Celso ist einer der sechs Angestellten unserer Wohnmaschine, einem Wolkenkratzer aus Zement und Glas an der Peripherie des Stadtzentrums von Rio de Janeiro. Eines Tages, als er wie üblich sehr früh zu seinem Arbeitsplatz strebte, bemerkte er einen schwarzen Hund, der an seiner Seite trottete. Er nahm an, dass es sich nur um eine Zufallsbegegnung handelte, und der Hund sicher bald einen anderen Weg einschlagen würde.
Celso folgte seiner alltäglichen Route, bog um die Ecke an der Rua do Passeio, überquerte eine verkehrsreiche Kreuzung und ging dann die schmuddelige Rua da Lapa hinauf bis zu ihrem Ende – die “Zufallsbegegnung“ wich nicht von seiner Seite.
Als er unser Gebäude erreichte, öffnete Celso das schmiedeeiserne Tor zum Vorgarten – in diesem Moment, schneller als der Wind, der vom Meer her wehte, witschte jener schwarze Hund durch das Tor und machte es sich, ohne eingeladen worden zu sein, unter einem der in Blüte stehenden Büsche bequem. Das war nun kein Zufall mehr, sondern sah eher nach Absicht aus.
Celso ging seiner täglichen Routine nach – begab sich in den Umkleideraum der Portiers, wechselte seine Strassenkleidung gegen die Uniform, betätigte die Stechuhr und traf sich mit seinem Turnus-Kollegen Valério. Der Hund, ohne offizielle Anstellung, ohne sich beim Syndikus vorgestellt zu haben, folgte erneut unserem Celso auf Schritt und Tritt und leistete damit, gewissermassen, ebenfalls sein Arbeitspensum.
Unser “Prédio“ ist 23 Stockwerke hoch und hat insgesamt drei verschiedene Eingänge, welche von sechs Portiers in einem Turnus von jeweils 8 Stunden bewacht werden – jeweils zwei für jede Tür. An jenem Tag, zwischen 15:00 und 23:00 Uhr, gab es drei Portiers an der Tür zur Rua da Glória: Celso, Valério und die “Zufallsbegegnung“. Eine der Hausbewohnerinnen, Dona Elisabet, stets sehr aufmerksam alles beobachtend, was sich in und um unser Gebäude herum tat, bemerkte die Szene und fragte: “Nun, Celso, haben wir einen neuen Angestellten“?
Und als sie erfahren hatte, was sie unbedingt wissen musste, auch, dass der Hund noch keinen Namen habe, nahm sie es auf sich, das Tier zu taufen: “Also von jetzt ab nennen wir dich “Pretinho“ (Kleiner Schwarzer).
Der ganze Tag war herrlich gewesen und die heraufziehende Nacht belohnte die Bürger mit einem riesigen Silbermond. Es war eine Szene wie geschaffen für die Ankunft eines Engels – wohl ohne Flügel, das ist wahr, aber mit einem dicht behaarten Schwanz und statt Engelsgesang, einem recht melodischen Bellen. Und als Celsos Turnus rum war, folgte ihm der Hund nach Hause. Pretinho war nun nicht mehr arbeitslos, hatte ein Dach über dem Kopf und ein Heim gefunden.
Dieselbe Routine jenes Tages wiederholte sich in den folgenden Wochen. Pretinho war erschienen um zu bleiben. Im Lauf der Zeit lernten alle Bewohner unserer Wohnmaschine jenen sympathischen Strassenhund kennen, der sich inzwischen eines Luxuslebens ohne Grenzen erfreute. Und die Hausbewohner buhlten regelrecht um seine Gunst: der eine bereitete ihm das Mittagessen, der andere das Abendessen, manchmal bekam er auch eine Zwischenmahlzeit ausser der Reihe – es war kein Wunder, das unser Pretinho sehr bald ein enormes Übergewicht präsentierte – wobei er stets eine Mischung aus Gutmütigkeit und einem gewissen Stolz zur Schau trug.
