Unter “Cerrado” oder den so genannten “Campos cerrados” versteht man die halbtrockenen, zentralbrasilianischen Savannen, deren Böden einst durch Verwitterung von Graniten und Sandsteinen entstanden. Sie sind uralt und ihre Nährstoffe längst ausgewaschen, deshalb wachsen auf ihnen nur kleinwüchsige Pflanzen, die sich dem Nährstoffmangel angepasst haben, dazwischen vereinzelte, drei bis acht Meter hohe, knorrige Bäume, mit lederartigen Blättern, deren überlange Wurzeln bis in die feuchten Bodenschichten vordringen, sodass sie die alljährlichen langen Trockenperioden überstehen, während die Gräser, und alle Pflanzen mit weniger Tiefgang, vertrocknen. Die Cerrado-Region breitet sich aus auf einer Fläche von rund zwei Millionen Quadratkilometern und erfasst vor allem die Bundesstaaten Goiás, Mato Grosso, Mato Grosso do Sul und Minas Gerais – in Maranhão, Paraná, Piauí und São Paulo finden sich ein paar Ausläufer dieses Bioms.
Der brasilianische Schriftsteller Carmo Bernardes – er fühlte sich als “Goianier“, obwohl er aus Minas Gerais stammte und 1996 starb – erklärte in seiner einfachen, fast einfältigen Ausdrucksweise den Cerrado folgendermassen: “Der Cerrado ist ein Wald mit dem Kopf nach unten“ – denn viele dieser typischen, verkrüppelten Bäume entwickeln mehr Biomasse unter als über dem Boden. In manchen Fällen dringen die Wurzeln auf der Suche nach Feuchtigkeit bis in die Tiefen des Grundwasserspiegels vor – manche mehr, manche weniger, das hängt davon ab, ob der Baum auf Cerrado-Boden oder in einem Galeriewald steht, in einer “Mata seca“ oder einer “Vereda“, einem “Campo limpo“ oder einem “Campo sujo“, oder gar auf einem “Cerrado senso estrito“ – wie die sieben Landschaftsformationen dieses Ökosystems von den Wissenschaftlern bezeichnet werden.
Auf den zwei Millionen Quadratkilometern des Cerrado – zirka 24,1% des brasilianischen Territoriums – gibt es, aus bereits beschriebenen Gründen, viel mehr Kriechvegetation und Buschwerk, als Bäume. Und einige der letzteren werfen zur Trockenperiode auch ihre Blätter ab, um während dieser harten Zeit Energie zu sparen. Bisher hat man mehr als 12.000 Pflanzen im Cerrado identifiziert – Wissenschaftler glauben sogar, dass wenigstens 20.000 Arten existieren – von denen 4.000 endemisch sind. Im vergangenen Jahrzehnt wurden 966 neue Arten entdeckt.
Im Regierungsdistrikt Brasília, der sich inmitten einer Cerrado-Landschaft befindet, hat man mehr Orchideen-Arten klassifiziert als in ganz Amazonien! Wie der nationale Bericht für die Konvention über Biologische Diversifikation feststellt, beherbergt der brasilianische Cerrado mindestens ein Drittel der 15% bis 20% dieser Diversifikation unseres Planeten. An bestimmten Stellen kann man bis zu 28 Arten auf einem Quadratmeter entdecken! Während der Trockenzeit bedeckt ein Überfluss an kleinen, vielgestaltigen, bunten Blüten den Boden. Die ältesten Bewohner der Region sind stolz auf ihre Kenntnis von zirka 300 Pflanzenarten, die sie in ihrer Volksmedizin benutzen, und die heute von den Wissenschaftlern studiert werden, um aus ihnen eventuelle industrialisierbare Medikamente zu gewinnen.
Ungeachtet solchen Reichtums der Natur, schreitet die Zerstörung der Cerrado-Landschaft weiter voran, mit 22.000 Quadratkilometern pro Jahr – 1,1% des Ökosystems. Und weil bereits 800.000 Quadratkilometer zerstört sind, hat sich der Verlust der Biodiversifikation verschärft. Dafür gibt es deutliche Indizien im zunehmenden Verschwinden von Bestäubern, wie Bienen und Fledermäusen, von denen zum Beispiel die Palmfrucht “Pequi“ exklusiv abhängig ist – ein Grundnahrungsmittel der lokalen Bewohner.
