Offiziell erschien der Bossa Nova wie schon erwähnt an einem Tag im August 1958, als in den brasilianischen Plattenläden mit 78 Umdrehungen, und der Nummer 14.360 der Marke „ODEON“, die kleine Kompakte mit der Stimme von João Gilberto als Neuerscheinung ausgestellt wurde – mit den Titeln „Chega de Saudade“ und „Bim Bom“.
Einstimmig als Vater dieses neuen Musikstils anerkannt, hatte João Gilberto wenige Wochen zuvor die Sängerin Elizeth Cardoso bei zwei Titeln auf der Gitarre begleitet – für die ebenfalls neue LP „Canção do amor demais“ (exklusiv mit Kompositionen des neuen Doppels Tom & Vinicius), mit seinem berühmten Gitarrenspiel, synkopiert vom Schlagzeug. Stimme und Gitarre des in Juazeiro geborenen Bahianers präsentierten eine harmonische Revolution mit vielen disharmonischen Akkorden (ironisiert im Song „Desafinado“ von Tom Jobim und Newton Mendonça).
Der erdrückende Einfluss der nordamerikanischen Nachkriegskultur, kombiniert mit dem klassischen Impressionismus (Debussy, Ravel) und ein Nonkonformismus mit der aktuellen Situation der brasilianischen Musik, riefen unzufriedene Innovatoren auf den Plan, wie zum Beispiel die Gitarristen Garoto, Valzinho, Laurindo de Almeida, Luís Bonfá, den Akkordeonspieler João Donato und vor allem den Pianisten und Komponisten Johnny Alf. Einige von ihnen (auch Sängerinnen wie Nora Ney und Doris Monteiro) versammelten sich in hausgemachten Fan-Clubs, wo sie zusammen „Dick Farney & Frank Sinatra – Dick Haymes & Lucio Alves“ huldigten, ihre Mythen kultivierten und Veränderungen vorbereiteten.
Farney selbst wird eine vorbereitende Arbeit zugeschrieben mit seiner orchestralen Aufnahme (mit Arrangement von Radamés Gnattali – ebenfalls Modernist) des Samba-Songs „Copacabana“ (von João de Barro und Alberto Ribeiro) im Jahr 1946. Sein Rivale Lúcio Alves war Mitglied der Gruppe „Namorados da Lua“, eine der vielen Vokal-Gruppen, welche unter dem Einfluss der amerikanischen Artverwandten kühne harmonische Kombinationen in der MPB (Brasilianische Volksmusik) ausstreuten, die sich bereits in einer Phase der Modernisierung durch Autoren wie Dorival Caymmi (Marina, Nem Eu) und Tito Madi (Cansei de Ilusões, Não diga Não) befand. Der neue, von João Gilberto modellierte Bossa Nova stützte sich auf die musikalische Genialität des Komponisten Antônio Carlos Jobim (ehemaliger Schüler des deutschen Dodekaphonisten Hans Joachim Koellreuther), dem Autor der innovativen „Sinfonia do Rio de Janeiro“ (Arrangements von GnattalI) in der Mitte der 50er Jahre, sowie der provokanten Teresa da Praia (beide mit Billy Blanco) und auch auf die poetische Brillanz des erfahrenen Diplomaten Vinicius de Moraes (Partnerschaftsbeginn mit dem Stück „Orfeu da Conceição“ im Jahr 1956).
Der Sambalanço
Parallel zum Aufstieg des Bossa Nova eskalierte der „Sambalanço“ (Samba und Balance) in den Hitparaden, der es zwar nicht zu einer Bewegung brachte, aber doch dem alten, in den Häusern der „Tias Baianas“ zu Beginn des Jahrhunderts im Zentrum von Rio entstandenen Samba, ein bisschen mehr „Teleco-teco“ injizierte (wie man sich in jener Epoche auszudrücken pflegte). Einige Repräsentanten des Sektors waren: Elza Soares, Miltinho (der Vokalgruppe „Os Namorados“), Ed Lincoln (der im Nachtclub „Plaza“ spielte, einem weiteren Grundstein des Bossa Nova), Djalma Ferreira, Orlan Divo, Silvio Cesar, Luís Bandeira (Autor von „Apito no samba“), Pedrinho Rodrigues, Luis Reis, Haroldo Barbosa, Luis Antonio, Jadir de Castro und João Roberto Kelly.
