Ein Autor im Dienst des Bewusstseins
Vor ca. zwei Jahren habe ich die Freude erlebt, Airo Zamoner durch einen Freund, den Schriftsteller Nelson Hoffmann, kennen zu lernen. Es wurden Tausende Ideen ausgetauscht und zwar fast täglich. Airo ist brillant nicht nur als Mensch, sondern auch in seiner Literatur. Sein Werk ist enorm, und wird jeden Tag in unzähligen Publikationen veröffentlicht.
Sein Produktionsrhythmus ist aussergewöhnlich, da man nicht sagen kann, dass er dafür viel Zeit zur Verfügung hat. Die Kreationsübung ist Teil seines alltäglichen Lebens unter so vielen anderen Aktivitäten. Airo Zamoner ist noch der Direktor des Verlages Protexto in Curitiba, Hauptstadt des Bundesstaates Paraná, im Süden Brasiliens.
Interview: Tânia Gabrielli-Pohlmann ©
Deutsche Version: Tânia Gabrielli-Pohlmann und Clemens Maria Pohlmann ©
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Airo, erzähle uns ein bisschen über dich. Wie war deine Kinderzeit, zum Beispiel?
Airo Zamoner
Meine Kinderzeit war gar nicht ruhig. Meine entfernste Erinnerung davon führt mich in mein zweites Lebensjahr, als ich meine ältere Schwester zur Schule begleitete, in meiner Geburtsstadt Joaçaba, Bundesstaat Santa Catarina. Es war eine kirchliche Schule, in welcher ich immer sehr gut behandelt wurde, sogar verwöhnt… Auf dem Rückweg kam ich immer an die Kantine meines Opas vorbei. Dort gab es immer Gespräche, eine Süssigkeit, eine Zärtlichkeit. Nach einer Weile sind wir nach Londrina, im Bundesstaat Paraná, umgezogen, wo ich dann bis meinen elf Jahren gelebt habe. Ich habe immer ein sehr schwieriges und streitsüchtiges Temperament gehabt und konnte mich kaum mit etwas abfinden, ohne streiten zu wollen. Daher wurde ich von der privaten Schule Nossa Senhora do Carmo verwiesen. Dann musste ich zu einer “Grupo Escolar“, so hiessen damals die öffentlichen Schulen. Da mein Vater eine Farm zwischen Maringá und Paranavaí hatte, gab es wenige Schuloptionen für die Jungs. Ich glaube, dieser Zustand und dazu noch meine Verhaltensprobleme haben dazu geführt, eine Zeit auf dem Internato Paranaense, einem Internat in Curitiba, zu Leben und zur Schule zu gehen. Aber es war genau dort, dass ich noch mehr Spass beim Lesen entdeckt habe. Dort lebten wir in einer Art doppelten Stadt: es gab die “offizielle Stadt“, in welcher alle Regeln beachtet wurden, und jedes Gespräch den Regeln nach geführt wurden, und es gab “unsere Stadt”, mit ihren eigenen Regeln, die da waren, um beachtet oder gebrochen zu werden. Sogar “Gewalt” gab es in “unserer Stadt” und, auch wenn es unglaublich klingt, kamen manchen “Wesen” der offiziellen Stadt in “unserer Stadt” vorbei. Es waren schwere aber sehr produktive Jahre. Morgens hatten wir Unterricht und nachmittags mussten wir auf die strengen Lernzeiten achten. Ausser Portugiesisch, hatten wir im Bereich Sprachen, Latein, Englisch und Französisch. Bis heute sind viele Spuren der grossen Lehrer, die ich gehabt habe, geblieben.
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Wie ist dein Bezug zur Literatur entstanden?
