Südamerikas Indios

Zuletzt bearbeitet: 16. Juni 2016

Niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, woher sie kamen – obgleich sich jene Theorie ihrer „Einwanderung über die Behringstrasse“ immer noch als die wahrscheinlichste anbietet, hat sie doch ihre Einzigartigkeit und Exklusivität inzwischen verloren. Eine andere, viel häufiger diskutierte Unklarheit besteht über das Zeitalter ihrer Einwanderung: vor 12.000, 38.000 oder gar 53.000 Jahren? Niemand weiss das zu sagen. Die ältesten Indizien, welche den Archäologen ihre Anwesenheit in Amerika beweisen, stammen aus einer Epoche vor 11.000 bis 12.500 Jahren. Über den genauen Zeitpunkt der ersten Einwanderungswellen haben sich die Wissenschaftler allerdings bis heute noch nicht einigen können. Dass sie schon da waren, als die Europäer in Südamerika eindrangen, das ist alles, was man mit Bestimmtheit sagen kann.

Wie dem auch sei, ihre einfache Präsenz gab denen, die sich die „Entdecker der Neuen Welt“ nannten, schon die ersten Rätsel auf: „Wer waren diese nackten, braunen Menschen, mit gut geschnittenen Nasen und wohlproportionierten Körpern“? Keine Schwarzen, keine Mauren, keine Hindus? Von welchem der zehn Stämme Israels mochten sie abstammen? Oder von welchem der drei Söhne Noahs? Ob sie wohl eine Seele hatten? Und wenn, wie konnten sie solange Zeit ohne Gott ausgekommen sein“?

Christoph Kolumbus entschied sich, sie „Indianer“ zu benennen, weil er glaubte, einen neuen Seeweg nach Indien entdeckt zu haben. Dieser Irrtum war den Portugiesen bereits geläufig, als sie 1500 in Südamerika an Land gingen. Aber wer waren diese „Schwarzen der Neuen Welt“ wirklich? „Gute Eingeborene“ – wie Pero Vaz de Caminha an seinen König berichtete – und „gute Eingeborene“ echoten die Philosophen Rousseau, Montaigne und Diderot. Oder waren sie tatsächlich „bestialische Kannibalen“, wie so viele andere Chronisten schrieben? Wie sollte man sie also definieren, wenn die einen sich brutal und unzugänglich zeigten – wie zum Beispiel die Aimoré, die Menschenfleisch assen, „zu ihrer Ernährung und nicht etwa aus Rache, oder um ihren Hass zu befriedigen“. Oder andere, die so zahm und friedlich waren, wie zum Beispiel die Carijó – „die besten Eingeborenen der Küste“?

Die indianischen Völker, welche heute in Südamerika leben, stammen von Jägern ab, die durch den Isthmus von Panama aus Nordamerika gekommen sind, und deren Nachfahren sich auf den gesamten Kontinent verteilten – schon vor ein paar Jahrtausenden. Von jener Epoche an bis in die Neuzeit haben diese Völker unterschiedliche Sitten und Gebräuche innerhalb ihrer sozialen Gemeinschaften entwickelt und sich auf den Gebrauch und die Anwendung der natürlichen Ressourcen in ihrem jeweiligen Lebensraum perfekt eingestellt.

Auch über die Besetzung des südamerikanischen Kontinents besteht noch keine übereinstimmende Meinung hinsichtlich des genauen Zeitpunkts. Bis vor einigen Jahren war die Mehrheit der Archäologen der Ansicht, dass die ersten Menschen hier vor rund 11.000 Jahren eingewandert seien. Aber neue Beweise menschlicher Anwesenheit aus den brasilianischen Bundesstaaten Bahia und Piauí erschüttern diese Theorie und würden die bisherige Annahme um noch ein paar Jahrtausende weiter zurück datieren – damit sind viele Archäologen aber noch nicht einverstanden. Die Notwendigkeit, dass alle bisherigen Annahmen überprüft werden müssen, ist jedoch immer wahrscheinlicher geworden.

ERST 515 JAHRE IST ES HER…

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…dass die Portugiesen an der brasilianischen Küste auftauchten und eine “weisse“ Einwanderungswelle auslösten, der sich bis ins 20. Jahrhundert hinziehen sollte. Unter Einsatz ihrer überlegenen Bewaffnung verdrängten sie die Ureinwohner rücksichtslos aus deren angestammten Gebieten. Der Prozess ihrer Kolonisation bedeutete für viele der eingeborenen Gesellschaften, die versuchten, sich auf den von den weissen Eindringlingen okkupierten Territorien zu halten, das endgültige Aus – entweder durch deren überlegenen Waffen, die aus Europa miteingeführten ansteckenden Krankheiten, oder einfach durch die Politik der „Angleichung an ihre neueingeführte europäische Gesellschaft“, die sie den Eingeborenen entweder durch die Versprechungen ihrer Priester oder durch die Überzeugungskraft ihrer Peitsche schmackhaft zu machen pflegten.

