Chaotische Zustände unter den Obdachlosen von São Paulo (Brasilien) zwingen die Behörden zum Überdenken ihrer Sozialhilfepolitik.
Niemand weiss genau, wie viele obdachlose Menschen in den Strassen der Metropole São Paulo ihr Leben fristen. Man spricht von 13.000, andere behaupten, es seien mindestens 20.000, und die Schätzung der Behörden bewegt sich um die 8.000. Eine offizielle Statistik gibt es jedoch nicht. Man weiss nur, dass es viele sind – zu viele. Sie liegen auf den Trottoirs im Zentrum und an der Peripherie herum, unter Viadukten und in den Stadtparks, schlafen und betteln auf öffentlichen Plätzen und verrichten auch ihre Notdurft dortselbst.
Durch völlige Vernachlässigung der Behörden hat sich die Situation derart zugespitzt, dass die Administration des Munizips, die Stadtpräfektur, ihre Abgeordneten und andere Volksvertreter nicht darum herumkommen, diese Misere neu zu diskutieren und nach neuen Lösungen des Problems zu suchen. Die munizipale Administration ist für ein neues System, welches die integrale Unterstützung dieser Bürger vorsieht, nicht nur ihre Aufnahme in Herbergen. Abgeordnete und Volksvertreter jedoch kritisieren dieses Modell und schieben die alleinige Verantwortung der Stadtpräfektur zu, die für die Zuspitzung des Problems verantwortlich sei.
“Die Präfektur hat immer nur abgebaut. Hat Hilfsprogramme gestrichen, hat Herbergen geschlossen, hat die Sozialhelfer von den Strassen genommen“ bestätigt Robson, ein Ex-Strassenbewohner und gegenwärtig Präsident der “Staatlichen Bewegung der Obdachlosen“ von São Paulo. “Man macht den Versuch, das Stadtzentrum zu säubern“, ergänzt er.
Ein im Stadtzentrum aufgestelltes Zelt soll die Antwort des Munizipalen Sozialhilfe-Sekretariats auf diese Kritiken sein. In diesem “Convivência Jardim da Vida“ (Unterkunft Garten des Lebens) genannten Zelt kann die Strassenbevölkerung Freizeitaktivitäten nachgehen und dem Netz der Sozialhilfe des Munizips São Paulo beitreten. Dort versuchen die Beamten der Präfektur auch, die Probleme jedes einzelnen Obdachlosen zu identifizieren und eine Lösung zu finden.
Ausserdem verteilen sie Hygieneartikel und bieten eine Benutzung der chemischen Toiletten von 8:00 bis 18:00 Uhr an. Nach Auskunft der Präfektur hat diese Initiative bereits Ergebnisse gezeitigt. Seit Eröffnung des Zeltes haben 221 Personen die Strasse verlassen, um medizinisch behandelt zu werden oder in die Gemeinschaft ihrer Angehörigen zurückzukehren.
Für einige Benutzer des “Unterkunftzentrums im Zelt“ müssten weitere Dienste der Behörde angeboten werden. “Es ist ein guter Ort. Man kann dort übernachten, es gibt Spiele und Kurse. Aber um mein Problem wirklich zu lösen, gibt es gar nichts“, sagt der 28-jährige Marcelo enttäuscht, während er auf den Anfang eines Films wartet, der dort gezeigt werden soll.
Die gegenwärtige Politik der Präfektur und die Situation der Obdachlosen São Paulos hat auch die Aufmerksamkeit jener Stadtverordneten geweckt, die in der “Frente Parlamentar para Políticas Públicas para População em Situação de Rua“ (Parlamentarische Front der Politik für die Strassenbevölkerung) engagiert sind, die im April gegründet wurde. Nach Auskunft von Chico Macena (PT – Arbeiterpartei), Präsident der “Front“, wurde eine Kommission gebildet, die fehlende Unterkünfte in Herbergen, Gewalt gegen Obdachlose und fehlende Unterstützung der Sozialhilfe untersuchen soll. Aber wie Macena berichtet, ist diese Kommission noch zu keinem Ergebnis gekommen und er kann auch keine Vorhersage machen, wann es soweit sein wird. Er gab jedoch zu, dass mit den bereits vorliegenden Erkenntnissen bewiesen sei, dass die Situation der Obdachlosen im gesamten Stadtgebiet äusserst kritisch ist.