Allerdings konnte er seine Rasse nicht verleugnen, wenn er eine Katze auch nur von ferne sah, war es mit seiner Gutmütigkeit vorbei – und in unserem Umfeld gab es mehrere. Eines Tages wurde ich selbst Zeuge einer solchen Verfolgungsjagd – es war ein gestreifter, riesiger Kater, der selbst leichter und agiler als der Hund, sein Heil in der Flucht suchte, über eine Leiter das niedrige Zinkdach der Garage im Vorgarten erkletterte und dann in einem Dreisprung hinter der Mauer eines Nachbargebäudes verschwand.
Pretinho wollte beweisen, dass er noch in Form war und schaffte die schmale Leiter aufs Dach der Garage, wo er ein paar vergebliche Sprünge in Richtung des längst Entflohenen machte – sich dann plötzlich aber seinem aussichtslosen Vorhaben bewusst wurde und mit einem belämmerten Gesichtsausdruck am Rand des Daches erschien – hätte er um Hilfe rufen können, dann war dies der Moment. Celso verstand ihn sofort und holte eine breitere Leiter herbei, mit der er unseren Helden schliesslich aus seiner beschämenden Situation befreite.
Von jenem Tag an überraschte uns Pretinho mit einer unerwarteten Entscheidung: Wenn der Turnus von Celso zuende war, ging er plötzlich nicht mehr mit ihm nach Hause, sondern zog es vor, im Vorgarten unseres Gebäudes zu bleiben. Jetzt gehörte er allen Bewohnern rund um die Uhr. Er pflegte sich neben das schmiedeeiserne Tor zu legen, und wenn er etwas nicht in Ordnung fand, gab er Alarm. Und weil er keine Pfeife hatte, wie unsere Nachtwächter, bellte er eben. Nun hatten wir einen Schutzengel, der keine Ferien verlangte, keine Überstunden bezahlt haben wollte und auch nicht streikte.
Manchmal war er an den Wochenenden plötzlich verschwunden; nahm sich auf eigene Kosten frei, und wenn er von solchen Eskapaden zurück war, bemerkten wir, dass er überall zerkratzt war, im Gesicht und am Bauch. Und sein müder Blick schien Traurigkeit und Schmerz zu vermitteln. Ob er sich wohl mit einer Katzenbande angelegt hatte, so fragte man sich.
Und dann erfuhren wir aus sicherer Quelle, das unser Pretinho gewissermassen ein Hunde-Don-Juan war – man hatte ihn mehrfach beobachtet, wie er seinen Sexualtrieb in den umliegende Strassen auslebte, und sich bei solchen Gelegenheiten auch hie und da mit wütenden Dobermännern und Pitbull-Terriern der Nachbarschaft auseinandersetzte, um seine Geliebte zu verteidigen.
Es war an einem sonnigen Montag, als unsere Dona Elisabet aus dem 12. Stock den Pretinho zu sich rief und ihm bedeutete, ihr seine Vorderpfoten hinzuhalten. Der Hund verstand sie und Elisabet brachte ihm bei, mit ihr zu tanzen. Zum Sound eines schönen Samba-Songs (Elisabet hat einen guten Musik-Geschmack) zeigte uns unser tierischer Portier eine weitere Nuance seiner facettenreichen Fähigkeiten.
Jetzt hatten wir einen Hund, einen Portier und Wächter, einen Galan und Tänzer – der von jenem Tag an, wann immer er einer Frau begegnete, ihnen sofort seine Vorderpfoten zum Tanz anbot. Sonderbar, dass er niemals mich oder einen anderen Mann unseres Gebäudes aufforderte – auch Celso nicht. Ist doch verrückt, nicht wahr? Vielleicht sollte ich mich den Worten eines unserer Minister anschliessen, der einmal in einem Fernseh-Interview erklärte: “Hunde sind eben auch Menschen“ – denn Pretinho bewies in gewissen Momenten eine so grosse Feinfühligkeit und Scharfsinn, die mir fast rational erschienen.