Der Bossa Nova war vor allem eine Bewegung urbanen Notstands des Landes innerhalb der Entwicklungsphase der Präsidentschaft von Juscelino Kubitschek (1955-60), und sie konzentrierte sich in Rio de Janeiro auf Appartements der Südzone, wie das der zukünftigen Sängerin Nara Leão. Sie veranstaltete in Copacabana Meetings mit jungen Autoren und Musikern wie Carlos Lyra, Roberto Menescal, Ronaldo Bôscoli, Sérgio Ricardo und Chico Feitosa, und anderen. Die Shows der Gruppe begannen im Universitätsambiente (dies war die erste brasilianische Musikbewegung, die aus der Fakultät kam) und nahmen unzählige andere Innovatoren in sich auf. Von Durval Ferreira (Sambop, Batida Diferente) bis zur Vorläuferin Silvia Telles (der ebenfalls zugebilligt wird, einen Grundstein mit „Foi a Noite“, von Tom Jobim und Newton Mendonça 1957, gelegt zu haben), Leny Andrade und die ersten instrumentalen Formationen der neuen Tendenz, geführt von leuten wie Oscar Castro Neves (und seine Musiker-Brüder), Sérgio Mendes, Luis Carlos Vinhas, J.T. Meirelles, ausserdem das instrumental/vokale „Tamba Trio“ (Luis Eça, Bebeto, Hélcio Milito), eine Gruppe, die zusammen mit der „Bossa 3“ (Vinhas, Tião Netto, Edison Machado) ein wahres Gruppenbildungs-Fieber, bestehend aus Piano, Bass und Schlagzeug, auslöste. Es war ein Moment von instrumentaler Explosion mit dem Erscheinen von neuen Musikern wie Paulo Moura, Tenório Junior, Dom Um Romão, Milton Banana, Edson Maciel, Raul de Souza, und von Meister-Arrangeuren wie Moacyr Santos und Eumir Deodato.
Der Erfolg auf den Universitätsbühnen nahm der Bewegung nicht ihren Intimismus – sie begann nach Verstärkung zu suchen, indem sie so genannte „Pocket-Shows“ in den winzigen Bars des „Beco das Garrafas“ (Flaschengasse – so benannt nach den Flaschen, die von empörten Nachbarn wegen des nächtlichen Lärms aus den Fenstern geworfen wurden) in Copacabana veranstalteten. Erst von dort entpuppten sich dann, paradoxerweise, Künstler einer extrovertierten Phase des Bossa Nova, wie Elis Regina (choreografiert vom amerikanischen Tänzer Lennie Dale, der ebenfalls sang), Wilson Simonal und Jorge Ben (heute Ben Jor).
Paulistanische Filiale
Die Stadt São Paulo, die schon die verbannten Cariocas Johnny Alf, Claudette Soares und Alaíde Costa aufgenommen hatte, eröffnete eine Filiale der Bewegung mit instrumentalen Trios wie das „Zimbo-Trio“ – Sambalanço (aus dem Cesar Camargo Mariano und Airto Moreira hervorgingen), Jongo, Bossa Jazz, Manfredo Fest (Pianist, der in die USA abwanderte), dem Sänger Agostinho dos Santos, den Sängerinnen Maysa, Elsa Laranjeira und Ana Lúcia, der Komponistin Vera Brasil (Thema des „Boneco de Palha“), dem Gitarristen Paulo Nogueira, den Komponisten Walter Santos und Geraldo Vandré (der später den Protest „Menino das Laranjas“ seines zukünftigen Partners Théo de Barros lancieren würde) und dem Organisten Walter Wanderley, unter anderen.
Zusammen mit der ästhetischen Spaltung, welche die Dauer der orthodoxen Bossa-Phase auf die Periode 1958 bis 1965 begrenzte, unterbrach eine politische Abteilung die Bewegung, welche sich bereits in einem gestärkten Zustand befand durch eine vermittelnde Generation, bestehend aus Marcos Valle, Dori Caymmi, Edu Lobo, Francis Hime und Joyce. Das „Volkskultur-Zentrum“ der Nationalen Studentenunion stimulierte eine populäre und nationalistische Vision der brasilianischen Kultur, was zur Selbstkritik von Carlos Lyra, einer Säulen des Bossa Nova, führte („pobre samba meu/ foi se misturando/ se modernizando/ e se perdeu“ – „mein armer Samba / hast dich vermischt / dich modernisiert / und dich verloren“) – ausserdem zur Annäherung an die Komponisten des Morro, wie Zé Ketti, mit dem er den „Samba da Legalidade“ komponiert hatte (der sich auf den Versuch bezog, João Goularts Übernahme der Präsidentschaft zu verhindern – Vize des scheidenden Jânio Quadros).
