Wenige Kilometer von der “Arena Fonte Nova”, dem Stadion, in dem vier Partien der diesjährigen WM ausgetragen werden sollen, liegt Saramandaia, eine der zahlreichen armen Kommunen von Salvador, der bahianiaschen Hauptstadt. Die bekannte Novela gleichen Namens hat dem gottverlassenen Ort leider auch nicht zu ein bisschen mehr Aufmerksamkeit seitens der Behörden verhelfen können, und die Sorge der Bewohner dreht sich um die Kinderarbeit und Ausbeutung, die ihrer Meinung nach “bestimmt zunehmen wird, wenn die Touristen kommen und die Copa beginnt“. Dann wächst auch die Menge der Kinder, die rund um das Stadion elektronische Artikel und Getränke verkaufen, wie das bereits in diesen Tagen geschieht.
Ein Junge von zwölf Jahren aus Saramandaia, der mit seinem Vater arbeitet, erzählt, dass er nach der Schule Getränke verkauft, nach einem “ bater um baba“ – so nennen die Bahianer eine Partie Fussball auf der Strasse. “Ich gehe hin (zum Treffpunkt) um 17:30 Uhr und spiele eine Runde, dann weiter zum “Ponto“ (Stammplatz des Verkaufs), dort bleibe ich bis 22:00 Uhr. Wenn ich zurück bin, mache ich meine Hausaufgaben“, gibt er Auskunft.
Mit einer Bevölkerung von 70.000 Personen leidet Saramandaia unter einem Defizit an Schulen und sicheren Freizeiteinrichtungen. Ein Terrain mit festgestampfter Erde trägt den Namen “Mata a fome“ (Hungerstiller), berichtet der Leiter der Kommune, Abrão. “Wenn die Kinder aus der Schule kommen, gibt es keine andere Möglichkeit für sie als hierher zu kommen und Ball zu spielen, mit dem Risiko, überfahren zu werden, denn wo sie spielen, ist eigentlich ein Verkehrskreisel“.
Wie die Jugendlichen von Saramandaia berichten, sind die wenigen Schulen der Kommune ebenfalls in beklagenswertem Zustand. “Die Schulen hier sind alle kaputt. Wenn es regnet, wird der Sportplatz überschwemmt“, sagte einer der Jungs. Ein anderes Kind, das unsere Unterhaltung verfolgt hatte, nutzte die Gelegenheit, um sich seinerseits über seine Schule zu beklagen, die “Escola Municipal Marisa Baqueiro“. “Wo ich hingehe, gibt es keinen Sportplatz“.
Aufgesucht von einem Reporter, wollte die Präfektur der Hauptstadt Bahias keinerlei Kommentar zu den zu den Vorwürfen der Kinder hinsichtlich ihres prekären Schulsystems abgeben.
Die zunehmende Gewalt in der Kommune hat die Bewohner motiviert, Box-Kurse zu organisieren, und die Jugend für Zirkus und Percussion zu interessieren. Daraus entstand das Projekt “Arte Consciente“ (Kunstbewusstsein), mit dem man zirka 100 Kinder und Jugendliche in einem bescheidenen Versammlungshaus beschäftigt.
“Diese Kurse machen mir viel Freude, denn wenn ich ein Instrument in die Hand nehme, werde ich ganz aufgeregt. Ich lerne immer mehr, lerne neue Schläge, die mich wachsen lassen und eines Tages zu einem grossen Künstler machen werden“, sagte Marcos, 13 Jahre alt, einer der Jugendlichen in diesem Programm.
Das Projekt “Arte Consciente“ verdrängt die fehlenden Mittel und bereitet sich darauf vor, auch während der WM für die Kinder offen zu sein, wenn die Schulen ihre Türen schliessen werden, und die Kinder nichts zu tun haben. Die grosse Sorge der Erzieher heute, dreht sich um die Kinderarbeit im Umfeld der Kommune.
“Bei uns werden die Aktivitäten weitergeführt. Aber es gibt ein ernstes Problem: das familiäre Einkommen. Trotz unserer Aktivitäten gibt es immer noch Eltern, die auf der Strasse Getränke verkaufen, weil es sonst nicht reicht, und die nehmen ihre Kinder als Helfer mit“, sagte Fábio, einer der Koordinatoren von “Arte Consciente“.
Die Gründer von “Arte Consciente“ wissen, von welch grosser Bedeutung Freizeit-, Kultur- und Sportmöglichkeiten für die Entwicklung der Kinder sind. Vor vielen Jahren waren sie Mitglieder des Projekts Axé, von dem Strassenkinder im Zentrum von Salvador betreut wurden – das war vor 24 Jahren. Helmut, der gegenwärtige Koordinator des Projekts Axé, erwartet einen zahlenmässigen Anstieg der Strassenkinder, die von der bevorstehenden WM angelockt werden.
“Auf den Strassen sind sie allen erdenklichen Risiken ausgesetzt. Ob das die Ausbeutung als Arbeitskraft ist oder als Sexobjekt – ausserdem das Risiko durch die Drogen: Einerseits als Konsument, um die traurige Realität zu vergessen, andererseits als Drogenhändler. Die Kinder sind das verletzlichste Segment“.
Einer der Jugendlichen des Projekts, 16 Jahre alt, berichtet, dass er zwischen Kommen und Gehen nun schon länger als zehn Jahre auf der Strasse lebt. Vor den Toren des “Mercado Modelo“ (Kunsthandwerksmarkt), in der Unterstadt von Salvador, einem der meist besuchten Treffpunkte der Touristen, trifft er sich mit anderen Jugendlichen in derselben Situation, um zu betteln und, wenn es die Situation erlaubt, auch mal die eine oder andere “Gelegenheit zu nutzen…“ “Ich bin schon von Hunden gebissen worden, man hat mir Knüppel auf den Kopf geschlagen, eben heute hat mich ein Polizist mit seinem Gummiknüppel bearbeitet“, erzählt er.
Ein anderer Jugendlicher des Projekts Axé berichtet, dass die Kinder auf der Strasse aller Art von Bedrohungen ausgesetzt seien. “Man hat mich sechs Tage lang in einem Hinterhof angebunden, bei Wasser und Brot, und wie einen Hund behandelt“, empört er sich. “Ein Kerl hat mich dort einfach angebunden“, setzt er hinzu.
Auf Anfrage des Reporters gab die Präfektur von Salvador keinen Kommentar ab zu ihren Plänen, wie sie der Kinderarbeit während der WM begegnen wolle, auch äusserte sie sich nicht hinsichtlich irgendwelcher Massnahmen zur Betreuung der Strassenkinder.