Música Sertaneja – die Musik des Sertão aus dem brasilianischen Interior. Der Name steht für eine Musik, welche ab der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts von städtischen und ländlichen Komponisten produziert wurde und vorher unter verschiedenen Bezeichnungen als “Modas – Toadas – Cateretês – Chulas – Emboladas und Batuques“ lief. Die “Sertanejo-Musik“ als solche entstand 1929, als Cornélio Pires, Forscher, Komponist, Schriftsteller und Humorist, anfing, so genannte “Causos“ (unterhaltsame Kurzgeschichten) sowie Fragmente von traditionellen “ländlichen Gesängen“ aufzunehmen – seine Erzählungen und die untermalende Musik stammten aus der “Kulturregion der Bauern“, welche das Interior des Bundesstaates São Paulo, den Norden und Westen des Bundesstaates Paraná, den Süden von Minas Gerais, den Südosten von Goiás und Mato Grosso umfasst.
Zur Zeit der Pionieraufnahmen von Cornélio Pires nannte man dieses Genre “Música Caipira“ (Bauernmusik), ihr Text bewunderte die romantische Schönheit der Landschaft oder die Lebensweise des Menschen im Interior im Gegensatz zum Leben der Stadtmenschen. Heute nennt man dieses Genre “Música Sertaneja Raíz“ (Wurzel der Sertanejo-Musik). Etwas erweitert kann man ebenfalls den “Baião“, den “Xaxado“ und eine Reihe weiterer Rhythmen des brasilianischen Inlandes im Norden und Nordosten als als “Música Sertaneja“ bezeichnen. Traditionell wird die Sertaneja-Musik von einem Duo interpretiert – in der Regel Tenöre – mit nasaler Stimme und unter akzentuiertem Einsatz eines typischen Falsetts.
Der vokale Stil hat sich relativ unverändert erhalten, während die Instrumentierung, Rhythmen und die melodische Umrandung nacheinander stilistische Elemente aufgenommen haben, welche von der Kulturindustrie ausgestreut worden sind. Anfangs war dieser besondere Musikstil von einer Reihe Duos propagiert worden, unter Begleitung von Gitarren und in vokalem Duett. Unter diesen Platten-Pionieren waren die ersten Stars: Zico Dias e Ferrinho, Laureano e Soares, Mandi e Sorocabinha, sowie Mariano e Caçula. Diese ersten Duos sangen in erster Linie jene so genannten “Modas de Viola“ – mit einer Thematik, die eng mit der zeitgenössischen Realität verknüpft war – so entstanden richtige Chroniken, wie zum Beispiel “A revolução de Getúlio Vargas“ (Die Revolution von Getúlio Vargas) – und “A morte de João Pessoa“ (Der Tod von João Pessoa), aufgenommen 1930 von Zico Dias e Ferrinho im Verlag der Victor – oder zum Beispiel “A Crise“ (Die Krise) und “A Carestia“ (Die Karestie), Modas auf der Gitarre, aufgenommen 1934 von Mandi e Sorocabinha im Verlag der Odeon. Im Lauf der Zeit fanden thematische Veränderungen statt, eine melodische Strukturierung und die Verwendung anderer Instrumente. Jene Veränderungen des Erscheinungsbildes und die Anpassung des thematischen Inhalts – vorher ländlich und jetzt städtisch – schufen den modernen Stil der romantischen Sertaneja-Musik, der sich in den 80er Jahren zum ersten Massen-Genre entwickelt – produziert und verkonsumiert in Brasilien.
Nach der Forscherin Marta Ulhôa kann man die Geschichte der Sertaneja-Musik in drei Phasen einteilen: Von 1929 bis 1944, als Bauernmusik oder Wurzel der Sertaneja-Musik – vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 60er Jahre, als in einer Wandlungsphase begriffen – und von Ende der 60er Jahre bis zur Gegenwart, als romantische Sertaneja-Musik. In der ersten Phase – so sagt dieselbe Forscherin, “interpretierten die Sänger “Modas“ mit der Gitarre und “Toadas“ – Songs mit vielen Strophen, welche, nach einer Einführung durch die Gitarre, sich mit dem Universum der Bauern beschäftigte, in einer epischen Ausdrucksform – oft satirisch-moralistisch und seltener amourös. Die Duette in parallel geführten Stimmen wurden von der “Viola Caipira“ begleitet, einem Instrument mit Doppelsaiten und verschiedenen Systemen zur Stimmung des Instruments. Später ging man dann auch auf die Gitarre über“.
Bahnbrechend für diese Tendenz waren unter anderen: Cornélio Pires und seine “Turma Caipira“, Alvarenga e Ranchinho, Torres e Florêncio, Tonico e Tinoco, Vieira e Vieirinha, Pena Brance e Xavantinho. Unter den Kompositionen, die sich in dieser Tendenz auszeichneten, sind unter anderen: “Jorginho do sertão“ von Cornélio Pires, „O bonde camarão“ von Cornélio Pires und Mariano, “Sertão do Laranjinha“ von Ariovaldo Pires und „Cabocla Tereza“ von Ariovaldo Pires und João Pacífico.