Man sagt in Brasilien, dass “es keine guten Dinge gibt, die ewig währen“ – leider hat sich dies an dem Tag bewahrheitet, an dem unser “Schutzengel“ wieder einmal völlig ramponiert nach einem seiner Wochenendabenteuer bei uns auf der Bildfläche erschienen war. Wir brachten ihn in eine Tierklinik, wo man uns mi zwei schlechten Nachrichten konfrontierte: Pretinho würde auf dem rechten Auge blind werden, und er war von einer unheilbaren Krankheit befallen. Nach seiner Rückkehr war er nicht mehr derselbe – obwohl es die Hausbewohner nicht an Zuwendung und Streicheleinheiten fehlen liessen, um ihm sein Leiden zu erleichtern.
Und weil es “keine zwei ohne drei“ gibt – einer der Lieblingssprüche eines angesehenen Radio-Journalisten von Rio – wurde Pretinho auch noch ganz in unserer Nähe von einem Auto angefahren. Jetzt ging das Schicksal mit dem armen Hund allerdings ein bisschen zu hart um.
Schon einige Zeit später, er hatte sich von diesem letzten Trauma wieder einigermassen erholt, trug aber jene Krankheit in sich, die seinem Leben ein baldiges Ende bereiten würde, da erschien Pretinho im Vorgarten in Begleitung einer reizenden, sympathischen, gefleckten Hündin. Noch bevor er sie den Bewohnern unseres Gebäudes hätte vorstellen können, war sie schon von Barbara, einem Kind von 13 Jahren, “Filet“ getauft worden – und das deshalb, weil die Kleine, ich meine das Mädchen Barbara, ein saftiges Filetsteak über alles schätzte. Die Logik? Nun, es gibt keine in diesem Fall – aber der Name kam an – und blieb.
Eine zeitlang konnte man die beiden durch unsere Strassen spazieren und patrouillieren sehen, ohne dass wir jemals herausfanden, ob sie nur gute Freunde waren oder etwa . . . aber das ist auch nicht so wichtig. Was wichtig ist, dass wir etwa drei Wochen darauf Pretinho vermissten. Ob das wieder so eine seiner bekannten Eskapaden war? Als er nach drei Tagen nicht erschienen war, wussten wir Bescheid – er war von uns gegangen im Dunkel einer mondlosen Nacht. Wochen gingen ins Land und mit ihnen eine merkwürdige Bedrücktheit der Hausbewohner, die einander bei jeder Begegnung fragten, ob jemand wohl den Pretinho irgendwo gesehen habe. Es blieb uns nur die Erinnerung an unser aller Freund – und die physische Präsenz von “Filet“.
Ob Pretinho es vorgezogen hatte, sich seinem Tod ausserhalb unseres Sichtkreises zu stellen – wir werden es nie erfahren. Ich weiss auch, dass es völlig absurd wäre zu glauben, dass er diese Entscheidung “bewusst“ getroffen hat – aber andererseits, was ist eigentlich absurder: ein Hund, der uns mit jenem “unbewussten Instinkt der Tiere“ eine Lektion in Rationalität erteilt – oder jene anderen Wesen, denen man zwar die Ratio zubilligt, die aber trotzdem wegen politischer Interessen, religiöser Motive oder einfach aus Machtgier Kriege anzetteln – und sich selbst von der Not und Bedürftigkeit hunderter Millionen anderer Menschenwesen (heute bereits ein Sechstel der Weltbevölkerung) nicht beeindrucken lassen, die von dem leben, was der Rest der Menschheit in die Abfallkübel wirft?
Pretinho hat tatsächlich existiert – und “Filet“ lebt immer noch im Vorgarten!