Bild Brasilia
Airo Zamoner
Damals, sowohl in Londrina, als auch im Internat, wurde der Schüler nicht verpflichtet zu lesen, aber wir mussten einmal in der Woche in die Bibliothek gehen, um ein Buch auszuleihen. Ich erinnere mich daran, das Buch der Woche leidenschaftsvoll zu lesen. Am ersten oder zweiten Tag hatte ich schon das ganze Buch gelesen und musste ungeduldig bis zu dem nächsten Besuch der Bibliothek warten, um ein neues Buch zu wählen. Im Internato Paranaense entdeckte ich Karl May, der mich sehr motiviert hat mit den elf Bänden seiner berühmtesten Kollektion über Abenteuer, die in jedem Punkt der Welt passierten. Figuren wie Winnetou und Old Shatterhand sind in meinem Gedächtnis geblieben. Nach Karl May, kamen andere Autoren, wie der Brasilianer Monteiro Lobato. Als “Lobatianer“ würde ich mich nicht bezeichnen, aber er war ein Teil meiner Allgemeinbildung, wie auch die klassischen Brasilianer und Portugiesen es waren. Damals gab es auch die so genannten “erlaubten“ und “verboten“ Lesungen. Die erlaubten Bücher lasen wir in der Öffentlichkeit. Die Comics mussten wir versteckt lesen. Und die haben mich sehr fasziniert, nicht nur wegen deren Kunst in sich, sondern auch wegen der spannenden Geschichten. Aber trotzdem waren sogar die als “naiv“ bezeichneten streng verboten. Wahrscheinlich war es eine Reminiszenz des Index Librorum Proibitorum…
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Welche Kriterien hast du, wenn du eine Kurzgeschichte, ein Buch oder eine Chronik beginnst?
Airo Zamoner
Für jedes Genre verpflichte ich mich, unterschiedliche Kriterien zu benutzen. Da ich wöchentlich für Zeitungen schreibe, ist die Chronik das am häufigsten Genre, das ich benutze. Im Laufe der Woche mache ich Notizen über interessante Themen. Aber dann passiert es häufig, dass ich keine von meinen eigenen Vorschlägen nehme, wenn ich den Text anfange. Zur Zeit ist die Politik das Thema, welches ich in meinen Chroniken nutze, meinem Kampf für eine verantwortlichere und gerechtere Welt wegen. Obwohl meine Kurzgeschichte normalerweise sehr kurz sind, fordern sie mehr Planung. Man muss natürlich ein Skizze machen, die Figuren bauen, auch wenn es nur um eine geht. Man muss dabei ein bisschen mehr schwitzen. Bei Romanen dann braucht man mehr Luft. Sogar eine Grafik mache ich, um die Fakten mit den Kleinigkeiten zu verbinden. Erst dann beginne ich die Textkreation.
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Clarice Lispector hat einmal in einem Interview gesagt, sie hätte die Literatur nie als Gefühlsausbruchsmittel benutzt. Schon in manchen deiner Texte, kann man deine Empörung gegenüber dem aktuellen brasilianischen politischen Zustand spüren. Wie schaffst du es, das poetische Element zu bewahren, trotz des “Gefühlsausbruchs“?
Airo Zamoner
Die Empörung ist aber auch poetisch, Tânia. Auch im Gefühlsausbruch gibt es immer Poesie. Andererseits, glaube ich nicht an diejenigen, die über “Kunst für die Kunst selbst“ in der Literatur sprechen. Ich weiss, dass sich manche darum bemühen, vielleicht mit der Absicht, den Lesern ein Gefühl zu vermitteln, dass sie über den Sterblichen seien. Ich kenne einen sehr renommierten Autor, der behauptet, er mache “nur Literatur“ und es sei ihm egal, ob seine Literatur die Menschen verändere oder nicht. Daran sei er gar nicht interessiert. Also, Tânia, vielleicht werde ich jetzt manche Leser enttäuschen, aber zu diesem “Team“ gehöre ich nicht. Da ich für Zeitungen schreibe, bekomme ich ein intensiveres Feedback, welches unterschiedlich ist, laut des Textes. Die Literatur ist auch eine Kommunikationsform, und daher “redet“ der Autor mit seinen Lesern. Ohne Zweifel vermittelt er Empörung, Trauer, Drama, Aufruhr, Poesie, Lyrik, Roman, Werte und alles was gewünscht wird. Meiner Ansicht nach, anders ist es nicht möglich…
Tânia Gabrielli-Pohlmann
“Übernatürliche“ Figuren und Elemente sind in vielen deiner Bücher, wie “Bagunçando Brasília“ (auch in Italienisch), “Os Diabanjos“ und auf dem neuesten “Contos de Curitiba“, zu finden. Bist du ein mystischer Mensch?