Aber Vorsicht! Besucher von ausserhalb, die mit dieser Frucht nicht vertraut sind, pflegen einfach reinzubeissen – und spüren plötzlich Hunderte winziger Stacheln, die unter dem gelben Fruchtfleisch, rund um den Kern lauern, und sich nun in die Zunge allzu gieriger Gringos verhakt haben. In Kürze werden solche Qualen allerdings der Vergangenheit angehören: Wissenschaftler haben, mit Hilfe der Indios aus der Xingu-Region, den Prototyp einer Pequi-Frucht ohne Stacheln gezüchtet.
Den Cerrado zu bereisen, bedeutet Überraschungen ohne Ende – so vielgestaltig sind die Landschaften, und soviel Freude bringen sie dem Naturliebhaber. Greifen wir mal ein besonders interessantes Stück Cerrado heraus: zum Beispiel die Region des “Jalapão“, im Bundesstaat Tocantins – “ganz nah, aber ein bisschen weit“, wie die lokalen Bewohner zu sagen pflegen. Dort finden wir noch den antiken Cerrado, verloren im brasilianischen Mittleren Westen.
Im Jalapão leben 440 Arten von Wirbeltieren, und kürzlich hat man weitere 11 entdeckt. Trotz der reichhaltigen Fauna kann man auf den lokalen Erdpisten Dutzende von Kilometern zurücklegen, ohne auch nur einem einzigen Lebewesen zu begegnen, nicht einmal einer Eidechse, während man an Dünen, Cerradões, Wasserfällen und felsigen Hügeln vorbeikommt. Wenn man während der Trockenperiode reist, hat man den Eindruck – so wie überall im Cerrado – dass sämtliche Vegetation verschwunden ist. Aber es genügen ein paar Tropfen des ersten Regens, um die gesamte Landschaft über Nacht wieder mit einer grünen Decke zu überziehen – ein Wunder der Natur.
Eine andere Alternative ist eine Flussfahrt den Rio Araguaia hinunter – vorbei an weisssandigen Stränden, die von Jahr zu Jahr ihre Lage verändern. Im Sonnenuntergang zeichnen sich die Silhouetten der Jabiru-Störche auf ihren Nestern in den Kronen der Bäume ab. Silberreiher und rosarote Löffler stochern im Uferschlick nach Krebsen und Muscheln. In einem ruhigeren Flussarm findet man enorme Fische, wie den “Pirarucu“, den “Jaú“, den “Matrinxã“ oder den “Pintado“. Der herrliche “Pirarara“ springt über die Wasserfläche und präsentiert seine bunten Flossen, und der “Boto“ – jener Süsswasserdelfin, von dem eine Legende erzählt, dass er Jungfrauen verführt, die ahnungslos im Fluss baden – gehört hier ebenfalls zur Aquafauna. Auch die furchterregenden Piranhas sollte man nicht vergessen, aus denen die lokalen Bewohner eine köstliche Suppe bereiten, die – sollte man ihren Schilderungen glauben – als Aphrodisiakum hoch im Kurs steht.
Wenn man die Ilha do Bananal erreicht, wird man von den Carajá-Indios gastfreundlich empfangen, zum Beispiel mit einem frischen, gegrillten “Jaraqui“ (Speisefisch) am Flussufer – ein gastronomisches Erlebnis der besonderen Art, das man nie mehr vergisst. Diese eingeborenen Bewohner der grössten Flussinsel der Welt laden den Besucher vielleicht ein, ihren “Aruanã-Tanz“ in einer Vollmondnacht zu erleben. Oder er hat die Chance, bei einer Zeremonie des “Hetô-hokan“ dabei zu sein, bei der Gäste aus allen umliegenden Dörfern versuchen, einen riesigen Mast umzuwerfen, der die Würde und das Ansehen der Gastgeber symbolisiert und von diesen, unter Aufbietung aller Kräfte, möglichst lange aufrecht erhalten wird. Diese Zeremonie ist die Einleitung zu einem Ritual, mit dem die Jugend ins Erwachsenenleben eingeführt wird – ein Fest, welches einen Tag und eine ganze Nacht in Anspruch nimmt.
