“Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“. Meine Brasilienreise unternehme ich diesmal nach der Fussball-WM und noch vor der Olympiade in Rio de Janeiro.
In diesem Jahr (2015) habe ich meinen Reisetermin auf November gelegt, dem Sommeranfang in Brasilien, und nach einem gewohnt eingeengten, aber sonst recht angenehmen Flug, befinde ich mich um 7:55 Uhr morgens wieder in jenem Einreise-Terminal von São Paulo – allerdings diesmal ohne die gewohnte, Geduld und Zeit raubende Menschenschlange, stattdessen konstatiere ich erstaunt die positive Veränderung: Eine Reihe von Abfertigungs-Kabinen, aus denen keine knurrigen, sondern freundliche Beamte die Einreisenden mit einem netten “Bom Dia“ begrüssen und die Passkontrolle in einem ungewohnten Eiltempo abwickeln. Auch die Zollabfertigung des Gepäcks geht ähnlich flott und unkompliziert vonstatten, dank entsprechender Hinweistafeln, die zweisprachig beschriftet und übersichtlich angebracht, die Besucher durch das Einreise-Reglement begleiten.
Mein erster Eindruck: Brasiliens gelungene Organisation der Fussballweltmeisterschaft hat auch bei der jetzt reibungslosen Abfertigung einreisender Besucher ihre Spuren hinterlassen. Erfreut und gespannt auf das, was sich mir ausserdem noch an Neuheiten bieten wird, reise ich weiter nach Rio de Janeiro, der Olympia-Metropole des Jahres 2016.
Verschiedene Medien des In- und Auslandes berichten neuerdings, dass Brasiliens Sicherheitsmassnahmen endlich Wirkung zeigen, andere prangern an, dass es noch vieles zu tun gäbe, bevor man sich, zum Beispiel auf São Paulos oder Rio de Janeiros Strassen, wirklich sicher fühlen kann. Diese Widersprüchlichkeit kann man vor Ort bald beobachten, und auch selbst zu spüren bekommen, wenn man sich nicht vorsieht.
An den von Touristen stark frequentierten Stränden – Leme, Copacabana, Ipanema und Leblon, zum Beispiel, oder andern sehenswerten Orten, wie dem Tijuca-Park, dem historischen Stadtteil Santa Teresa, dem Corcovado oder dem Zuckerhut – gehören patrouillierende uniformierte und zivile Polizeistreifen zum Strassenbild, während in den städtischen Randgebieten und in den Favelas die Gewalt alltäglich ist. Warnungen von Guides und Behörden sollte man deshalb ernst nehmen!
Aber selbst im Touristen-Stadtteil Copacabana sind Kleinkriminelle darauf bedacht, von ahnungslosen Besuchern mit allerlei Trickserei Geld zu erschleichen – zum Beispiel mit dem Senf-Trick, bei dem kleinere und grössere Jungs zusammenarbeiten: Vom ahnungslosen Passanten unbemerkt, platziert der eine aus einer Spritzflasche etwas Senf auf dessen Hose, ein paar Meter weiter macht ihn der zweite Junge in köstlichem Brasilenglisch auf den “Shit on your legs, Senhor“ aufmerksam und bietet ihm seine Hilfe an, den “Shit“ mit Seifenlauge und Bürste zu entfernen – wofür er dann ein Trinkgeld verlangt.
Gefährlich wird es, wenn man sich von dem “netten kleinen Helfer“ zum Strand komplimentieren lässt – wo dann ein zweiter (oft bewaffneter) Kollege auftaucht, und die Beiden ihr Opfer ausrauben. Also Vorsicht im Fall eines solchen Reinigungsangebots – am besten man reagiert überhaupt nicht – den Senf kann man anschliessend im Hotel selbst und sicher entfernen.
