Gerade eben erst hat sich die Dunkelheit über den undurchdringlichen Regenwald in Amazonien gelegt. Ein kleiner Jäger kommt aus seinem Versteck hervor, um im Schutze der Nacht auf Beutefang zu gehen. Geduldig wartet er zwischen den riesigen Blättern der Seerose “Vitória-régia“ auf seinen Moment. Die Geräuschkulisse hat sich merklich verändert.
Wo noch vor wenigen Minuten die Vögel den Ton angaben, erfüllt nun das Quaken der Frösche die immer noch schwülwarme Luft, hier in einem Nebenarm des Rio Negro nahe Manaus. Doch irgendetwas stimmt nicht, etwas stört die Idylle in dem Nationalpark im Norden Brasiliens. Zuerst war es nur ein dumpfes Grollen, nun zucken plötzlich Blitze durch die Nacht. Ein gleissendes Licht blendet ohne Vorwarnung den Jäger, dann verdunkelt ein mächtiger Schatten den Sternenhimmel. Zunächst hatte er regungslos das Geschehen beobachtet, und als er im letzten Moment ins schützende Wasser abtauchen will, ist es bereits zu spät.
Der Jäger war längst selbst zum Gejagten geworden. Mit brachialer Gewalt reisst man ihn aus seinem Lebensraum heraus, sein Körper wie von Schraubstöcken umklammert und fixiert. Überall sind nun seltsame Lichter, Blitze, unheimliche Stimmen. Er versucht sich zu wehren, doch dies verstärkt nur den Druck auf seinen Hals und seinen Schwanz. Plötzlich ein Schmerz im Auge, schützend versucht er seine Unterwasserlinse darüber zu legen. Schläge auf den Kopf lassen ihn reflexartig das Maul öffnen und durch die Manipulation seiner Fortpflanzungsorgane präsentiert er unfreiwillig sein Geschlechtsteil.
Dazwischen immer wieder dieses gleissende Licht und diese fremde Macht, die jedes Teil seines Körpers berührt und ihm bei jeglicher Gegenwehr zumindest kurzzeitig die Luft zum Atmen nimmt. Und dann ist es vorbei. Noch panisch vor Angst liegt er wieder im Wasser, der Schatten verschwindet so schnell wie er gekommen war. Der Gejagte bleibt alleine in dieser nun eigenartigen Stille zurück, unfähig zu verstehen, was soeben passiert ist und warum er überlebt hat. Aber sein Instinkt sagt ihm, dass es da draussen in der Dunkelheit einen weiteren Feind gibt, den man fürchten muss. Einen übermächtigen Gegner, das unbarmherzigste Raubtier in seiner Welt.
“Ich hoffe die Fotos sind was geworden“ so Mike* nach der Aktion noch völlig aufgeregt. Der 36-jährige hatte soeben einen rund 50 Zentimeter grossen Mohrenkaiman aus dem Wasser gezogen. Zuvor hatte der Tour-Guide es schon vorgemacht und so den Jagdinstinkt des Computerspezialisten geweckt. Für Mike, der mit seiner Freundin einen vierwöchigen Brasilien-Trip unternimmt, war es der Höhepunkt eines Tagesausflugs. Und dieser hatte sich im Vorfeld ganz und gar nicht aufregend angehört. Da ging es zunächst lediglich um das Zusammenfliessen des Rio Negro und Rio Solimões zum Rio Amazonas, Mittagessen auf einem Hausboot und der Besuch eines Urwaldriesen mit anschliessender Erkundung der Flora der Region. Doch die Agentur wusste, dass Mike einen Kick „Abenteuer“ wollte. Mit dem Versprechen, zum Abschluss ein „wildes Krokodil“ zu fangen, überzeugte er das Pärchen letztlich, die fast 200 Euro teure Tour bei ihm zu buchen.
“Showtourismus“ nennt dies Günter Stysch als Inhaber des auf das Pantanal und die südliche Amazonasregion spezialisierten Reiseveranstalters Pantanal-/Amazonastours. Seinen Führern hat er diese Praktiken strengstens verboten, auch seine Gäste klärt er im Vorfeld darüber auf. “Wir wollen die natürlichen Verhaltensweisen der Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten, das ist kein Streichelzoo“ so Stysch. Allerdings sind auch ihm Fälle von anderen Agenturen zu Ohren gekommen, wo sowohl aus Konkurrenzdruck als auch auf Drängen der Urlauber Fotos und Videos mit eingefangenen Kaimanen und Anakondas ihren Weg ins Urlaubsalbum fanden.
Für Natalia Lima von der Umweltschutzbehörde Ibama in Manaus sind diese Aufnahmen wichtige Beweismittel. Denn die Gesetzeslage ist eindeutig. Das “Gesetz über Umweltverbrechen“ stellt unter anderem das “Jagen, Verfolgen und Anfassen wilder Tiere“ unter Strafe. Zudem könne sogar der Paragraph über Tierquälerei zur Anwendung kommen, wobei hier die Beweislage sehr schwer sei, da ein entsprechendes Gutachten eines Veterinärs vorliegen müsse.