Aus ihrer Mythologie erzählen die Carajá, dass sie einst Fische gewesen sind – “Aruanãs“ – die auf dem Grund des grossen Flusses Araguaia lebten und unsterblich waren. Nur eines war ihnen verboten: durch ein bestimmtes Loch im Flussbett zu schlüpfen. Eines Tages jedoch, übertrat einer der Aruanãs das Verbot – schwamm hinein in das Loch und kam am anderen Ende heraus vor einem dieser herrlichen, weisssandigen Strände des Araguaia. Fasziniert von der Schönheit der Natur kehrte er zum Grund des Flusses zurück und erzählte seinem Volk, was er entdeckt hatte. Zusammen baten sie nun ihren Schöpfer Kananciué, er möge ihnen erlauben, auf diesem weissen Strand zu leben. Kananciué gab ihnen zu bedenken, dass sie, um dort zu leben, ihr Dasein als Fische aufgeben müssten und auch ihre Unsterblichkeit. Das akzeptierten sie und lebten fortan als Carajá am Ufer des grossen Flusses. Der verstorbene Psychoanalytiker Hélio Pellegrino pflegte zu sagen, dass dieser Mythos eine Synthese humaner Weisheit darstellt: Die Sterblichkeit akzeptieren, um anfangen zu leben.
Solche Geschichten, die jenen Rio Araguaia früherer Zeiten präsentieren, sind verborgen in einem Buch, welches verloren in den Regalen, von dem Paulistaner Hermano Ribeiro da Silva in den 1930er Jahren geschrieben wurde: “Nos Sertões do Araguaia“. Hermano verliess São Paulo, kam mit einem Freund in den kleinen Ort Aruanã, im Bundesstaat Goiás (der zu jener Zeit noch Leopoldina hiess), kaufte ein altes Kanu und liess die Löcher in seinem Rumpf verschliessen. Dann paddelten sie den Fluss hinab, auf dem endlosen Wasser die zwei Männer aus São Paulo, fasziniert von der grossartigen Landschaft. Vorbei an der Ilha do Bananal kamen sie bis Santana do Araguaia, wo Hermanos Freund in dem ramponierten Kanu nicht mehr weiter wollte. Also tauschten sie das Kanu gegen ein “Batelão“ (Motorboot) und heuerten zwei Indios als Bootspiloten an. Die verlangten einen Teil ihres Lohns im Voraus, erstanden eine Kiste voll Mangos und vergnügten sich damit, die ausgelutschten Schalen auf dem Boden zu verteilen, damit Hermano auf ihnen ausrutschen und ins Wasser stürzen würde. Aber der kümmerte sich nicht darum, sondern begeisterte sich weiter an der herrlichen Natur um ihn herum. Und nachdem er nach Hause zurückgekehrt war, schrieb er seinen berühmten Reisebericht.
Der grösste Teil der indigenen Völker des Cerrado konzentriert sich im “Parque Indígena do Xingu“. Mit 26.400 Quadratkilometern im Norden von Mato Grosso, im Übergangsgebiet zwischen Cerrado und Amazonasregenwald, wurde der Park 1960 geschaffen, dank der Gebrüder Villas Boas – er beherbergt heute 17 indigene Stämme. Einige befinden sich in dieser Region schon seit mehreren Jahrhunderten, darüber sind sich Anthropologen und Archäologen einig, andere wurden dorthin umgesiedelt. Heute ist dieser Park eine Insel üppiger Vegetation, eingeschlossen von Sojafeldern und Viehweiden, zwischen denen sich verschiedene Quellen befinden, die den majestätischen Rio Xingu hervorbringen, der inzwischen genau deshalb von den Toxinen der Agrarindustrie bedroht ist – ausserdem durch Ablagerungen in seinen Zuflüssen Kuluene, Batovi, Ronuro und anderen, deren Galeriewälder der ignoranten Agrarexpansion zum Opfer gefallen sind.
Des Weiteren sind die Indios am Xingu besorgt, dass die Fische, eines ihrer Grundnahrungsmittel, nicht mehr in der Lage sein werden, den Oberlauf dieser Flüsse zu erreichen, um dort zu laichen, weil sie von den geplanten und bereits errichteten Wasserkraftwerken daran gehindert werden. Diese Projekte nehmen rücksichtslos auch Territorien in Besitz, die den Indios heilig sind, wie zum Beispiel jenes Gebiet, in dem Mavutsinim (ihr Schöpfer) sie das Ritual “Kuarup“ lehrte, zu Ehren ihrer illustren, verstorbenen Häuptlinge, damit diese den Weg ins himmlische Dorf ihrer Vorfahren finden – “wo wir uns eines Tages alle wiedersehen werden. Und bis in diese Ewigkeit werden wir ihre Namen nicht mehr aussprechen“!