Gewalt gehört zum Alltag der Obdachlosen von São Paulo
In der Nacht des 11. Mai 2013 wurden fünf Strassenbewohner ermordet, während sie in Jaçana, einem Stadteil im Norden São Paulos, schliefen. Nach Auskunft der Zivilpolizei wurden sie von zwei Personen erschossen, die auf einem Motorrad flüchteten und noch nicht identifiziert werden konnten.
Diese Gräueltat lässt die verantwortlichen Behörden aufhorchen und ist symptomatisch für die Gewalt, unter der jene zu leiden haben, die auf den Strassen São Paulos leben müssen. Obgleich dieser Mord in der Statistik einen Einzelfall darstellt, gehören Aggressionen, Misshandlungen und Drohungen zur täglichen Routine ihres Strassenlebens. Und wie die Obdachlosen bestätigen, sind die meisten Autoren dieser Gewalt die Sicherheitsbeauftragten.
Die in den letzten zwei Wochen von der “Agência Brasil“ interviewten Obdachlosen bestätigen, dass sie alle schon angegriffen wurden oder zumindest misshandelt, während sie durch die Stadtteile von São Paulo wanderten oder dort schliefen. Übereinstimmend sagten sie aus, dass die Militärpolizisten und die metropolitanen Zivilpolizisten zu den schlimmsten Aggressoren gehören. “Die Polizei behandelt uns wie lästige Tiere. Für die sind wir Abfall“, bestätigt auch die 29-jährige Katia. Seit fünf Jahren schläft sie auf dem “Praça da Sé“ mit ihrem Begleiter und der sechsjährigen Tochter. “Sie schleichen sich an und wecken uns mit Fusstritten und übergiessen uns mit Wasser“! “Ich hab’ Angst“, fügt der gleichaltrige Marcelo hinzu der seit 11 Jahren in Herbergen übernachtet. “Wenn ich das Auto von denen sehe, überquere ich die Strasse ohne weiter in ihre Richtung zu blicken, denn wenn man sie anschaut, fassen sie das als Provokation auf“, sagt er.
Atila Pinheiro, Koordinator der “Nationalen Bewegung der Obdachlosen“ bezeichnet die Situation der polizeilichen Gewalt gegen Obdachlose in São Paulo als “chaotisch“. “Wenn die Polizei doch weiss, dass 8.000 Personen in Herbergen existieren und weitere 8.000 keinen Platz mehr bekommen haben, warum dann auf jene einschlagen, die auf den Strassen unterkommen müssen?“ Pinheiro bestätigt, dass solche Aggressionen schon seit sehr langer Zeit zum Alltag gehören. Und er hebt hervor, dass sie zunehmend häufiger werden, erst recht nachdem die Präfektur von São Paulo die “Guarda Civil Metropolitana“ (GCM) Anfang April autorisiert hat, Obdachlose ohne Begleitung von Sozialhelfern aufzustöbern.
Die “Promotoria de Inclusão Social do Ministério Público de São Paulo” (MP-SP) hat ebenfalls im April eine zivile Untersuchung eingeleitet, welche die Aktionen der GCM in Bezug auf die Behandlung von Obdachlosen aufdecken soll. Der Promotor Eduardo Valério, verantwortlich für die Untersuchung, sagte, dass es Indizien für “Unregelmässigkeiten“ gäbe. “Die Strassenbewohner sind kein Fall für die Polizei sondern für die Sozialhilfe“, sagte er dazu. Die Präfektur informierte dazu schriftlich, dass die Untersuchung der GCM “eine bessere Behandlung der Personen in einer Risiko-Situation“ beabsichtigt. Ihrer Auffassung nach müssen Fälle von Gewaltanwendung seitens Mitglieder der Polizei denunziert werden.
Auch die PM (Militärpolizei) wünscht, dass die Bevölkerung Fälle von Aggressionen gegen Obdachlose durch Polizisten denunzieren. In einem Schreiben gab sie bekannt, dass sie “nicht mit Attitüden paktiert, die nicht auf den gesetzlichen Vorschriften basieren, und dass die Aktionen ihrer Polizei auf Regeln beruhen, die nur eine Intervention rein technischer Art erlauben“.