Airo Zamoner
Auf gar keinen Fall! Ganz im Gegenteil. Ich habe immer religiöse Schule besucht und die katholische Religion war immer dabei in meiner ganzen Kinderzeit und in einem Teil meiner Jugendzeit. Aber ich habe an der Kirche als Institution immer meine Zweifel gehabt. Schon als kleines Kind fühlte ich mich empört, immer wenn ich die teure Kleidung des Bischofs sah und seine Ringe, welche die Kinder in Reihen küssen mussten. Später, als ich Messdiener war, habe ich Sachen gesehen, welche ich lieber nicht erzähle… Damals habe ich meine Lehrer immer sehr gestört, meines Temperaments wegen. Schon damals war ich voll mit Zweifeln und das bin ich immer noch heute… Dogmen, Glauben, Mystizismus habe ich alle immer “Schach Matt“ gestellt. Definitiv, ich bin nicht “gläubig“. Danach habe ich mich in die Marxistische Doktrin vertieft und liess mich von so vielen Utopien zuerst faszinieren und danach von ihnen retten, bis dass ich entdeckt habe, dass ausserhalb der menschlichen Natur keine Rettung möglich ist, und das ist keine pure Güte. Daher habe ich die “diabanjos“ kreiert, als Bild davon, was wir selber sind. Das heisst, gleichzeitig Teufel und Engel, mal der Eine mal der Andere intensiver. So kreiere ich Figuren, die am Rande der Irrealität sind, nur um den Leser zur harten Realität zu führen. Der von dir erwähnte Fall auf “Contos de Curitiba“, zum Beispiel, war etwas sehr Merkwürdiges. Ich habe zehn Kurzgeschichten geschrieben, die an wichtigen Orten der Stadt Curitiba geschahen. Dafür bin ich sehr viel durch die Stadt gegangen, um zu recherchieren, zu analysieren und um mit den Menschen zu reden. Dabei bin ich sehr interessanten Menschen begegnet, die mir als Inspiration gedient haben, manche Figuren zu bauen. Es war ein sehr interessanter Kreationsprozess: von der Realität zur Fiktion.
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Wöchentlich schreibst du Texte für verschiedene Publikationen. In einem solchem Rhythmus ist das “Eintauchen in die Gefühle“ während des Schreibens zu erleben?
Airo Zamoner
Jedes Mal, wenn ich mich in meinem Studio einschliesse, um zu schreiben, glaube ich, dass ich eine Lücke in meinem Leben produziere. Dabei verschwindet alles und ich tauche in eine irreale Welt ein, die ausgehend von der Realität und den greifbaren Sinnen entsteht. Genau diese Sinne verbinden mich mit der literarischen Kreation, die sich fast immer “ausserhalb der Sinne“ befinden.
Bild os Egomnas
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Was bedeutet, für dich, das Schreiben?
Airo Zamoner
Kommunikation, ganz wesentlich. Obwohl das Schreiben eine einsame Tat ist, führt sie mich zu den Gedanken und Herzen vieler Leser. Da ich das Privileg habe, ein Feedback von vielen, die mich lesen, zu bekommen, komplettiert sich der Kommunikationszyklus Schriftsteller-Leser + Leser-Schriftsteller als ein Ganzes.
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Welche Autoren liest du?
