Der winzige Ort lässt sich nicht so recht einordnen in ein Tour-Programm durch Minas Gerais: man könnte ihn zwar zu den historischen Orten zählen, denn er wurde schon im 17. Jahrhundert gegründet, hat aber keine besonders sehenswerten Remineszensen aus dieser Zeit.
Man könnte ihn auch zu den mit besonderen Naturschönheiten ausgestatteten Orten zählen, denn die Landschaft rundherum ist tatsächlich voller interessanter Wanderwege, Wasserfälle, Höhlen und Berggipfel. Mein persönlich stärkster Eindruck wurde allerdings eher von dem besonderen Flair des Ortes geprägt, von den Bewohnern, bei denen ich zu Gast war und von den Geschichten, die sie mir erzählten. Ich würde „São Tomé“ den Titel „mystischster Ort in Minas Gerais“ verleihen.
Mitte des 18. Jahrhunderts floh der schwarze Sklave „João Antão“ von der „Fazenda Barão de Alfenas“ ins umliegende Gebirge, wo er in einer Höhle Unterschlupf fand. Nachdem er in der Einsamkeit seine Lage überdacht, entschied er sich, zu bleiben wo er war. Ein Leben in dieser Einöde war immerhin besser, als ewig von den Aufsehern mit der Peitsche angetrieben zu werden. Nein, auf die Fazenda wollte er nie mehr zurück.
Er war ein Jäger gewesen, als die weissen Männer ihn aus seinem Dorf weggeschleppt, mit anderen Leidensgenossen zusammengekettet und im stinkenden Bauch eines grossen Schiffes in dieses Land gebracht hatten – viele der mit ihm Zusammengeketteten waren unterwegs gestorben. Er hatte überlebt, weil er jung und stark war – stärker als jener Löwe, den er mit der Lanze getötet hatte, um seinen Mut und seine Reife als Jäger zu beweisen. In diesem Land gab es keine Löwen, kaum ein Tier, das ihm gefährlich werden konnte – aber umso gefährlichere Menschen. Von ihnen galt es, sich fernzuhalten.
Einen guten Bogen und Pfeile herzustellen, hatte er in frühester Jugend von seinem Vater gelernt – das lange Messer, welches er von der Fazenda zu seiner Verteidigung mitgenommen, war das einzige Werkzeug, das er dazu brauchte. Nahrung gab es um ihn herum mehr als genug – er würde den Tag damit verbringen, einem Capivara (Wasserschwein) nachzuspüren, oder einem Cateto (Wildschwein).
Er könnte sich auch mit Fischen aus der Reuse bedienen, die er aus biegsamen Buriti-Blattrippen gefertigt und im Bach zwischen Steinen aufgestellt hatte. Mit der Zeit könnte er sogar Felder anlegen – aber dann würden sie auf ihn aufmerksam werden und ihn wieder einfangen – besser keine Felder.
Jahre gingen dahin – João Antão hatte sich mit seinem Höhlenleben abgefunden und auf der Fazenda hatten sie ihn vergessen. Nie mehr war ihm hier oben ein Mensch begegnet und ins Tal wagte er sich nur nachts.
Dann packte er am Rand eines Maisfeldes seine Kiepe voll mit reifen Kolben und kappte ein paar Zuckerrohr-Stängel auf dem Rückweg, für seinen Bedarf.
Und dann sass da eines Morgens plötzlich dieser weiss gekleidete alte Mann auf der Felsplatte vor seiner Höhle und sprach ihn an. Ein Sklavenjäger schien er nicht zu sein, so sahen die nicht aus – seine ganze Erscheinung, mit dem wallenden silbergrauen Bart, der das Gesicht umrahmt, deutete eher auf einen Priester hin. Antão sah keinen Grund, die Fragen des Mannes nicht zu beantworten, zumal dieser eine menschliche Wärme und Güte ausstrahlte, wie er sie noch nie gespürt hatte. Und erzählte dem alten Mann, nachdem er ihm eine Kalebasse mit Tee aus Erva Doce (Anis) angeboten hatte, seine ganze Lebensgeschichte. Danach schwiegen sie beide eine Weile und beobachteten die Sonne, die ihre letzten Strahlen über den Bergkamm schickte.
Aus den Falten seines weiten Gewandes zog der Mann eine Papierrolle hervor und drückte sie Antão in die Hand mit den Worten: „Geh‘ hin zu Deinem Herrn und zeige ihm dieses Dokument – er wird Dir vergeben und Du wirst ein freier Mann sein“! Antão bedankte sich und verstaute das Dokument, das durch ein Siegel verschlossen war, im Innern der Höhle auf einem Holzrost – als er wieder heraustrat, war der alte Mann verschwunden.
Voller Vertrauen und Zuversicht machte er sich am nächsten Tag auf den langen Weg zur Fazenda, von der er einst geflohen – wieder war er mehrere Tage unterwegs. Die wenigen Menschen, denen er begegnete, machten einen Bogen um dieses schwarze, pelzbehängte Ungeheuer – auch auf der Fazenda erkannten sie ihn nicht, riefen aber auf sein Verlangen hin nach ihrem Patron. João Antão übergab ihm das Dokument, dieser brach das Siegel und vertiefte sich einen Moment in den Inhalt des Schreibens – welches ihm schon in seiner perfekten Handschrift wie aus einer anderen Welt erschien, in einer Zeit, in der es schwierig war, überhaupt jemanden zu finden der schreiben konnte.