Sie haben die Indianer mit ihrer Grausamkeit und Gewinnsucht vertraut gemacht, mit ihrer Skrupellosigkeit zu lügen, zu betrügen und zu töten – die Männer zu versklaven, ihre Frauen zu vergewaltigen und das Indianerland unter sich aufzuteilen. Keiner der weissen Invasoren interessierte sich für ihre Kultur – im Gegenteil: sie glaubten, den Indianern die europäische Kultur aufzwingen zu müssen. Dieselben, welche ihnen alles genommen, boten ihnen nun ihren Gott als Wiedergutmachung an. „Ungläubige Pessimisten“ unter den Indianern begingen solidarischen Selbstmord, weil sie das Ende ihrer Welt kommen sahen – ein Stamm in Amazonien fing an, seine weiblichen Neugeborenen zu töten, damit sie nicht später zur Prostitution in Goldgräber-Camps gezwungen werden konnten – und entschieden sich damit selbst fürs Aussterben.

karte_sdamerikaMan ist sich nicht genau im klaren über die Zahl der Ureinwohner zur Zeit der ersten europäischen Einwanderungen – entsprechende Schätzungen beweisen, durch ihre enormen Unterschiede, die wissenschaftliche Unsicherheit in dieser Frage – sie liegen zwischen sechs und zehn Millionen Eingeborenen. Immerhin reichen diese Zahlen, um eine Vorstellung vom Ausmass der Vernichtung der Indianervölker zu bekommen, dessen sich die Kolonisatoren im Lauf dieser fünfhundert Jahre schuldig gemacht haben.

Nach anderen Schätzungen lebten allein im Amazonas-Becken um die 5,6 Millionen Indianer. Aus denselben Schätzungen geht auch hervor, dass allein innerhalb der heutigen Grenzen Brasiliens um die 1.300 verschiedenen Sprachen von den unterschiedlichen eingeborenen Gesellschaften gesprochen wurden. Hunderttausende von Indianern starben durch direkten und indirekten Kontakt mit den weissen Eindringlingen, durch Ansteckung und Übertragung von deren so genannten „Zivilisationskrankheiten“, wie Grippe, Mumps und Diphtherie. Andere noch gefährlichere, wie Tuberkulose und Pocken, rotteten ganze Völker aus, weil diese über keine natürlichen Antikörper in ihrem Blut verfügten, die jenen bisher unbekannten Viren gewachsen waren.

Angesichts des demografischen und gesellschaftlichen Zusammenbruchs durch die europäischen Eroberer, stellten einige Wissenschaftler die These auf, dass die Richtlinien der Indianer von heute, hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Organisation und der Nutzung ihrer natürlichen Ressourcen, nicht mehr die gleichen seien, wie die ihrer Vorfahren vor der europäischen Invasion. Und diese These wurde zu einem Diskussionsthema, denn es gibt noch nicht genug Daten aus archäologischen wie bioanthropologischen Untersuchungen oder aus der Geschichte der Indianer selbst, die entweder die eine oder die andere Meinung bestätigen könnten.

ENTWURZELUNG

entwurzelungDezimiert durch eingeschleppte Krankheiten, wie Grippe, Masern und Pocken, zu Tausenden in die Sklaverei gepresst und zu Abertausenden in kriegerischen Zusammenstössen getötet, ist die Gesamtzahl der brasilianischen Indianer heute auf rund 600.000 Individuen geschrumpft – weniger als drei Maracanã-Stadien voll! Und trotzdem: dieser „Rest“ besteht aus Repräsentanten von 230 Völkern mit 170 unterschiedlichen Dialekten!