Airo Zamoner
Für mich gibt es die “obligatorische Lektüre“, meiner Arbeit wegen, und der Lektüre als Vergnügen. Die obligatorischen sind die Manuskripte, die jeden Tag in den Verlag kommen, und welche ich im Laufe des Tages lese. Dabei leide ich auch mit den angespannten Autoren, die auf meine Antwort warten, und leider habe ich nicht immer gute Nachrichten… Also die Bücher, die ich am Bett habe und welche ich jeden Abend vor dem Schlafen lese: Vor kurzem habe ich “Budapeste“, von Chico Buarque beendet. Dann habe ich noch die folgenden vor: “O Fotógrafo“, von Cristóvao Tezza, der gerade von der Brasilianischen Literatur Akademie prämiert wurde, als bester Roman des Jahres 2004. Also, in meinem Alter glaube ich, dass ich mehr wiederlese als lese… Beispiel davon: Fustel de Coulanger mit “Cidade Antiga“. Bald möchte ich das Werk von Miguel de Cervantes wieder lesen. Motivation sind die Feierlichkeiten zu “400 Jahre Don Quijote de la Mancha“. Anschliessend: Tocqueville!
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Wie kamst du zu der Idee, Protexto zu gründen? Gab es den Verlag schon vor dem Portal?
Airo Zamoner
Den Verlag gibt es länger als das Portal. Es wurde mit dem Ziel gegründet, pädagogisches Material für die Informatik-Lehre zu veröffentlichen. Erst Anfang 1999 bekam Protexto auch das Profil eines Verlags mit literarischen Texten. Das Portal war einfach eine Konsequenz der heutigen Zeit, in welcher man ohne Internet nicht mehr überlebt.
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Manche deiner Bücher wurden von öffentlichen Schulen des Bundesstaates Paraná in ihren Kurrikulum aufgenommen. Hast du noch direkten Kontakt mit Schulen und Bibliotheken?
Airo Zamoner
Heut zu Tage weniger als in meiner so zu sagen ersten Phase, weil, wie du selber weisst, obwohl ich nie aufgehört habe Bücher zu veröffentlichen, habe ich fast zwanzig Jahren selbst nicht geschrieben. Erst 1999 habe ich damit wieder angefangen. Heute mache ich nicht mehr Treffen mit Schülern, sondern wird Kontakt nur über den Verlag gehalten. Aber ich fühle mich immer erneut zufrieden, dass meine Bücher aufgenommen, kommentiert, analysiert und kritisiert werden. Genau das ist was den Autor ergänzt und seine Aufgabe des Schreibens “erklärt“.
Tânia Gabrielli-Pohlmann
In deinem Buch “A Arte de Escrever – Desvendando Mistérios“ (“Die Kunst des Schreibens – Geheimnisse enthüllen“) nutzt du eine sehr einfache und spannende Sprachweise. Geht es um ein Buch, dass exklusiv für junge Menschen gedacht wurde?
Airo Zamoner
Dieses Buch wurde notwendig. Nach der Eröffnung des Portals hat sich die Kommunikation mit neuen Autoren sehr erweitert. Autoren, die noch Zweifel haben, ob was sie schreiben wertvoll ist oder nicht ist und diejenigen, die vom Literaturmachen begierig sind. Von daher ist ein Online Kurs entstanden, den ich persönlich leitete. Dabei wurden Autoren entdeckt, deren Werken veröffentlicht wurden, wie Maurício Cintrão, Arlete Meggiolaro, Ian Stein. Von Arlete wird bald schon das zweite Buch veröffentlicht werden. Mit diesem Kurs musste ich leider aufhören, weil er viel Zeit forderte, besonders weil ich immer eine persönliche Betreuung für jeden Teilnehmer anbieten wollte. Dann kam die Idee eines Buches, in welchem die Inhalte und Übungen des Kursus zusammengefasst wurden. Aber es geht nicht nur um ein Buch für die jungen Menschen. Es geht um ein Buch für jeden, der eine Art Gebrauchsanleitung zur Verfügung haben möchte, das ihm auf dem Weg zur qualitativen literarischen Produktion hilft.