Dann musterte er Antão von oben bis unten, verordnete ihm ein Bad und befahl einer Sklavin „ein paar Sachen zum Anziehen für diesen Herrn“ herauszusuchen – João Antão war frei, wie der alte Mann es ihm prophezeit hatte. Allerdings knüpfte sein ehemaliger Patron eine Bedingung an diese Freilassung: er wollte die Höhle mit eigenen Augen sehen, in der Antão achtzehn Jahre seines Lebens verbracht hatte.
Diesmal ging es etwas schneller zurück, denn sie waren zu Pferd. Der Patron hoffte, jenen alten Mann anzutreffen, dessen Zeilen ihn so sehr beeindruckt hatten.
Stattdessen entdeckten sie in der Höhle eine holzgeschnitzte Statue des „São Tomé“ (Sankt Thomas), mit faltenreichem Gewand und einem wallenden Bart, der das Gesicht umrahmte.
Jener Patron der „Fazenda Barão de Alfenas“ liess neben der Höhle eine Kapelle errichten, um die sich später, um 1770, eine erste Siedlung entwickelte. Die Kapelle wurde 1784 durch die erste Kirche „Igreja Matriz“ des Ortes „São Tomé das Letras“ ersetzt, die immer noch an der Seite jener Höhle steht, in deren Felswand in roten Buchstaben (Letras) der Ortsname eingraviert ist.
Auf einer Höhe von 1.450 Metern, im südlichen Teil von Minas gelegen – 337 km von Belo Horizonte aber nur 60 km von Caxambu – kann man seinen Besuch gut in einer Route durch die mineirischen Thermal-Ressorts unterbringen. Kopfsteingepflasterte Gassen gesäumt von Häuschen aus unbefestigten Quarzit-Blöcken, die „Igreja das Pedras“ aus dem 18. Jahrhundert, eine endlose Zahl von Höhlen und Grotten, bizarre Wasserfälle und Gebirgslandschaften wie aus dem Bilderbuch, machen einen Aufenthalt in São Tomé das Letras unvergesslich.
In den umliegenden Bergen gibt es viele sehenswerte Höhlen: Sobradinho (12 km), Carimbado (5 km), Gruta do Feijão (2 km), Gruta da Bruxa (6 km). Sieben der zahlreichen Wasserfälle liegen ganz in der Nähe: Cachoeira de Eubiose (4 km), Véu da Noiva (12 km), Paraíso (12 km), Vale das Borboletas (8 km), Cachoeira da Lua (8 km), Cachoeira do Flávio (6 km). Einige dieser Orte sind Ziele für eine schöne Wanderung vom Ort aus oder man kann mehrere von ihnen an einem einzigen Tag per Taxi, von der Ortsmitte aus, anfahren.
Das Dörfchen selbst ist ein Kuriosum. Wenn Sie für Mystik und Aberglauben etwas übrig haben, dann sind Sie hier lange beschäftigt und werden von den unglaublichen Geschichten, die Sie in dem Ort zu hören bekommen, sicher begeistert sein, die in fliegenden Untertassen.
Besuchen von Ausserirdischen und dem Eingang der „Carimbado-Höhle“ zu einer unterirdischen Verbindung nach Machu Pichu, in Peru, gipfeln. Solche Geschichten locken auch alle erdenklichen Esoteriker und Adepten spiritueller Praktiken in dieses Gebiet, und besonders in den Ferienmonaten, zwischen Dezember und Februar, kann sich die Bevölkerung von rund sechstausend Einwohnern leicht verdoppeln.
Auch an den Wochenenden ist immer ein bisschen mehr Betrieb hier. Die mystische Anziehungskraft des Ortes geht weit über die Inschriften und Höhlenmalereien hinaus. Die UFO-Experten und Freaks glauben sogar, dass jene Felszeichnungen ausserirdischen Ursprungs seien. Laut anderer gibt es hier oben ganz besondere Plätze mit besonderen Energiefeldern. Das wunderschöne Tal „Shangri-lá“ nennen sie auch „Vale do Maytréia“. Alle Geschäfte in São Tomé spiegeln diese mystische Atmosphäre – die Hotels sind durch UFO-Plaketten klassifiziert statt durch Sterne!
Jemand hat geäussert, dass ein Besuch der „Carimbado-Höhle“ einen hohen Grad an physischer und psychischer Fitness erfordere. Wenn Sie sich also nicht in einer solchen Verfassung fühlen, kann es eventuell sehr lange dauern, bis irgendetwas geschieht. Für viele andere Besucher ist São Tomé der ganze Reiz des Ökotourismus – und noch völlig unkontrolliert!
Ganz gleich, welchen Sehenswürdigkeiten Sie den Vorzug geben mögen – São Tomé das Letras ist ganz bestimmt ein ganz ungewöhnliches Ziel. Back-Packer und Künstler, Spiritisten und Touristen finden sich hier und scheiden als Freunde aus dem unbegreiflichen São Tomé das Letras.