Jene Kulturen praktizierten das, was der französische Anthropologe Pierre Clastres die “Demokratie des Einverständnisses“ nennt. In diesem Fall herrscht ein Häuptling nicht, gibt keine Befehle, sondern ist in erster Linie der grösste Kenner der Geschichte seines Volkes und seiner Lebensart. Er hat alles von seinem Vater gelernt, seit seiner frühesten Kindheit, und deshalb wird die Häuptlingswürde auf ihn übertragen. Er ist auch der grosse Vermittler bei Konflikten, der besser zu reden versteht, und der am meisten leidet – niemals jedoch, gibt er Befehle. Und wenn keine Übertragung von Macht existiert, ist auch die Herrschaft einer Gruppe oder Person über eine andere Gruppe oder Person unmöglich.
Alle sind gleich, und die Grenze eines jeden richtet sich nach der Freiheit des andern – der seinesgleichen ist. Und damit nicht genug – jedes Mitglied ist selbständig, weiss alles, was es im Lauf seines Lebens braucht, um sein Heim zu unterhalten, das Feld zu bestellen, seine Arbeitswerkzeuge zu pflegen, seine Hänge- und Fussmatten instand zu halten, weiss sich zu verheiraten und Fische zu fangen und identifiziert die Spezies der Natur, welche ihm von Nutzen sein können. Was für ein Luxus: Ein Leben zu verbringen, ohne Befehle ausführen zu müssen, und ohne von jemandem abhängig zu sein, sich zu schmücken, zu singen und zu tanzen, und nur das Notwendigste zu arbeiten. Eine Gesellschaft, in der ein Mann seiner Frau keine Befehle erteilt – auch nicht seinen Kindern – und auch nicht das Recht hat, sich über sie zu beschweren, denn eine Beschwerde liefe ja auf die Absicht hinaus, ein bestimmtes Verhalten von der anderen Person zu erwarten – und das gibt es nicht bei diesen Völkern des Cerrado!
Warum hat man eigentlich noch nicht daran gedacht, jene “grüne Insel der Xingu-Indios“ als historisches, kulturelles und ambientales Erbe der Menschheit anzuerkennen – nach bewährter Tradition der UNO? Es existieren dort wertvolle Ressourcen der Natur inmitten eines bis zum Horizont reichenden Kahlschlages, ohne Baum und Strauch, für die Sojaproduktion. Die grüne Insel ist die Heimat antiker Völker, die von ihren Vorfahren gelernt haben, ihre Umwelt nicht zu überfordern (immer wenn ein Dorf stark wächst und anfängt, seine Umgebung zu belasten, teilt es sich in zwei oder mehr). Im Gegensatz dazu stellen die Älteren dieser Völker besorgt fest, dass die jungen Xinguaner zunehmend von der Kultur der Weissen beeinflusst werden – die wollen jetzt im Short und buntem T-Shirt einher spazieren, mit Nike-Turnschuhen und Sonnenbrille, wollen Forró tanzen und Fussball spielen. Und sie vergessen ihre Traditionen und die von ihren Eltern erlernten Rituale zur Ehrung der Geister, denen sie ihr Leben verdanken. Jedes Tier und jeder Baum hat seinen Geist, der ihn beherrscht, und die Schamanen stellen die Verbindung zwischen den beiden Welten her.
Beim Angeln im Xingu-Gebiet sollte der Fremde stets sehr vorsichtig sein: Er könnte nämlich plötzlich mit einem “Arraia“ Bekanntschaft machen – einem Stachelrochen, den Carmo Bernardes in seinem Buch “Selva: Bichos e Gente“ (Urwald: Tiere und Menschen) beschreibt. “Er hat die Form eines Diskus, am Rand wächst ein Schwanz, der mit einem langen Stachel versehen, niemals kürzer als eine halbe Handbreite ist. Seine Haut hat eine Konsistenz wie Gelatine. Knochig fest, von extremer Härte, ist lediglich der gezackte Stachel, welcher menschliche Muskulatur zerteilt und beim Herausziehen das Fleisch zerfetzt. Er hinterlässt in der Wunde ein Sekret, Bakterien aus dem aquatischen Bereich, die in Gegenwart der frischen Luft reagieren und einen krampfartigen, bohrenden Schmerz verursachen“. Wie die Einheimischen des Cerrado berichten, besteht das einzige Mittel, den schrecklichen Schmerz eines Arraia-Stiches zu lindern, daraus, die Wunde an den intimen Teilen einer Frau zu reiben. Wenn das nicht möglich sein sollte, bringt auch Urin Erleichterung – ist jedoch weniger effizient.