Seit meinem letzten Besuch in der Stadt am Zuckerhut, die von den Einheimischen ihre “Cidade Maravilhosa“ (die Zauberhafte) genannt wird, haben sich die Preise teilweise mehr als verdreifacht. Und davon sind Rios Bürger, die Cariocas, eigentlich in erster Linie betroffen, ihnen selbst ist es inzwischen kaum noch möglich, eine Wohnung in jenen “sicheren Stadtbezirken“ zu mieten oder gar zu kaufen. Im Supermarkt können sie inzwischen mit dem vom Haushaltsgeld für Lebensmittel zur Verfügung stehenden Betrag ihren Einkaufswagen nur noch zur Hälfte füllen. Die bevorstehende Olympiade, und die daraus resultierenden weiter ansteigenden Preise, verunsichern die Bürger zunehmend.
Für mich heisst es, nach vielen interessanten Eindrücken und offenen Gesprächen, Abschied nehmen von Rio de Janeiro. Aus meiner Erlebniswoche in der pulsierenden Metropole am Zuckerhut möchte ich an dieser Stelle zwei Tipps aus meiner persönlichen Erfahrung an alle Reiselustigen weitergeben, die einen Aufenthalt in Rio eingeplant haben:
1. Meiden Sie nach Möglichkeit den innerbrasilianischen Flughafen “Santos Dumont“! Von diesem Flughafen aus wird vor allem die Luftbrücke zwischen Rio und São Paulo (zum innerstädtischen Flughafen Congonhas), im 15-Minutentakt, durch verschiedene brasilianische Airlines bedient. Weil sich jedoch “Santos Dumont“ auf einer Landzunge und in unmittelbarer Nähe von Rios Innenstadt befindet und dort regelmässig durch schlechte Sichtverhältnisse beeinträchtigt wird, kann es Ihnen passieren, dass plötzlich sämtliche Flüge gestrichen werden – oder dass es zu längeren Wartezeiten kommt. Besonders ärgerlich, wenn Sie dadurch eventuelle Anschlussflüge verlieren. Mein Tipp: Fliegen Sie Rio grundsätzlich über den internationalen Airport “Tom Jobim“ (im Volksmund “Galeão“) an!
2. Mein zweiter Tipp betrifft die zur Wahl stehenden brasilianischen Airlines: Während zum Beispiel die “Azul Linhas Aéreas“ vorwiegend mit einer neuen Embraer-Flotte unterwegs ist – mit einer Navigationseinrichtung, die den Flug auch bei schlechter Sicht ermöglicht – bleiben die älteren Modelle der “TAM-Flotte“ unter solchen Bedingungen, aus Sicherheitsgründen, auf dem Boden. Für den Fall, dass Sie den Stadtflughafen “Santos Dumont“ anfliegen wollen, buchen Sie daher Ihren Flug bei “Azul“ oder bei “Gol“!
Da ich, noch ahnungslos, mit der TAM von “Santos Dumont“ nach São Paulo gebucht hatte, kam ich mit einer Verspätung von 7 Stunden (!) – mitten in der Nacht – dort an. Gott sei Dank kann man ein offizielles Taxi, vor dem Ausgang des Flughafens Congonhas, immer noch zu einem festen Preis buchen, wenn man den genauen Zielort angeben kann – bezahlt wird vor der Fahrt direkt beim Fahrer. Die Taxipreise sind inzwischen auch etwas höher: Für eine Fahrt vom Flughafen Congonhas zum Hotel an der Avenida Paulista sind rund 50.00 Reais fällig (zirka 15,00 CHF). Die Strecke vom internationalen Flughafen Guarulhos in die Innenstadt kostet 140.00 Reais (40.00 CHF).