Nach dem Krieg führt man in der Sertaneja-Musik neue Instrumente ein, wie zum Beispiel die Harfe und das Akkordeon, neue Stile, wie die Duette mit unterschiedlichen Pausen, den Mariachi-Stil und ganz neue Genres – anfangs die “Guarânia“ und die Paraguayische Polka, später den “Corrido“ und den mexikanischen “Canção Ranchera“. In derselben Nachkriegsperiode erscheinen weitere neue Rhythmen, wie zum Beispiel der “Rasqueado“, eingeführt in Brasilien von Nhô Pai und Mário Zan, eine Musik in moderater Gangart, die etwa zwischen der Paraguay-Polka und der Guarânia rangiert. Desweiteren die “Moda Campeira“ und der “Pagode“ – dessen bedeutendster Repräsentant der Gitarrist Tião Carreiro aus Minas Gerais gewesen ist. Die Thematik wird im Lauf der Zeit zunehmend amouröser, behält allerdings einen autobiographischen Charakter bei. Die Künstler dieser Übergangsphase sind Cascatinha e Inhana, José Fortuna, der die Guarânia einführte, Luzinho, Limeira e Zezinha, Initiatoren der “Música Campeira“, Irmãs Galvão, Irmãs Castro, Sulino e Marrueiro, Palmeira e Biá. In den 70er Jahren systematisieren Milionário e José Rico die Anpassung von Elementen aus der mexikanischen Mariachi-Tradition – mit dem Einsatz von Geigen und Trompeten, um damit die Textpausen zu füllen.
Die moderne Phase der Sertaneja-Musik beginnt gegen Ende der 60er Jahre mit der Einführung der elektrischen Gitarre und dem so genannten “Ritmo Jovem“ (jungen Rhythmus) durch das Duo Leo Canhoto e Robertinho. Ein anderer Integrant, Sérgio Reis, beginnt mit Aufnahmen des traditionellen Sertanejo-Repertoires und trägt damit zu einer tieferen Durchdringung des Genres bei. Orte der Präsentation der Música-Sertaneja waren ursprünglich der Zirkus, einige Rodeio-Veranstaltungen und besonders die Radiosender auf Mittelwelle. In den 80er Jahren wird die Sertaneja-Musik UKW-reif und wird bereits in einigen TV-Sendungen vorgestellt – die ersten “Novelas“ schmücken sich mit Sertaneja-Untermalung.
Lassen wir zu dieser Modalität der “Música Sertaneja“ noch einmal Marta Ulhôa zu Wort kommen: “Die Sänger wechseln ab zwischen Soli und Duetts, mit denen sie Songs präsentieren – oft im Rhythmus einer Ballade – in denen es in erster Linie um die romantische Liebe geht, und zwar mit deutlicher urbaner Inspiration. Einige als “sertanejo“ klassifizierte Songs werden manchmal nur von Solisten interpretiert – man verzichtet auf das traditionelle Duo. Und das Arrangement dieser Kompositionen begreift Orchester-Instrumente mit ein – ausserdem hat man dem Genre da und dort auch eine rockige Basis verpasst. Die stilistische Einheit der Sertaneja-Musik wird durch den konsequent beibehaltenen typischen nasalen Gesangsstil bewahrt – aber auch durch ihre zeitgenössische Thematik, sei sie ländlich und episch in der “Música Sertaneja Raíz“, oder urban und individualistisch in der “Música Sertaneja Romântica“.
Die bedeutendsten Repräsentanten dieser neuen romantischen Tendenz der Sertaneja-Musik sind Chitãozinho e Xororó, Zezé Di Camargo e Luciano, Christian e Ralf, Trio Parada Dura, Chico Rei e Paraná, João Mineiro e Marciano, Nalva Aguiar, Gian e Giovani, Gilberto e Gilmar und Roberta Miranda. Aus diesem Stil hatten folgende Titel grossen Erfolg: “Fio de Cabelo“ (Haarsträhne), von Marciano e Darci Rossi – “Apartamento 37“ (Appartement 37), von Leo Canhoto – “Pense em mim“ (Denk an mich), von Douglas Maio – “Entre Tapas e Beijos“ (Zwischen Ohrfeigen und Küssen), von Nilton Lamas und Antônio Bueno – und “Evidências“ (Beweise), von José Augusto und Paulo Sérgio Valle.
Solche Veränderungen der Sertaneja-Musik haben viele Diskussionen entfacht – viele Forscher haben sogar eine Grenze gezogen zwischen “Música Sertaneja“ und der “Música Caipira“ – demnach ist erstere diejenige welche in den grossen Zentren von Nicht-Caipiras gemacht wird.