Eine originelle Alternative für den Reisenden ist auch eine Übergangsregion des Cerrado zum Atlantischen Regenwald, zum Beispiel im Südwesten von Goiás, in der Nähe der Stadt Serranópolis. Und ideal wäre die Begleitung von Binónimo da Costa Lima, den sie nur “Seu Meco“ nennen – ein Fazendeiro aus Jataí, der alles über dieses Biom weiss, aus der wissenschaftlichen Perspektive bis zu den Volksweisheiten. Er war es, der in der Serra das Araras Felsmalereien entdeckte, die zu den ältesten Indizien menschlicher Präsenz im Cerrado des Mittleren Westens gehören – zirka 10.000 Jahre alt. Und er wird sich bestimmt wieder aufregen, wenn er vor dem “Verbrechen jenes Schreiners“ steht, den eine NGO einst unter Vertrag genommen hatte, um ein paar Laufstege rund um die Felszeichnungen zu konstruieren, zum Schutz derselben. Der Schreiner fand die Felszeichnungen “äusserst armselig“, besorgte sich ein paar Farbeimer und “retuschierte“ Teile der Inschriften – des weiteren hinterliess er dort “seine persönlichen Felsmalereien“ mit Figuren aus seiner Phantasie.
Wenn seine Wut verraucht ist, sollten Sie sich von Seu Meco auf einem der Pfade durch den Wald führen lassen. Er kann jede Pflanzenspezies identifizieren und beschreibt Ihnen ihre Anwendungsmöglichkeiten. Zum Beispiel die Eigenschaften des Baru-Baumes (Dipteryx alata), dessen Früchte Mensch und Tier ernähren. Oder den “Fava-d’Anta“ Baum (Dimorphandra mollis), dessen Samenkerne Kooperativen aus Goiás bereits nach Frankreich exportieren, wo sie in der Kosmetikindustrie Verwendung finden (wegen ihrem grossen Gehalt an Rutin). Und wenn er gut drauf ist, wird Seu Meco ein längliches Blatt abreisen und es mit einem spitzbübischen Grinsen in der Mitte falten – natürlich nur, wenn keine Damen anwesend sind – sein Kommentar: “Das ist ist das Viagra des Cerrado“! Übrigens ist Seu Meco ein aussergewöhnlicher Erfinder von Schauergeschichten, und erst am Ende einer Geschichte enthüllt er, ob es eine wahre Geschichte ist oder nur die Frucht seiner blühenden Phantasie.
Nicht weit davon liegt der “Parque National das Emas”, eines der traurigsten Szenarien des Cerrado. Praktisch die gesamte Umgebung dieses Nationalparks wurde entwässert, um den Boden für die Bepflanzung mit Soja vorzubereiten. Dieses Vorgehen schadet den Flüssen, die den Park durchqueren und der Vegetation, von der die Fauna sich ernährt. Die von Flugzeugen auf die Pflanzungen versprühten Insektengifte werden vom Wind ins Reservat getragen, und das Feuer, mit dem die Pflanzungen nach der Ernte abgebrannt werden, breitet sich aus auf der zu schützende Vegetation des Parks. Der “Lobo-guará“ (Mähnenwolf), Symbol des Nationalparks und in der Regel ein scheuer Einzelgänger, ist gezwungen, sich auf Nahrungssuche den menschlichen Behausungen zu nähern – er ist, so schreibt Carmo Bernardes, “der Hund aus der Natur des Cerrado, mit seinem fauchenden Knurren verantwortlich für die Melancholie der lauen Nächte“.