Für die Bürger São Paulos ist ihre Stadt Inbegriff der Kultur, des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts, Zentrum des Konsums und der Lebensqualität – Besucher aus Europa fühlen sich dagegen, eingekeilt in kilometerlange Autoschlangen, die im Schritttempo von allen Himmelsrichtungen in den Smog dieser am schnellsten wachsenden Monsterstadt der Erde eindringen, eher wie im falschen Film – nun, die Geschmäcker sind verschieden, Fakt ist, dass São Paulo als wirtschaftlicher und kultureller Motor ganz Brasilien auf seinen Schultern trägt. Und der Bundesstaat São Paulo ist auch von seiner sehenswerten Natur her interessant, so wie die multikulturelle Vielfalt seiner Bewohner, die aus aller Herren Länder nach Brasilien kamen und mit ihrem speziellen Know-how diese Stadt zum grössten Industrie- und Wirtschaftszentrum Südamerikas entwickelt haben.
Es sind bewegende Geschichten, die ich bei meinen Begegnungen auf der Strasse, im Park, im Taxi oder einem Restaurant erlebe oder erzählt bekomme. Zum Beispiel die vom Taxifahrer João, der sich nach 45 Dienstjahren – nun im Alter von 78 – immer noch nicht zur Ruhe setzen kann – seine finanzielle Misere ist immer noch dergestalt, dass er weiter Taxi fahren muss, um zu überleben. Sein erstes Taxi, so erzählt er mir, war ein legendärer VW-Käfer, Ende der 1960er Jahre. Den hat er mehr als 25 Jahre lang gehegt und gepflegt – Tausende Kunden hat er mit dem Käfer befördert.
Heute kann er sich kein deutsches Auto mehr leisten, also ist er auf eine Marke aus Südkorea umgestiegen. Damals, so erzählt er weiter, konnte er mit seinem Verdienst neun Kinder grossziehen, und dass die meisten von ihnen studieren konnten, darauf ist er stolz. Inzwischen reicht es nicht einmal mehr, vom Taxifahren seine eigenen laufenden Rechnungen zu begleichen, obwohl er jeden Tag zwölf Stunden arbeitet , und die Kinder längst aus dem Haus sind. Besonders schlimm findet er, dass Respekt und Toleranz auf der Strasse nicht mehr existieren. Die Mitmenschen kümmern sich, von Ängsten und Existenzsorgen getrieben, nur noch um sich selbst – Kameradschaft, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Trost von einst sind passé.
Brasiliens grossstädtische Mittelschicht verliert zunehmend das Gleichgewicht. Manche schaffen den Sprung in die Liga der Neureichen, aber weitaus die meisten kämpfen inzwischen um ihre Existenz. So auch der Chemie-Professor Rinaldo, der in guten Zeiten drei Festanstellungen in zwei Städten bekleidete, während er heute von fünf verschiedenen Aushilfsjobs in vier Städten leben muss. Und das reicht gerade mal um seine Hypotheken weiter zu bezahlen und seine laufenden Kosten decken zu können. Zwar könnte er sich – in Anbetracht seines Alters – pensionieren lassen, kann aber dann von der zu erwartenden Rente nicht leben, also setzt er auf die Hoffnung, dass seine Kompetenz und Erfahrung noch einige Zeit gebraucht werden – wenigstens so lange, bis seine Hypotheken bezahlt sind.
Vor etwa 25 Jahren gab es im aufstrebenden São Paulo noch schicke, noble Stadtteile und schöne, saubere Strassen zum Flanieren, sich zu begegnen und Auslagen zu betrachten. Strassenkriminalität war kaum zu fürchten, ohne Probleme konnte man in allen Stadtteilen spazieren gehen. Heute sind viele der Strassen ein Albtraum, verwahrlost und schmutzig, vor vielen Stadtteilen wird man gewarnt, da sie “gefährlich“ seien (siehe Reportage über “Crackolândia“). Brasiliens Wirtschaftsmotor São Paulo befindet sich in einer besorgniserregenden Rezession – wie die übrigen Städte im Land – und ein Ausweg aus diesem Dilemma ist nicht abzusehen. Politisches Unvermögen und Korruption grössten Stils lähmen die steigende Konjunktur früherer Jahre – Investoren der verschiedensten Länder ziehen sich zurück.
Brasilien, das Land der Zukunft? Eher das Land der ewigen Zukunft!