Für die Ladenbesitzer schädigen die Obdachlosen das Geschäft
Die Vernachlässigung der städtischen Versorgung ihrer obdachlosen Bevölkerung bringt einen Teil der Bürger, und vor allem die Ladenbesitzer von São Paulos Stadtteilen, gegen die Strassenbewohner auf. Der Umzug einer Obdachlosengruppe, die bisher unter dem Viadukt Plínio de Queiroz, am “Praça 14 Bis“, im Zentrum São Paulos, gehaust hatte, ist ein Beispiel. Wie die Ladenbesitzer berichten, liessen sich diese Obdachlosen an einem Ort nieder, wo sie den Fussgängerverkehr behinderten und den Verkauf beeinträchtigten. Die Aktionen der Militärpolizei (PM) und die Einrichtung eines Polizeipostens vor besagtem Viadukt, bewog die Gruppe zu diesem Umzug in eine benachbarte Strasse, direkt vor dem “Refektorium Penaforte Mendes“, mit dem die Präfektur von São Paulo eine Vereinbarung zur Ausgabe von 500 täglichen Mahlzeiten an Obdachlose der Region getroffen hat.
Aber dieser Umzug führte, nach Meinung der Geschäftsleute in dieser Strasse, zu noch grösseren Problemen. Die Ladenbesitzer wollen jetzt die Entfernung des besagten Refektoriums – zu diesem Zweck haben sie eine Unterschriften-Aktion gestartet, die der Präfektur zugestellt werden soll. Einer dieser unzufriedenen Geschäftsleute ist Besitzer eines Zeitungs-Kiosks neben dem Refektorium. Wie er sich äusserte, sei die Kundenbewegung am Kiosk deutlich gefallen, seit der PM-Posten installiert wurde und man mit der Verteilung der Obdachlosenmahlzeiten anfing. “Seit die PM ihre Basis am “Praça 14 Bis“ eingerichtet hat, vor einem Jahr, hat sich die Situation gewaltig verschlechtert“, sagt er, während wir die Obdachlosen beobachten, die in Eimern mit Wasser ihre Wäsche waschen, wenige Meter vor seinem Kiosk. “Das Refektorium muss weg von hier! Diese Leute können nicht einfach den ganzen Tag hier herumsitzen, essen und ihre Reste verstreuen!“
Joeliane, 36 Jahre alt, ist eine der Obdachlosen, die vor dem Refektorium anstehen. Wie sie berichtet, lebt sie auf der Strasse seit einem Jahr und sieben Monaten – sie mag nicht in eine Herberge gehen. “Ich habe die Herberge verlassen, weil sie dort meine Sachen geklaut haben“, erzählt sie. Und setzt hinzu, dass sie von dem Refektorium abhängig ist – eine Verlegung desselben würde sie vor ein grosses Problem stellen. “Hier im Zentrum hat man immer mal eine Möglichkeit, jemanden kennenzulernen, der einen anderen kennt, der vielleicht von einer Arbeitsmöglichkeit weiss“, erklärt sie uns in einem Gespräch während des Essens im Refektorium.
Der Koordinationshelfer des Refektoriums – Otávio – erklärt, dass trotz der Unzufriedenheit der Geschäftsleute dieser Platz offiziell zum Sammelpunkt und zur Unterstützung der Obdachlosen erklärt worden ist und eine Verlegung ausser Frage steht. Was die von den Obdachlosen gegenüber den Ladenbesitzern verursachten Umstände betrifft, so versichert Otávio, dass man diesbezüglich einige Regeln eingeführt hätte, um Probleme zu unterlaufen. “Wir versuchen, gewisse Regeln durchzusetzen, um die Ordnung aufrecht zu erhalten, aber das ist nicht leicht, hier sind die öffentlichen Ordnungshüter gefragt“.
Die öffentlichen Ordnungshüter, genauer die Polizei, lässt sich mit gewisser Regelmässigkeit vor Ort blicken, um den Strassenbewohnern ihre persönlichen Sachen wegzunehmen, aber die kommen stets wieder zurück, zum Entsetzen der Ladenbesitzer. Als wir die Präfektur von São Paulo befragten, bekamen wir keine Auskunft über jene Unterschriften-Kampagne der Geschäftsleute, und die PM antwortete auch nicht auf die Reportage über die Aktion an der “Praça 14 Bis“.
