Der Proletarier

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Das Magazin VEJA brachte vor einiger Zeit sensationelle Fotos von (wie ein Engländer sagen würde) den “Belästigungen“ in Nordirland. Alle waren es wert, mit einem Preis ausgezeichnet zu werden, aber ein Bild hat mich ganz besonders beeindruckt. Auf ihm war nämlich die irische Version des Proletariers zu sehen.

Das ist eine Figur, die mich schon immer beschäftigt hat. Das Foto der VEJA zeigt einen englischen Soldaten – hinter der Säule eines Gebäudes auf dem Trottoir ausgestreckt, das Gesicht von einer Gasmaske verdeckt – der auf einen lokalen Revoluzzer zielt. Hinter ihm, in einen Torbogen geduckt, zwei oder drei seiner Kameraden – ebenfalls mit der gesamten Kriegsparafernalie bis an die Zähne gerüstet – warten offensichtlich gespannt auf eine Möglichkeit, in die Schiesserei eingreifen zu können. Überall quillt Rauch – ein Klima von Angst und Dramatik. Aber auf der Seite des Soldaten, der gerade schiesst, gleich im Vordergrund, steht der Proletarier. Er steht tatsächlich aufrecht und sieht sich mit unverhohlenem Interesse an, was da so abläuft – mit den Händen in den Hosentaschen und einem Päckchen unter dem Arm. Der Proletarier hat in einem Laden etwas gekauft, und auf dem Rückweg hat er eine Pause eingelegt, um sich den Krieg anzusehen.

Ich hab immer gedacht, das der Proletarier eine ausgesprochen brasilianische Figur sei. Bei unseren politischen “Belästigungen“, in einer Zeit in der es noch Politik in Brasilien gegeben hat, versäumte der Proletarier keine einzige! Die Zeitungen zeigten Panzer im Zentrum von Rio, beschützt von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett – und da war auch der Proletarier, mit seinem Päckchen unter dem Arm, der Fotograf hatte ihn beim Untersuchen einer Panzerkette abgelichtet. Schlägerei auf der Avenida: Polizisten rannten, Demonstranten flüchteten, alle Welt brachte sich in Deckung – nur nicht der Proletarier. Der sah zu.

Ich habe mir mal eine Cartoon-Serie vorgestellt, in denen der Proletarier auftritt bei der Entdeckung Brasiliens, der ersten Messe an Land, dem Schrei der Unabhängigkeit, der Proklamation der Republik . . . stets mit seinem Päckchen unter dem Arm. Und einem Sporthemd natürlich, über der Hose! (Der irische Proletarier trägt einen Anzug und Regenmantel, wegen der Kälte. Der tropische Proletarier ist populärer).

Man darf den Proletarier aber nicht mit den normalen Vorübergehenden verwechseln, die man auch als Passanten bezeichnet. Der Vorübergehende oder Passant  fängt schon mal eine verirrte Kugel ein – der Proletarier niemals. Der Passant wird auch schon mal irrtümlicherweise festgenommen – der Proletarier dagegen sieht bei dessen Festnahme zu. Nicht selten kompromittiert sich der Passant mit gewissen Geschehnissen – applaudiert einem illustren Besucher, zum Beispiel. Der Proletarier steht nur da, mit den Händen in den Hosentaschen, und fast immer interessieren ihn die jenen Auftritt begleitenden Motorräder mehr als die illustre Besucherfigur. Der Passant kann sich in einen momentanen Enthusiasmus hineinsteigern – durch ein Wahlversprechen oder ein Drama auf der Strasse – das ist der Moment in dem der Proletarier den Passanten interessiert ansieht.

Der Proletarier selbst hat keine Meinung zu den Geschehnissen. Wenn ein Radio- oder TV-Reporter sich entschliesst, einen Proletarier auf der Strasse zu interviewen, dann ist das stets ein Fehlschlag. Einen Proletarier interviewt man nicht – er ist das Individuum hinter dem Interviewten, jener, der in die Kamera schaut.

Der Proletarier verdient weder die Ehrungen, noch die Schmähungen, welche ihm die Presse angedeihen lässt! Jemand wird “durch Proletarier gerettet“, ein anderer “von Proletariern gelyncht“ . . . Irrtum. Wo eine Bande von Proletariern sich aufhält, gibt es keinen Proletarier! Der Proletarier ist anti-massiv! Seine einzige Tugend ist seine Singularität! Und eine gewisse unbewusste Skepsis hinsichtlich der Geschichte. Nicht etwa, dass der Proletarier die Macht und die grossen Entdeckungen der Menschheit nicht verdiente – er hat einfach eine fatale Neugier gegenüber dem oberflächlichsten Detail, ist unwiderstehlich fasziniert vom Unbedeutenden. Bei Revolutionen wird der Proletarier von der eigenartigen Lage eines Soldaten auf dem Trottoir angelockt, vom Mechanismus eines Panzers, der Optik einer Kamera.

Der Proletarier ist eine typisch städtische Figur. Hat keinen festen Wohnsitz. Sein natürliches Habitat ist die Peripherie der Geschehnisse. Und dies ist auch sein grösstes Mysterium, der Schlüssel zu seiner Existenz – niemand hat je herausgefunden, was in jenem Päckchen ist, das er unter dem Arm trägt. Und das ist noch nicht alles! An dem Tag, an dem sie einen Proletarier festnehmen, um sein Mysterium aufzudecken, wird alle Anstrengung umsonst sein – der wirkliche Proletarier wird hinter dem Festgenommenen stehen und zusehen.

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AutorIn: Klaus D. Günther

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