Selbsterfahrung: Wie lebt es sich in Brasiliens Küstenregenwald?

Zuletzt bearbeitet: 8. Dezember 2020

Bewege dich nicht, gehe nicht über Los und ziehe keine 4.000 Euro ein. Ich habe die Schlangenkarte gezogen. Zusammengerollt liegt etwa einen Meter von mir entfernt eine Jararaca, eine giftige Viper. Die erste, die ich in meinem Leben in freier Wildbahn zu sehen bekomme. Und jetzt? “Wir werden sie einfangen”, bestimmt Alessandro. Aha. Hatte er nicht vor wenigen Sekunden noch gesagt, dass ich mich nicht bewegen soll? Stattdessen sagt er nun: “Hole ein großes Glas mit Deckel.” Alessandro nimmt einen Stecken, fuchtelt damit zwischen dem Tier und mir herum, um die Schlange abzulenken bis ich mich weit genug von ihr entfernt habe, wie er erklärt.

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Die Szene hat sich vor fünf Jahren abgespielt. Damals waren mein Mann Alessandro und ich nur wenige Wochen zuvor an den Rand des Atlantischen Regenwaldes, der Mata Atlântica, gezogen. Wir hatten ein 3,5 Hektar großes Grundstück etwa zehn Kilometer entfernt des Städtleins Antonina gekauft und auf einer Lichtung im Wald ein Holzhüttlein errichtet. Bis zur nächsten Teerstraße, die einzige, die es hier im Umkreis gibt, sind es 300 Meter entlang eines Waldweges. Der Wald bei uns ist ein Sekundärwald, das heißt er hat sich in den vergangenen Jahrzehnten von selbst gebildet, nachdem der Regenwald hier in den 60er Jahren abgeholzt worden war. Etwa drei Kilometer weiter vereint er sich jedoch wieder mit dem Urwald, in dem noch Puma, Affen und andere Wildtiere leben.

Als wir im Dezember 2008 unsere 12 Quadratmeter große Holzhütte bezogen waren wir absolute Regenwaldneulinge. Ich aus Deutschland, Alessandro aus der Stadt. Es war und ist ein kleines Abenteuer, auf das wir uns eingelassen haben. Ohne Strom, Wasser aus dem Brunnen, der nächste Nachbar gut 500 Meter über Feld- und Waldwege entfernt, fingen wir an, uns mit dem neuen Leben anzufreunden. Vieles ist anders, die Geräuschkulisse um uns herum, die Düfte des Waldes, die Abgeschiedenheit, der Lebensrhythmus und die Nähe zu den Tieren.

Aber zurück zur Schlange. Als Alessandro versucht, sie mit Hilfe eines Steckens aufzugabeln, schnellt sie mit ihrem Kopf samt Giftzähnen gen Stecken. Mir rutscht das Herz in die Hose. Doch Alessandro hat den Stecken fest im Griff und die Ruhe weg. Er schubst das Tier ins Glas und stülpt in Windeseile den Deckel drauf. Nachdem wir die Viper eingefangen haben, bringen wir sie zur SPVS, einer Nichtregierungsorganisation zum Schutz des Wildlebens, die vier Kilometer von uns entfernt eine ihrer Basisstationen hat. Einer der Mitarbeiter nimmt uns das Glas mit der Serpente ab, öffnet es und schüttelt die Schlange heraus. Sie fällt 20 Zentimeter neben seinen Füssen auf den Boden. Ich halte den Atem an. Was, wenn sie jetzt zubeißt? Der Todesmutige Mensch scheint meine Gedanken zu lesen. Er erklärt, daß Schlangen nicht einfach so angreifen. Vielmehr würden sie dies nur tun, wenn sie sich bedroht fühlten, wenn sie in die Enge getrieben würden oder jemand auf sie trete. “Was glaubst du denn an wie vielen Schlangen du täglich vorbei gehst, ohne dass du sie bemerkst?”, fragt er, während er der Jararaca zusieht, wie sie sich davon schlängelt. Ich gebe keine Antwort und will auch gar nicht wissen, wie viele im Gebüsch lauernde Schlangen mich beim Vorbeigehen im Verlauf des Tages so beobachten.

mata-atlanticaHeute erschrecken mich die Schlangen nicht mehr so schnell. Ich habe gelernt mit ihnen zu leben, laufe im Wald auch im Sommer und bei Sonnenschein mit Gummistiefeln herum, schaue wo ich hintrete und versuche, beim Gehen nicht so viel Lärm zu machen, um das Rascheln im Laub zu hören. Nicht immer ist es eine Schlange, die da raschelt. Manchmal ist es auch ein Tatu, ein Gürteltier, das im Boden nach Käferlarven, Würmern und sonstigen Speisen sucht. Die Gürteltiere sind alles andere als scheu und sie schmatzen wie europäische Igel. Das erste Geschmatze, das ich eines nachts direkt neben unserer Holzhütte hörte, erzeugte noch ein mulmiges Gefühl in mir. Schmatz, krunsch, schmatz machte es und wir bewaffneten uns mit Taschenlampen und Facão, einem großen Schlagmesser, um dem seltsamen Treiben auf die Spur zu kommen. Zu unserer Erleichterung erschien im Schein der Taschenlampe lediglich ein Ananas-großes Fossil, ein Gürteltier.

Affen sind mir noch nicht begegnet. João sagt, er hat etwa vier Kilometer weiter im Wald eine Gruppe von Bugios gesehen, Affen, die etwa einen halben bis einen Meter groß sind. João ist ein Bekannter, der regelmäßig durch “unseren” Wald streift, um Cipó zu sammeln. Cipó sind die Luftwurzeln der Philodendren, die als Aufsitzerpflanzen auf den Bäumen des Regenwaldes wachsen. Pro Pflanze nimmt João nur ein oder zwei Cipós und auch nur diejenigen, die sich noch nicht im Waldboden verankert haben. So kann der Philodendron weiterwachsen und für Cipó-Nachwuchs sorgen. Das Cipó entrindet João, schneidet es in Streifen und fertigt daraus Besen, die er in der Stadt verkauft. Aus dem Cipó werden aber auch Körbe, Kränze und andere Dinge gefertigt, die Touristen als Andenken und zur Dekoration kaufen.

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AutorIn: Gabriela Bergmaier Lopes · Bildquelle: Gabriela Bergmaier Lopes

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