Laune des Schicksals

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Eines schönen Tages lässt Sankt Petrus folgende Bekanntmachung an der Tür zu seinem Kabinett anschlagen: “Jeder verstorbene Kandidat hat zu seiner Aufnahme in den Himmel einen Bericht über den letzten Tag in seinem Leben abzugeben“.

Der erste Kandidat tritt ein. “Haben Sie die neue Bekanntmachung gelesen“? fragt Sankt Petrus ihn.
“Ja, hab ich”, antwortet der Mann.

”Dann fangen Sie gleich mal mit Ihrer Geschichte an”, fordert Petrus ihn auf.

Der Mann, ein bisschen verlegen, räuspert sich und beginnt dann mit der Schilderung des letzten Tages in seinem Leben: ”Nun, es war ein ganz normaler Arbeitstag, aber dann verspürte ich nach dem Mittagessen in unserer Kantine so einen stechenden Schmerz in der Magengegend – mein Chef befreite mich von meinen Verpflichtungen und ich ging nach Hause. Ich wohne – Verzeihung, wollte sagen: ich wohnte – im dreizehnten Stock eines sehr hohen Gebäudes. Also ich komme dort an, nehme den Aufzug nach oben, und als ich den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür drehen will, merke ich, das sie von innen verriegelt ist – aber ich konnte hören, dass jemand da war. Also hab ich geklopft – einmal, zweimal – “Frau, mach die Tür auf“, hab ich dann schliesslich gebrüllt.

”Ich komm gleich – ich komm ja schon“, hörte ich sie von drinnen antworten.
“Mach schon auf“, brüllte ich zurück – und spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss.
“Beruhige Dich, Mann, ich komm ja schon. Wart nur noch einen Moment” – kam es zurück.
”Ich will mich aber nicht beruhigen – wenn Du jetzt nicht sofort die Tür aufmachst . . . ” – sie machte sie nicht auf.

Stattdessen dauerte es ganze fünf lange Minuten, bis sie sich endlich bequemte, den Riegel zurück zu schieben, damit ich eintreten konnte.

Ich hab gleich bemerkt, dass sie im Nachthemd vor mir stand – und ihre Haare waren völlig aus der Fassung. Also lag doch der Gedanke nahe, dass sie mich betrog. Ich rannte ins Schlafzimmer. Das Bett war ungemacht, die Kissen auf dem Boden verstreut. In diesem Moment schlug ein Luftzug die die angelehnte Tür zur Veranda zu. Ich öffnete sie wieder mit zitternden Händen und sehe zu meiner Überraschung zwei nervige Hände, die sich an die unteren Streben des Balkongitters klammern. Ich mache mir gar nicht erst die Mühe, mir den Kerl anzusehen, dessen Körper unterhalb des Balkons nach aussen herunterhängt, sondern trete ihm – pah, pah, pah – mit aller Kraft auf die rechte Hand. Der Kerl leistet keinen Widerstand, zieht seine rechte Hand zurück, aber hält sich weiterhin mit der linken am Balkongitter fest. Also ich noch einmal – pah, pah, pah – jetzt auf die linke Hand. Er scheint ein zäher Bursche – nur sein kleiner Finger klammert sich jetzt noch ums Gitter. Ich schlag drauf mit einem leeren Blumentopf und der wachsbleiche kleine Finger gibt nach . . . erst dann hab ich mich über den Balkon gebeugt, um den Sturz des Mannes zu verfolgen . . .

Aber der Mistkerl schlägt auf der nächsten Balkonbrüstung auf, sein Gewicht reisst ihn weiter nach unten, wo sein Fall wieder vom nächsten Balkon gebremst wird, dann vom nächsten und so weiter – und was soll ich Ihnen sagen: er fällt schliesslich in eine Baumkrone – lebend. Doch, wenn ichs ihnen sage: er war nicht tot! Da hab ich noch mehr Wut gekriegt, bin in die Küche gerannt und habe unseren 440-Liter-Kühlschrank auf den Balkon geschoben – hab ihn hochgestemmt und über den Rand des Balkons hinter dem Kerl hergeworfen – es war mein Pech, dass ich dabei mein Gleichgewicht verlor, weil ich meine Hand im Kühlschrank eingeklemmt habe – ich stürzte hinterher.

“Sehr traurig – furchtbar traurig“, sagt São Pedro. Aber treten Sie ein.

”Der Nächste bitte”! wendet sich Sankt Petrus an die Wartenden – und der nächste Verstorbene tritt vor seinen Tisch.

“Haben Sie sich schon mit der neuen Bekanntmachung vertraut gemacht“? fragt Sankt Petrus ihn.
“Ja, hab ich, sagt der zweite Mann.
“Dann erzählen Sie mir mal Ihre Geschichte“.

“Es war mein freier Tag. Nachdem ich die Zeitung gelesen hatte, die Nachrichten im Fernsehen angeschaut, mein Mittagessen eingenommen und ein bisschen danach eingenickt war – erinnerte ich mich beim Aufwachen am Nachmittag, dass ich noch eine durchgebrannte elektrische Birne auf unserer Veranda hatte auswechseln wollen, bevor es Nacht würde. Also holte ich unsere Leiter, stellte sie unter der durchgebrannten Lampe auf und kletterte hinauf. In diesem Moment höre ich aus dem Appartement unter mir ein lautes Geschrei – Mann und Frau offensichtlich n einem furchtbaren Streit begriffen, die hin und herfliegenden Schimpfworte trieben mir die Schamröte ins Gesicht. Neugierig beugte ich mich über das Gitter unserer Veranda – ich wohne im vierzehnten Stock eines hohen Mietshauses – verliere das Gleichgewicht und stürze nach unten. Geistesgegenwärtig gelingt es mir, mich am Rand der Veranda unter mir mit beiden Händen anzukrallen – da sehe ich einen Kerl, der fängt an, mir – pah-pah-pah – auf di rechte Hand zu treten. Drei oder vier schmerzhafte Fusstritte, dann hielt ich den Schmerz nicht mehr aus und musste ich die rechte Hand loslassen. Der Kerl trat mir jetzt rücksichtslos auf die linke Hand – pah-pah-pah – ich schrie vor Schmerz und hielt mich verzweifelt mit dem kleinen Finger fest – als der Verrückte auch den tratierte – und ich fiel nach unten“.     

”Ich verstehe“, sagte Sankt Petrus.

”Jedoch mein Fall wurde durch die zahlreichen Markisen der anderen Veranden stark gebremst – schliesslich landete ich in einer Baumkrone. Und als ich mich gerade aus der Umklammerung des Astgewirrs befreien wollte, schaue ich nach oben und sehe einen riesigen Kühlschrank, auf dem jener Kerl rittlings wie ein Cowboy thront, auf mich fallen – und jetzt bin ich hier“.

“Sehr, wirklich sehr traurig“, sagte daraufhin Sankt Petrus – ”der Nächste möge eintreten“!

Ein dritter Mann erscheint vor ihm.

“Kennen Sie die neue Bekanntmachung“? fragt Sankt Petrus auch ihn.
“Ja, haben es mir draussen erklärt“, antwortet der dritte Mann.
“Dann fangen Sie an mit Ihrer Geschichte“, fordert ihn der heilige Mann auf.

Der Mann räuspert sich und beginnt dann: ”Nun, ich befand mich in einem Kühlschrank . . .“

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AutorIn: Klaus D. Günther

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