Das Profil der Obdachlosen setzt sich aus unterschiedlichen Menschen zusammen
Personen mit mentalen Störungen, von der Familie Verstossene, Einwanderer, Arbeitslose, Drogenabhängige, Ex-Knackies und sogar Arbeiter – das sind ein paar Beispiele für die Persönlichkeitsprofile jener Menschen, die auf der Strasse dahinvegetieren. Obgleich sie in der Regel als eine homogene Gruppe betrachtet werden, sind sie doch ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, denen nur eins gemeinsam ist – an den Regeln der Gesellschaft gescheitert zu sein. Und die Armut, die man im Allgemeinen als direkte Ursache für die Obdachlosigkeit vermutet, ist nicht in allen Fällen der eigentliche Grund. “Noch hat man über die Vielgestalt der einzelnen Fälle gar nicht nachgedacht. Jedoch wissen wir um die Tatsache, dass es Strassenbewohner gibt, die in der Lage sind, ein Haus zu haben, eine Arbeit auszuführen, aber sie schaffen es nicht“, bestätigt Atila Pinheiro, Koordinator der Nationalen Bewegung für Obdachlose.
Eine der wenigen existenten Untersuchungen dieses Teils der Bevölkerung wurde im Jahr 2007 vom “Ministerium für Soziale Entwicklung und Hungerbekämpfung“ durchgeführt. Mit dem Ergebnis, dass die Hauptgründe für ein Leben auf der Strasse folgende sind: Probleme mit Alkoholismus und Drogenabhängigkeit (35,5%), Arbeitslosigkeit (29,8%) und Zwistigkeiten mit Angehörigen (29,1%). Unter den Befragten zitierten 71,3% wenigstens einen dieser drei Gründe.
Alderon, Mitglied des “Interministerialen politischen Komitees für Obdachlose“, hebt hervor, dass eine Politik zur Bekämpfung des Problems die Realität jedes einzelnen Obdachlosenprofils berücksichtigen muss. Arbeitslose, zum Beispiel, brauchen eine andere Hilfe als Drogenabhängige. “Wir brauchen eine diversifizierte Öffentlichkeitsarbeit für die Strassenbevölkerung“, sagte er. „Wir müssen alle Bedürfnisse je nach Charakter bearbeiten. Es gibt einen grossen Teil unter diesen Strassenbewohnern, die kein anderes Problem haben als eine fehlende Wohnung“!
Die Untersuchung des Ministeriums zeigt ausserdem, dass ein grosser Teil der Befragten in ihrer Vergangenheit eine Internierung in Institutionen aufzuweisen hatte: 28,1% bestätigten, schon mal in einer Entziehungsanstalt für Drogensucht gewesen zu sein – 27% waren bereits in Herbergen untergekommen – 17% gaben zu, schon mal in einer Haftanstalt gesessen zu haben – 16,7% waren schon mal in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden – 15% stammten aus einem Waisenhaus – 12,2% waren in der “Febem“ (Haftanstalt für jugendliche Straftäter) inhaftiert gewesen.
Die Studie sagte auch aus, dass 45,8% der Befragten aus demselben Munizip stammten, in dem sie sich gegenwärtig befanden. Der Rest (54,2% vom Gesamt), stammte zu 56% aus Munizipien desselben Bundesstaates, in dem sie sich gegenwärtig befanden, und zu 44% aus urbanen Gebieten. Dies bedeutet, dass ein beträchtlicher Teil der Obdachlosen aus der lokalen Bevölkerung oder benachbarten Gebieten stammt, und nicht vom Inland in die Stadt gezogen ist.
“Das Profil des Strassenbewohners hat sich sehr verändert. Nach vor wenigen Jahren waren es Leute aus Minas Gerais, aus Rio Grande do Sul, aus Bahia und Pernambuco, alle auf der Suche nach einer Arbeitsstelle. Heutzutage hat der Obdachlose keine Qualifikation mehr, um einen Job zu bekommen“, sagt Robson, Präsident der “Staatlichen Bewegung der Obdachlosen“ in São Paulo.
Obdachlose leiden unter einer fehlenden Sozialpolitik im ganzen Land
Die Versäumnisse im Netz der Sozialpolitik für Obdachlose sind kein Einzelfall der Stadt São Paulo – die Verfehlungen der Präfektur von São Paulo sind die Verfehlungen eines ganzen Landes. “Ich kenne keine einzige brasilianische Stadt, von der ich sagen könnte, dass sie ein adäquates Versorgungssystem entwickelt hat“, bestätigt der Koordinator des “Interministerialen politischen Komitees für Obdachlose“, Ivair. Wie er sagt, gibt es in ganz Brasilien keine Stadt, der es gelingt, Gesundheits-, Arbeits- oder Wohnungsprogramme für Strassenbewohner durchzusetzen. Für ihn würde die Existenz einer Koordination zwischen den Programmen bereits einen Teil des Problems lösen.