In derselben Region ein weiteres Drama: Die riesigen Erosionsrinnen der Quellen des Rio Araguaia. Jetzt sind es schon fast einhundert, eine jede kilometerlang und Dutzende von Metern tief. Sie nehmen Jahr um Jahr zu und leiten Sedimente in den Fluss, die vom Wasser fortgetragen werden. In dem Örtchen Aruanã, am Mittleren Araguaia, hat die Universität von Goiás in zwölf Monaten sieben Millionen Tonnen an Sedimenten festgestellt, die das navigierbare Flussbett von Jahr zu Jahr verändern. Dies verhindert das Projekt einer Wasserstrasse, denn die müsste dann kontinuierlich ausgebaggert werden, und man wüsste auch keine Lösung für den Abfall. Es ist ein Prozess, an dem die Natur selbst mitwirkt, denn die Region hat seit dem jüngsten Zeitabschnitt der Erdgeschichte, dem Quartär, das Problem eines Sandauswurfs von unten nach oben. Allerdings spitzt sich dieses Problem zu durch menschliche Unwissenheit und Habgier, mit der Hänge und Bergkuppen für Viehweiden entwaldet werden.
Wendet man sich gegen Nordosten, erreicht man die “Chapada dos Veadeiros“, ein Paradies mit verschiedenen typischen Cerrado-Landschaften, rund um das Städtchen Alto Paraíso, in dem sich verschiedene esoterische Sekten niedergelassen haben. Viele dieser Menschen leben in Häusern, auf deren Dächern sie Pyramiden aus Kristall aufgestellt haben – nachts begeben sie sich manchmal zu einer prekären lokalen Landepiste, um auf die Ankunft von Ausserirdischen zu warten. Am 31. Dezember 1999 hat sich eine dieser Sekten auf dem Gipfel eines Hügels versammelt, um dort auf das Ende der Welt zu warten.
Solche Gruppen bilden heute eine der vielen kulturellen Ausdrucksformen des Cerrado. Die Palette öffnet sich in Pirenópolis, mit seinen “Cavalhadas“, bei denen berittene Mauren gegen Christen kämpfen – alle prächtig ausgestattet und geschmückt. Oder in Catalão, mit seinen “Congadas“. Oder in Goiás, im antiken Vila Boa, der goianischen Ex-Hauptstadt, wo sich die Touristen an den Farben und Klängen der “Procissão do Fogaréu“ begeistern können – am Mittwoch der Osterwoche – wenn Dutzende von “Farricocos“ ihre Trommeln im Licht der Fackeln ertönen lassen (alle Lichter der Stadt sind abgeschaltet), bekleidet mit bis zu den Füssen reichenden Umhängen und Kapuzen, die an den Ku-Klux-Klan erinnern. Sie verfolgen einen Christus durch die mit Kopfsteinen gepflasterten Strassen und kommen auch am Haus der bekannten Dichterin Cora Coralina vorbei – ein eindrucksvolles Erlebnis. Wenn Sie möchten, können Sie auch das Atelier der Malerin Goiandira do Couto kennenlernen, die für ihre Bilder Farben benutzt, welche sie aus den mehr als fünfhundert Pigmenten herstellt, die sie in der Serra Vermelha sammelt, einem Gebirge unter Naturschutz, das sich im Verlauf eines Tages in den verschiedenen Farben des Regenbogens präsentiert. Dieses Gebirge, und der architektonische Liebreiz der Stadt, haben dazu beigetragen, dass sie 1999 von der Unesco als “Historisches, Kulturelles und Ambientales Erbe der Menschheit“ anerkannt wurde.
Ungeachtet seiner zahllosen Naturschönheiten, seiner historischen und kulturellen Werte, und nicht zuletzt seiner Bedeutung für Menschen und Tiere, die seit Jahrhunderten von und in ihm existieren, scheint sich das Ende des Cerrado unausweichlich anzukündigen. Nach den Satellitenaufzeichnungen der Embrapa präsentieren sich weniger als 5% mit mehr als 2.000 Hektar kontinuierlicher Fläche und sind damit überlebensfähig – bei kleineren Flächenfragmenten können sich die genetischen, reproduktiven und nahrungsspezifischen Verkettungen nicht erhalten. Und ein grosser Teil der kleineren Fragmente wird zunehmend als natürliche Weideflächen besetzt. Um die Situation noch zu verschlimmern, verursachen die erst kürzlich den Cerrado invadierenden Zuckerrohr-Plantagen eine wachsende Zerstörung des Bioms in beiden Mato Grosso Staaten, ausserdem in Goiás, Tocantins, Piauí und im Westen Bahias, obwohl diese Expansion sehr wohl auf bereits existenten Weidearealen hätte stattfinden können, auf denen der Degradationsindex bei 70% des Gesamts liegt! Die Produktion von Holzkohle für die Industrie ist ein weiteres, ernstes Problem.
