung oder Buchhaltung abzuschliessen. Eine weitere Möglichkeitist die Landwirtschaftsschule in einem Internat in Catalão (Bundesstaat Goiás). Gegenwärtig befinden sich zwei Xerente in staatlichen Fakultäten, sie studieren Agraringenieur und Betriebswirtschaft.

nach obenQuellenangaben

Dieser Text ist teilweise eine Synthese aus diversen Untersuchungen der Xerente während unseres Jahrhunderts. Die umfassendsten Mono- und Ethnografien über dieses Volk stammen vom Autor Curt Nimuendajú (30er Jahre) und von Agenor Farias (80er Jahre). Die Forschungen des englischen Anthropologen David Maybury-Lewis (1956, 1963 und 1984) konzentrieren sich auf das Studium der politischen Relationen und ihre Artikulation gegenüber der gesellschaftlichen Struktur der Gruppe – sie finden sich publiziert in der Magazinreihe “Dialectical Societies” (1979). In seinem Buch “The Savage and the Innocent” (1984) präsentiert derselbe Autor einen persönlichen Bericht seiner Erfahrungen mit der Feldforschung bei Xerente und Xavante, in einer Ausdrucksweise, die auch für den ethnografischen Laien gut lesbar ist. Der Artikel “Pintura corporal e sociedade, os partidos Xerente“ (1992) von Aracy Lopes da Silva und Agenor Farias, präsentiert, wie es der Titel verheisst, die Bedeutung des Gebrauchs der Körperbemalung innerhalb verschiedener Zusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens der Xerente – ausserdem in Kurzform die wichtigsten Thesen aus den Arbeiten von Curt Nimuendajú, David Maybury-Lewis und Agenor Farias. In jüngerer Zeit hat Suzana Guimarães (1996) eine Analyse über den Gebrauch der Schrift und die mündliche Überlieferung bei den Xerente in ihrer Doktorarbeit veröffentlicht.

Es gibt ausserdem noch eine vielfältige Dokumentation über diverse Sachgebiete, die dieses Volk betreffen (Berichte über ökologische Themen, juristische Prozesse, anthropologische Abhandlungen, Artikel von Zeitungen und Magazinen etc.), die man bei der “Administração Regional da FUNAI do Tocantins” – bei der “Procuradoria Regional da República (Bundesstaat Tocantins) und der “CIMI Regional” finden kann. Neben dem Autor dieses Textes sind zwei andere Studenten der “Universidade de Brasília” derzeit mit Untersuchungen bei den Xerente befasst.

© Luís Roberto de Paula, Doktorant in Anthropologie
Universität von Sao Paulo,
Forscher der MARI, “Grupo de Educação Indígena”, August 1999
Deutsche Übersetzung/Bearbeitung, Klaus D. Günther
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