Atila Pinheiro, Koordinator der “Nationalen Bewegung der Obdachlosen“ ratifiziert die Ansicht von Ivair. Er bestätigt auch, dass diverse Fälle von Gewalt und schlechter Behandlung von Obdachlosen ihm bereits berichtet worden sind von Personen, die auf den Strassen von Rio de Janeiro und Salvador leben. “Was Rio de Janeiro betrifft, so haben wir von Milizen gehört, von Gewalt seitens der Polizei und der so genannten “Choque de ordem“ (Ordnungs-Schocktruppe), sagt er, und zitiert damit die Politik der Präfektur von Rio, die vorsieht, die Stadt zu organisieren, indem man unter anderem den Obdachlosen untersagt, sich an öffentlichen Plätzen niederzulassen.
“In Salvador wird die Bevölkerung der Strasse in Herbergen eingeschlossen, die von der Militärpolizei (PM) geleitet werden. Die Obdachlosen betreten sie abends und dürfen dann erst morgens wieder raus“, bestätigt Alderon, der ebenfalls Mitglied des Interministerialen Komitees ist. Alderon verteidigt die Schaffung von munizipalen Gesetzen mit Direktricen zur Versorgung der Obdachlosen, um zu erreichen, dass die Programme von den Politikern ernster genommen werden und nicht, wie derzeit üblich, in ihren Händen nach Gutdünken verdreht werden können. Er weist allerdings darauf hin, dass Gesetze allein das Problem nicht lösen. “São Paulo hat eine spezifische Gesetzgebung hinsichtlich der Behandlung von Obdachlosen im Jahr 2002 verabschiedet“, hebt er hervor, “und hat trotzdem noch ernste Probleme zu lösen“.
Im Interview mit “Agência Brasil“ gab die Präfektur von Rio de Janeiro bekannt, dass die Stadt heute 4.800 Personen als Strassenbewohner registriert hat – die Hälfte davon in Herbergen untergebracht – und dass die Versorgungsprogramme für Strassenbewohner sowohl die Einweisung in Herbergen als auch eine Unterstützung für Emigranten beinhalteten, die ihnen helfen sollen, in ihre Heimatstädte zurückzukehren.
Die Präfektur von Salvador gab an, dass mehr als 2.000 Obdachlose in der Stadt leben, wo sie auf verschiedene Versorgungsprogramme zurückgreifen könnten, inklusive einer Finanzhilfe von 100 Reais (knapp 40 Euro) pro Monat für jeden registrierten Obdachlosen, aber sie ging nicht auf die Aussage von Alderon ein, bezüglich der Isolierung von Obdachlosen in Herbergen, die von den PMs geführt werden.
Arbeitslosigkeit ist eins der Probleme, die Menschen obdachlos werden lassen
Marcelo gehört heute zu einem Teil der Bevölkerung, die Tag für Tag eine Herberge aufsucht, um der Unsicherheit einer Nacht unter den Markisen eines Geschäfts oder den Bögen eines Viadukts zu entgehen. Er erinnert sich noch der Zeit, als er “gut verdiente“. Damals arbeitete er in einem Vegetarier-Restaurant in Pompeia, einem Nobelstadtteil von São Paulo. Er war Küchenhilfe und Aspirant auf den Platz des Kochs – und er hatte eine Wohnung. “Dann verloren wir Kundschaft und der Chef fing an, Kosten sparen zu wollen – und da war ich dran“, erzählt er.
Die Kündigung bekam er vor sechs Jahren, aber sie ist in Marcelos Erinnerung lebendig als das Ereignis, welches sein ganzes Leben veränderte. Der junge Mann von 28 Jahren, mit einem Mittelschulabschluss, der nicht drogenabhängig ist und es auch niemals war, fand sich auf der Strasse wieder. “Das Geld wurde immer weniger, die Situation wurde eng“, erzählt er. “Eines Tages wurde die Miete für mein Zimmer fällig und ich hatte nichts mehr, womit ich sie bezahlen konnte – ich musste raus.“
Seither lebt er in einer Herberge des Munizips. Er teilt das “Zimmer“ mit weiteren 259 Männern. In jeder neuen Woche erneuert sich auch seine Hoffnung. „Ich möchte einen Job. Mit einem Job bekomme ich auch eine Wohnung und alles andere.“
So wie Marcelo bestätigten viele weitere Obdachlose, die wir auf São Paulos Strassen interviewten, dass es ein Job ist, den sie am dringendsten brauchen, um aus dieser Situation herauszukommen. Obwohl eine Untersuchung von 2007 darauf hinweist, dass 70% dieser Leute einer Beschäftigung nachgehen, sei sie noch so prekär – was sie aber tatsächlich wollen, ist eine formelle Anstellung.