Ausser dem Verlust der Biodiversifikation – von der man neue Medikamente, Nahrungsmittel und andere Materialien hätte gewinnen können – wird diese Zerstörung auch Auswirkungen auf das Klima haben. Wie das Umweltministerium informiert, gehen 59% der jährlichen 750 Millionen Tonnen des von Brasilien in die Atmosphäre ausgestossenen Kohlendioxyd-Gases auf das Konto von Amazonien. Das bedeutet, dass 41% aus anderen Quellen kommen – besonders aus dem Cerrado. Die Szenarien des “Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais” (Weltraumforschungs-Institut) sagen für den Mittleren Westen bereits eine Erhöhung der Temperatur zwischen 4 und 6 Grad Celsius im Verlauf dieses Jahrhunderts voraus. Der Verlust der Cerrado-Landschaft wird auch auf dem Gebiet der hydrischen Ressourcen von Bedeutung sein, denn in abgeholzten Arealen geht die Wasserspeicherung rapide zurück. Das Umweltministerium hat festgestellt, dass unter entwaldeten Flächen der Grundwasserspiegel absinkt. Und dadurch können auch andere Biome, die Wasser aus dem Cerrado beziehen, beeinträchtigt werden.
Zur Degradation des Cerrado trägt die Tatsache bei, dass man dieses Biom nicht unter jenen eingruppiert hat, die 1988 von der brasilianischen Verfassung im Artikel 225, Absatz 40, als “nationales Erbe“ (und deshalb unantastbar) eingestuft worden sind – wie der Amazonas-Regenwald, der Atlantische Regenwald, die Serra do Mar und das Pantanal von Mato Grosso. Seit fast 14 Jahren ruht im Nationalkongress ein Ergänzungsvorschlag, der den Cerrado, die Caatinga und die Pampa aus ihrem Status der “vergessenen Ökosysteme“ befreien und in den Artikel 225 aufnehmen soll. Aber jedes Mal, wenn er zur Sprache kommt, protestiert die grosse Fraktion der “Ruralistas“ (Agrarlobby) und verhindert seine Approbation, denn sie betrachtet den Cerrado als idealen Ort zur Expansion der Landwirtschaft. Jedoch ist dies nicht nur die Vision jener Fraktion im Kongress – sie hat Anhänger bis in die höchsten Kreise der Regierung.
Dem Land fehlt in Wirklichkeit eine Strategie, welche die natürlichen Ressourcen und Dienstleistungen ins Zentrum der gesamten nationalen Planung rückt. Wie die Berichte des “Programms der Vereinten Nationen für die Umwelt“ bestätigen, gehören diese Ressourcen und Dienstleistungen heutzutage zu den seltenen in unserer Welt, in der wir zirka 25% mehr konsumieren, als die terrestrische Biosphäre ersetzen zu ersetzen in der Lage ist! Brasilien befindet sich in einer privilegierten Situation, die das Land als eine Art Zukunftstraum positioniert: Es besitzt ein gigantisches, kontinentales Territorium, Sonne das ganze Jahr über, 12% des gesamten Süsswassers auf der Oberfläche unseres Planeten, und 15% bis 20% der globalen Biodiversifikation. Darüber hinaus kann Brasilien über ein erneuerbares und sauberes Energiepotenzial verfügen, mit Wasserkraft, Solar- und äolischer Energie (sein Potenzial entspricht dem doppelten Konsum des Landes von heute), nicht zu vergessen die Bio-Brennstoffe (Alkohol, Rizinus, Dendê, Pinhão-manso und Soja).
Vielleicht sind auch die Studien der Regierung aus den 1990er Jahren an der Degradation des Cerrado mit schuld, die ihn als “eine triste Landschaft, hässlich und unbrauchbar“ beschreiben und damit seinen Untergang beschleunigen. Einer solchen Ansicht sollte man die meisterlichen Verse des brasilianischen Dichters Nicolas Behr entgegenhalten: “Nicht alles, was krumm ist, ist falsch: Sieh dir die Beine von Garrincha an – und sieh die Bäume des Cerrado“!