Wenn man sich einmal die Verteilung der Indianerstämme im brasilianischen Territorium von heute auf der Landkarte ansieht, dann kann man deutlich deren konstanten Rückzug vor der historischen wirtschaftspolitischen Expansion erkennen. Völker, die an der atlantischen Ostküste lebten – in ihrer Mehrheit vom linguistischen Stamm der „Tupi“ – wurden überwältigt oder vernichtet, Reste flüchteten in unzugängliche Gebiete des Inlands, um zukünftig jeglichen Kontakt mit Weissen zu vermeiden. Noch existieren mindestens 50 Gruppen, die niemals Kontakt mit der Zivilisation hatten – bei 41 dieser Gruppen weiss man nicht einmal ungefähr, in welchem Lebensraum. Trotzdem scheint ihr Schicksal bereits besiegelt: die Ausrottung verfolgt und bedroht sie.

Die vom Aussterben heute am meisten bedrohten Stämme sind die Xetá, aus dem Bundesstaat Paraná – von ihnen sind noch 3 Personen übrig. Und die Juna, aus dem Bundesstaat Amazonas – übrig sind 7 Mitglieder. Die Avá-Canoeiro – übrig sind noch 14 Mitglieder, von denen man nur mit 6 Kontakt hat. Dagegen zahlenmässig gut situierte Stämme sind die Tikuna – mit 23.000 Mitgliedern, die Xavante – mit zirka 9.000 und die Kaiapó. Das Durchschnittsalter dieser Indianer liegt bei 17,5 Jahren, denn mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung ist weniger als 15 Jahre alt. Die mittlere Lebenserwartung liegt bei 45,6 Jahren und die Kindersterblichkeit ist enorm hoch: 150 von 1.000 Neugeborenen.

Unter den zahllosen Dramen in der Geschichte der brasilianischen Indianer war der kollektive Selbstmord der Guarani-Caiová, in Mato Grosso do Sul, eines der Aufsehen erregendsten. Eingepfercht in unproduktive Reservate, unter einem fast sklavischen Arbeitsregime und von allen ihren traditionellen Sitten und Gebräuchen entwurzelt, bevorzugten 236 Caiovás den Suizid innerhalb von nur einem Jahrzehnt. Allein im Jahr 1995 waren es 54 Indianer, die einen Ausweg im „Deduí“ suchten – dem rituellen Selbstmord – den sie, poetisch und tragisch zugleich, das „Auslöschen der Sonne“ nennen.

Im Dezember 1995 begab sich der damalige Justizminister Nélson Jobim nach Mato Grosso do Sul und erweiterte die Fläche eines der kleinsten Caiová-Reservate. Am gleichen Tag hängte sich Odair Lescano am Ast seines Avocado-Baums vor seiner Hütte auf. Der junge Indianer war gerade mal siebzehn Jahre alt. Wenige Wochen vor dem Freitod des jungen Lescano hatten Anthropologen der „Fundação Nacional do Índio“ (FUNAI) im Bundesstaat Rondônia einen Mann und eine Frau eines bis dato unbekannten Indianer-Volkes kontaktiert, nach deren Aussage ihr gesamter Stamm von Fazendeiros der Gegend ausgelöscht worden war. In Brasilien ist die Kolonialzeit immer noch gegenwärtig – besonders in den Köpfen zahlreicher pseudo-zivilisierter Farmer, Goldsucher, Holzfäller und anderer Krimineller.

Unter den wenigen „angepassten“ Stämmen haben nur die „Fulniô“ (in Pernambuco), die „Maxacali“ (in Minas Gerais) und die „Xokleng“ (in Santa Catarina) sich ihre Originalsprache bewahrt. Und kurioserweise entstammen Ihre Sprachen nicht dem „Tupi“, sondern alle drei sind „Makro-Jê“ Dialekte. Die linguistischen „Guarani“-Stämme, deren Vertreter heute in diversen Bundesstaaten des brasilianischen Südens zuhause sind, sind erst vor relativ kurzer Zeit aus dem inneren Westen an die Küste emigriert – auch sie sprechen noch ihre Originalsprache. Andere Stämme, im Nordosten und Südosten des Landes, haben ihre Originalsprache dem Portugiesisch geopfert – bis auf wenige Worte, die manchmal noch bei bestimmten Ritualen und anderen kulturellen Anlässen benutzt werden.

Der grösste Teil derer, die sich nicht nur ihre Sprache sondern auch ihre Original-Lebensweise bewahrt haben, lebt heute im Norden, dem Mittelwesten und im Süden Brasiliens. In den andern Gebieten sind sie durch die sich ausbreitende Urbanisation verdrängt worden.

WER IST EIN INDIO?