Für den Koordinator des Komitees Interministerial, Ivair, ist Arbeit die beste und dauerhafteste Lösung für die Obdachlosen von São Paulo und im ganzen Land. Obwohl er zustimmt, dass Gesundheits- und Wohnungsprogramme wichtig sind, ist es ein Arbeitsplatz, der diese Menschen definitiv von der Strasse wegbringt. Jedoch setzt das voraus, dass man entsprechende Bedingungen schafft, damit sie sich auch um eine Arbeitsstelle bewerben können.
Luiz Carlos, 44 Jahre, zum Beispiel, beschwert sich, dass er zur Arbeitssuche keine Zeit habe. Arbeitslos seit einundeinhalb Jahren, verbringt er mehr als die Hälfte des Tages vor der Tür einer Herberge im Zentrum der Stadt, um dort einen freien Schlafplatz zu ergattern. “Ich warte hier den ganzen Tag – wie kann ich also auf Jobsuche gehen“, sagt er. Für Joeliane, 36 Jahre, sind die fehlenden Dokumente das Problem. “Ich gehe gar nicht mehr auf Arbeitssuche. Solange ich meine Dokumente nicht habe, kommt nichts dabei raus“, sagt sie und erzählt, dass man ihr alle persönlichen Dokumente (Ausweis etc.) gestohlen habe, während sie auf der Strasse schlief.
Gleichgültigkeit gefährdet Gesundheit und Wiedereingliederung des Obdachlosen
Gemeint ist die Gleichgültigkeit der Bürger gegenüber den Obdachlosen. Diese Gleichgültigkeit der Menschen, die an ihm vorübergehen, beschreibt zum Beispiel Robson und sie stimmt ihn hoffnungslos. “Es ist traurig zu beobachten, wenn man auf dem Trottoir sitzt und nicht einmal die Hand nach einem Almosen ausstreckt, wie eine Person schon ein paar Meter vor mir die Strasse überquert, nur um nicht in mein Gesicht sehen zu müssen“, sagt er. Mendonça wohnte drei Jahre lang in Herbergen der Präfektur und weitere drei auf den Strassen von São Paulo. Er weiss genau, was die Gleichgültigkeit der Bürger in den Seelen der Obdachlosen anrichtet. “Das führt dazu, dass man nach einer Flucht aus der Realität sucht. Und das ist in vielen Fällen der Alkohol oder die Droge.“
Heute ist er Präsident der “Staatlichen Bewegung für Obdachlose“ in São Paulo. Ein Kämpfer, der mit Nachdruck auf Veränderungen in der Politik für die Obdachlosen drängt. Und er verlangt auch nach Veränderungen im Verhalten der Gesellschaft gegenüber den Obdachlosen, “die vorgibt, sie nicht zu sehen“, wenn sie in Strassenecken hocken oder auf öffentlichen Plätzen schlafen. “Oft möchte der Strassenbewohner nur mit jemandem reden. Er braucht nur ein paar freundliche Worte“, sagt Mendonça.
“Wir bitten um Antworten, aber die Menschen geben uns keine“, ergänzt Atila, selbst Obdachloser und Koordinator der nationalen Bewegung dieser Bevölkerungsgruppe. Atila war drogenabhängig und stimmt zu, dass die Gleichgültigkeit der Gesellschaft die Strassenbewohner immer weiter in die Suchtabhängigkeit treibt. “Man wird langsam paranoid. Niemand nimmt Notiz von dir – du irrst in den Strassen herum, erfindest eine nutzlose Routine und verlierst langsam den Verstand.“
Ohne einen stabilen Gesundheitszustand verschlimmert sich das Problem des Obdachlosen. Ausser einem Job und einer Wohnung, braucht er dann auch noch eine spezifische Behandlung für Drogenabhängige, um von der Strasse wegzukommen. Und diese Behandlung, so sagt Atila, ist unzureichend – was eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft praktisch unmöglich macht.