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Hat der Anfängerautor eine Chance, im Portal sein Werk zu veröffentlichen? Welches sind die Kriterien für eine Veröffentlichung?
Airo Zamoner
Ja, es gibt die Chance, aber, wie du gut weisst, Tânia, die Qualität hat Priorität. Wenn jemand unser Portal besucht, kann er sicher sein, dass alles, was dort zur Verfügung steht, hohe Qualität hat. Um dieses Ziel zu erreichen, muss man streng sein, die Anfänger orientieren. Erst wenn der Anfänger viel gelernt und sein Werk verbessert hat, dann gibt es die Möglichkeit, im Portal veröffentlicht zu werden. Und, wenn ich es erwähnen darf, Tânia, spielst du da eine sehr wichtige Rolle, da du jeden Text analysierst und korrigierst, plus deinen Vorschlägen für Verbesserungen.
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Ja, Airo, man muss auf die Sprache aufpassen… Also, weiter: Glaubst du an den “Tod“ des Buches wegen des Internets?
Airo Zamoner
Darüber wurde sehr viel gesprochen. Es wurde auch von dem Tod der Zeitungen viel geredet. Und wenn die Verbindung gilt, muss man denken, dass die Zeitungen auch ihre elektronischen Versionen haben, aber trotzdem steigen die Auflagen. Mit dem Buch passiert das gleiche. Ich glaube auf gar keinen Fall an den “Tod“ des Buches in dem aktuellen Format. Es gibt entscheidende Unterschiede zwischen dem Papierbuch und dem E-Book, oder den Bücher in PDF und HTML. Diese Unterschiede begründen sich in der Art von Leser, der das Internet benutzt. Im Internet will er Schnelligkeit, kurze Texte, schnelle und genaue Informationen. Das so genannte E-Book oder die Bücher in PDF oder HTML, auch mit den “Gerätchen“, welche Bücher imitieren, bleiben immer noch ein tragbarer Computer, mit seinen ganzen Nachteilen. Das konventionelle Buch hat etwas! Etwas Undefinierbares sogar. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass es nie ausstirbt.
Tânia Gabrielli-Pohlmann
Airo, welche ist die soziale Rolle des Schriftstellers, besonders in Brasilien?
Airo Zamoner
So verneint es wird, jeder Schriftsteller will eine Reaktion durch sein Schreiben provozieren. Und noch mehr als Reaktion, er will Änderung bewirken. Das Wort ist eine stille aber machtvolle Waffe. Das Buch ist ein wahres Kriegsarsenal! Es ist auch Kunst, und diese Absicht soll es nie verlassen, aber trotzdem bleibt es ein Mittel der Transformation. Der Schriftsteller hat diese Verantwortung, auch wenn er sie nicht will oder wünscht. Das einzige Buch, welches die Gesellschaft nicht ändert, ist das nicht gelesene Buch. Gutes oder schlechtes, es wirkt immer etwas im Gedanken des Lesers. Die Literatur ist dem Volk im Ganzen noch nicht zugänglich, weil den Zugang zu dem was es heisst ein Bürger zu sein, erst langsam erreicht wird. Die Demokratie selber wird bedroht, wenn man kein Volk hat, welches sich nicht bewusst ist, ein Bürger zu sein, das heisst, ein Volk, welches sich seiner Rechte und Pflichten nicht bewusst ist. Ein Bürger ist derjenige, der seine Rechte fordert, weil er sie kennt. Und er achtet auch auf seine Pflichten, weil er sie auch kennt. Das Buch kann diese grundlegende Rolle haben, besonders in Brasilien. Es muss mehr Bibliotheken geben und die Ausleihe immer kostenlos sein. In Curitiba, zum