Die Ureinwohner Amerikas wurden von den europäischen Eroberern „Indianer“ genannt, weil diese anfangs glaubten, die Küste von Indien erreicht zu haben, wie wir wissen. Aber selbst als sie diesen Irrtum längst eingesehen, behielten sie diese genetische Bezeichnung bei und ignorierten damit, ganz bewusst, sämtliche kulturellen und linguistischen Unterschiede zwischen den einzelnen Völkern. Es war einfacher, die Eingeborenen alle wie eine einzige Rasse zu behandeln, denn das Interesse der Eroberer an ihnen erschöpfte sich in der politischen, wirtschaftlichen und religiösen Herrschaft über sie.
Angefangen in der Kolonialzeit, und auch im späteren Verlauf der Geschichte kaum verändert hat sich Grundsatzfrage, wer als „Indianer“ bezeichnet zu werden hat, und wer nicht – eine Definition, die man per Gesetz zu klären suchte. Seit ihrer Unabhängigkeit von den europäischen Metropolen, wendeten verschiedene amerikanische Länder eine unterschiedliche Gesetzgebung auf ihre jeweilige eingeborene Bevölkerung an, und es wurden offizielle Institutionen gegründet, die sich mit den „Angelegenheiten der Indianer“ befassten.

wer_ist_ein_indianerIn den letzten Jahrzehnten hat sich unter den Autoritäten auf dem Gebiet der Eingeborenen-Thematik das Kriterium der ethnischen Selbstdarstellung durchgesetzt. Bereits in den fünfziger Jahren stützte sich der brasilianische Anthropologe „Darcy Ribeiro“ auf die Definition der von den Teilnehmern des „II Congresso Indigenista Interamericano“, in Peru 1949, erarbeiteten Textes und definierte den „Indianer“ folgendermassen: „…ist jene Parzelle der Bevölkerung, welche Probleme der Anpassung an die brasilianische Gesellschaft präsentiert, die aus der Bewahrung von Sitten und Gebräuchen motiviert werden, die sie an eine präkolumbianische Tradition binden.“ Und noch ein bisschen erweitert: „Indianer“ sind alle die Individuen, welche von einer präkolumbianischen Gesellschaft, die sich ethnisch von der nationalen unterscheidet, als Mitglieder anerkannt werden und, darüber hinaus, auch von der brasilianischen Bevölkerung, mit der sie Kontakt haben, als Eingeborene bezeichnet werden“. Eine ähnliche Definition hatte man am 19. Dezember 1972 in das Indianergesetz (No 6.001) aufgenommen, welches den Relationen der brasilianischen Regierung mit den Indianern zur Orientierung diente, bis im Jahr 1988 eine neue Verfassung erlassen wurde.

Demnach kann also eine Gruppe von Personen als Eingeborene anerkannt werden oder nicht, je nachdem sie sich selbst als solche bezeichnet – oder nicht! Und, wenn sie von der sie umgebenden Bevölkerung für “Eingeborene“ gehalten werden – oder auch nicht!

Obwohl dies tatsächlich die am meisten benutzten Kriterien sind, hat man ihre zweifelhafte Logik erkannt und zur Diskussion gestellt – denn inzwischen haben gewisse Elemente jene Definition aus rein politischem Interesse sinnentfremdet – andere möchten aus wirtschaftlichen Gründen „Indianer“ werden – zum Beispiel, weil sie im Fluss eines Indianer-Territoriums Gold entdeckt haben!

nach obenDIE GESCHICHTE HAT SIE VERGESSEN

Die brasilianische Geschichte hat nicht einen einzigen indianischen Helden registriert – nicht einmal die, welche den Portugiesen geholfen haben, das Land zu erobern, wie zum Beispiel Tibiriça, der São Paulo gerettet hat – Araribóia, der die Franzosen besiegt hat – oder Felipe Camarão, der die Holländer vernichtend schlug. Es gibt weder einen indianischen Athleten noch einen eingeborenen Schriftsteller oder Poeten. Es gab einen indianischen Politiker – den Häuptling Mário Juruna – aber den hat man in einem Vorort von Brasília vergessen. Raoni, der Häuptling der Txucarramãe, ist ein Held – aber nicht in Brasilien. Er ist der Held von Sting, dem englischen Popstar mit den guten Absichten und dem schlechten Gewissen. Raoni hat sich in eine ökologische Botschaft verwandelt. Er ist zu einem so unstimmigen Bild geworden, wie das Gemälde „Der letzte Tamoio“: Kein einziger Jesuit hat je den Tod des letzten Tamoio beweint! Denn die waren nämlich Alliierte der Franzosen und wurden durch die Jesuiten-Pater verraten!

Ob wohl einmal jemand den Tod des letzten Yanomami-Indianers beweinen wird?

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