Bestraft werden die Vergehen mit Haft zwischen sechs und zwölf Monaten sowie Geldstrafe. Dabei müssen nicht nur die Führer einer solchen Tour sondern auch die Touristen mit einer entsprechenden Verurteilung rechnen, sollte ihnen eine aktive Beteiligung nachgewiesen werden. Der Agentur droht nach Angaben der brasilianischen Tourismusbehörde Embratur zudem der Entzug einer entsprechenden Lizenz.
Mike war dies allerdings nicht klar. Er vertraute ganz im Sinne der Versprechungen seines Tour-Anbieters auf die Legalität der Aktion. Und hat damit noch nicht einmal ganz Unrecht. Denn anscheinend kann man damit sogar ungestraft Werbung machen. Im Vorraum des weltbekannten “Teatro Amazonas“ im Herzen der Millionenmetropole Manaus liegen unter anderem Programme eines Veranstalters aus, in dem ganz offen das “Fangen eines Kaimans“ angeboten wird. Andere drucken sogar Bilder mit den gefangenen Reptilien auf ihre Hochglanzprojekte, wieder andere stellen kurze Werbeclips davon auf die Videoplattform YouTube.
Dass etwas, für das so offen geworben wird, dann tatsächlich verboten sein soll, diese Vorstellung dürfte den Urlaubern auf der Suche nach ein wenig Abenteuer und Exotik im grössten Waldgebiet der Erde sicherlich schwerfallen. Die Veranstalter selbst finden am Einfangen der Tiere auch auf Nachfrage nichts Schlimmes. Den Kaimanen und Schlangen passiere ja nichts, ausserdem werden sie ja bereits nach wenigen Minuten wieder ausgesetzt. Viel verheerender seien die illegale Jagd und der Schmuggel von Fauna und Flora zu Sammlern ins Ausland, so die vorgebrachten Argumente.
Auch würden sich manche fotografierten Tiere sowieso bereits im Besitz von den dort lebenden Flussbewohnern befinden. Dort könnten sich Touristen gegen ein geringes Entgelt mit einem Faultier, Papagei oder einer Riesenschlange ablichten lassen. Für die “Caboclos“ genannten Nachfahren von Ureinwohnern und Kolonisten sei dies oftmals die einzige Einnahmequelle. Das ursprünglich in der Wildnis lebende Geschöpf sei für die Menschen in der Region nichts anderes als ein Haustier, vergleichbar mit einem Wellensittich, einem Hund oder einer Katze in den Wohnungen der Grossstädte. Und ein Foto zu machen sei zudem keine Tierquälerei.
Konfrontiert mit diesen Äusserungen zeigt sich Natalia Lima von der Ibama zunächst überrascht, verweist dann jedoch vielleicht ein bisschen zu schnell auf die riesige zu überwachende Fläche der Amazonasregion, knappe personelle Ressourcen sowie auf die oftmals fehlende Mitarbeit der Bevölkerung. Hier müssten die Verantwortlichen bei entsprechender Kenntnis umgehend angezeigt werden, natürlich gehe dies auch anonym. Nur dann könne man konkret handeln. Zudem wäre es überaus hilfreich, die Übeltäter auf frischer Tat zu ertappen. Je mehr und je detaillierte Informationen dabei zur Verfügung stünden, desto erfolgreicher sei dann eine entsprechende Aktion durchzuführen.
Zu den als Tour-Highlight offen propagierten Gesetzesverstössen, die in Form von Flyern und Werbebroschüren öffentlich an zahlreichen Sehenswürdigkeiten und in fast allen Hotels und Pensionen der Stadt ausliegen oder im Internet abrufbar sind, war man dann allerdings zu keiner Stellungnahme mehr bereit. Auch eine Nachfrage beim Tourismusamt der Stadt führte bislang zu keinem Ergebnis.
“Die Touristen müssen generell besser aufgeklärt werden“ fordert diesbezüglich Günter Stysch von den Behörden. Denn nur dadurch könnten die Urlauber solche Aktionen vorher aus dem Tourprogramm streichen, eine Beteiligung ablehnen oder bei einem entsprechenden Vorschlag des Tour-Guides protestieren. Man müsse sich stets vor Augen halten, dass gerade die im Amazonasgebiet vorkommenden Arten Mohrenkaiman (Melanosuchus niger) und Krokodilkaiman (Caiman crocodilus) seit Jahren auf der Rote Liste der gefährdeten Arten stünden. Solche barbarischen Eingriffe könnten schnell die Lebensweise der Reptilien verändern und damit möglicherweise auch die Reproduktionszyklen beeinträchtigen.Ob so etwas tatsächlich Wirkung zeigen dürfte, bleibt abzuwarten. Mike schwärmte auch noch beim Abendessen nach der Rückkehr ins Hotel von seinem Erlebnis. Seine Freundin, die den “stolzen Jäger“ digital festgehalten hatte, konnte zumindest teilweise die Gesetzeslage nachvollziehen. “Den zweiten hätte man vielleicht nicht mehr fangen müssen“ erklärte sie unsicher und lenkte das Gespräch dann schnell wieder auf die Aktivitäten des kommenden Tages. Da wolle man im Urwald einige Wasserfälle besuchen. Ganz unspektakulär und bestimmt auch ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von agência latinapress