In dieser Strömung, der sich auch Nara Leão mit ihrer ersten LP anschloss, auf der sie Sambistas wie Cartola, Elton Medeiros und Nelson Cavaquinho promovierte, sowie das Ass des Baião und des Xote aus dem Nordosten, João do Vale (Autor von „Caracará“), fanden sich noch andere Partner von Carlos Lyra, wie Nelson Lins e Barros, Geraldo Vandré („Aruanda“) und Sérgio Ricardo („Zelão“). In derselben Richtung (mit den Harmonien des Bossa Nova) jener ethnischen Wurzeln komponierten Vinicius de Moraes und der Gitarrist Baden Powell die Serie der Afro-Sambas („Berimbau, Canto de Ossanha“).
Ironie des Schicksals: Vinicius de Moraes, Partner von Tom Jobim bei der Komposition des grössten Klassikers des Bossa Nova, „Garota de Ipanema“ – 1963 aufgenommen von João Gilberto und seiner Frau Astrud, vom Saxofonisten des Cool Jazz Stan Getz über den gesamten Erdball verbreitet – zog auch zusammen mit Edu Lobo den Schlussstrich unter die Ära des Bossa Nova: „Arrastão“, eine Komposition dieser Beiden, gesungen von Elis Regina beim „I. Festival der Brasilianischen Volksmusik 1965“ – übertragen vom TV-Kanal Excelsior, lautete die Ära der etikettierten MPB (Música Popular Brasileira) ein. Die diffuse Herrschaft jenes Konglomerats der Tendenzen sollte bis 1982 wären, als sie vom „Brasil-Rock“ mit der Explosion der Gruppe „Blitz“ verdrängt wurde.
Beständige Ästhetik
Nun bedeutete das chronologische Ende des Bossa Nova nicht auch seine ästhetische Exterminierung. Der Jazz, der den Bossa beeinflusst hatte, bekam die Antwort ab jenem aufsehenerregenden Erfolg der instrumentalen Version von „Desafinado“, gespielt vom Doppel Stan Getz (Sax) und Charlie Byrd (Gitarre) im Jahr 1982. Im gleichen Jahr stand eine Gruppe brasilianischer Musiker auf der Bühne der Carnegie Hall in New York, und von da an etablierten sich verschiedene Brasilianer dortselbst, wie Oscar Castro Neves, Sérgio Mendes, Luis Bonfá und Eumir Deodato. Einige der bedeutendsten Kompositionen des Bossa Nova wurden neu aufgenommen von Assen wie Ella Fitzgerald, Miles Davis, Sarah Vaughan, Herbie Mann, Charlie Byrd, Oscar Peterson, Bill Evans, Coleman Hawkins, Cannonball Adderley, Gerry Mulligan und unzählige andere. Und mit dem Erscheinen neuer Jazzer-Generationen, zeigten sich viele der so genannten „Young Lions“ dem Bossa-Stil gegenüber aufgeschlossen. Vorher, im Jahr 1967, demonstrierte der Bariton Frank Sinatra – die führende Stimme der ersten Bossa-Schritte (neben Chet Baker und dem Akkordeonspieler Joe Mooney) – seine Sympathie in einem Duett mit Tom Jobim auf einer LP. Gar nicht zu reden von jenen Freischützen, welche aus der Gunst der Stunde von der modischen amerikanischen Welle profitierten, um falsche Bossas zu verkaufen, wie zum Beispiel Eddie Gourmé (mit „Blame it on the Bossa Nova“), Ruby & The Romantics (mit „Our day will come“) und sogar ein unverkennbarer Elvis Presley mit der Rumba „Bossa Nova Baby“!
Zwei Jahrzehnte danach beeinflusste der Bossa Nova noch eine englische Post-Punk-Strömung mit dem „Beije Sound“ oder „New Bossa“ von Gruppen wie Style Council und Everything But the Girl. Der Bossa Nova hatte seine Reflexe im Brasil-Rock, von Lobão bis Cazuza („Faz parte do meu show“). Und weiter nach vorne, die Tanzpisten des „Acid Jazz“ und des elektronischen „Drum‘n’bass“ rehabilitierten den „Groove“ des Bossa indem sie ihn wiederentdeckten in João Donato und Marcos Valle bis zu Joyce und Edu Lobo.
Bedeutende Komponisten und Interpreten des Bossa Nova:
Alaíde Costa, Antônio Carlos Jobim, Astrud Gilberto, Baden Powell, Carlos Lyra, Claudette Soares, Danilo Caymmi, Elizeth Cardoso, Johnny Alf, João Donato, João Gilberto, Luís Bonfá, Luiz Eça, Marcos Valle, Maysa, Miúcha, Nara Leão, Newton Mendonça, Os Cariocas, Oscar Castro Neves, Roberto Menescal, Ronaldo Bôscoli, Sergio Mendes, Sylvia Telles, Stan Getz, Vinicius de Moraes, Zimbo Trio