Beispiel, haben wir die “Faróis do Saber“ (“Leuchtturme des Wissens”), eine hervorragende Idee, heute sogar computerisiert, welche die Buchausleihe in den Aussenbezirken der Stadt ermöglicht und verbessert hat. Von dem Leuchtturm Alexandrias und seiner fantastischen Bibliothek inspiriert, besitzen unsere “Faróis do Saber“ zwischen 2.000 und 5.000 Exemplare, mit einem ausgesuchten und wichtigen Bestand. So wird der Zugang zum Buch demokratisiert: mehrere Bibliotheken und Schulen voll mit Büchern. Letzten Endes es war nicht umsonst, das Castro Alves in seinem “Espumas Flutuantes“ geschrieben hat: “O! Gepriesen derjenige, der Bücher verbreitet! Bücher, Bücher mit vollen Händen… und führt das Volk zum Nachdenken! Das in die Seele fallende Buch ist Samen, die den Palmbaum macht. Es ist Regen, welches das Meer macht!“
CLAUDINE
Von: Airo Zamoner ©
Deutsche Version: Tânia Gabrielli-Pohlmann + Clemens Maria Pohlmann ©
In meinen Augen hebt sie sich ab. Sie hüpft Freuden. In ihrem Wirbeln restauriert ihr Spitze-Kleid antike Harmonien. Das winzige Händchen hält den übellaunigen Vater fest. Aus Gier, die Details der Welt kennen zu lernen, zieht sie ihn vorwärts. Leise schreiend schleppt sie ihn, motiviert sie ihn zu sehen. Sehen und seine Meinung zu geben. Um zu sagen, wie es schön ist, wie es hässlich, lustig, merkwürdig es ist, alles was sich ihren neugierigen Äuglein unverbindlich anbietet.
Das alles zu beobachten tut mir im Herzen weh. Meine Lust ist es, diesen Vater am Kragen zu packen. Ihn mit pädagogischer Gewalt auszuschütteln. Ihn aus seinen dreissig, vielleicht vierzigen Jahren aufzuwecken. Ihn dazu zu zwingen, das Glück zu spüren, welches umsonst seinen teilnahmslosen Arm entlang fliesst. Ihn anschreien, dass er mindestens ein Mal nach unten schaut, und damit ihn dazu zu bringen, das in dem freiwilligen schreienden Glück seiner Tochter, eine Forscherin der Welt, zu erkennen.
Ich halte mich zurück und er ist immer noch festgehalten von der Hand, die entdeckt, prüft, betastet und dem blinden Gesicht lächelt. Gleichgültig, ist er lieber in den knauserigen Korridoren seiner Probleme vertieft. Gar keinen solidarischen Blick. Verloren, bleibt er in den Geheimfächern voll mit pantographischem Müll, welcher die Welt vergittert – für ihn als Inferno verkleidet; für sie als Paradies verschmückt.
Sie gibt nicht auf. Mit der Kraft des Enthusiasmus zieht sie ihn. Der Vater krümmt den Körper und bricht seine Gleichgültigkeit ab. Für einen winzigen Zeitraum habe ich geglaubt, dass irgendetwas gespaltet würde und dadurch würde sich ein Lächeln ausgiessen, wenn nicht aus dem Mund, dann wenigstens aus den Augen. Aber nicht! Ganz im Gegenteil! Ein brutaler Tadel. Einen Ruck an den dünnen Arm und den Missbrauch harter Wörter.
Das Mädchen zieht den Körper zusammen. Sammelt die Lichter des Gesichtes ein. Die übrig gebliebene Hand richtet sich das Gesicht, und versucht erfolglos die salzigen Tränen abzutrocknen. Ihr Weinen erreicht meine Ohren und mein Herz zersplittert. Genau sie, die bisher wie Aufklärer kam, die Wege untersuchte, wird jetzt kürzer. Sie bleibt zurück und wird mit Eile mitgerissen. Ihre kleinen Schritte erreichen die des verrohten Vaters nicht. Sie stolpert und stürzt zusammen. Sie wird nur durch ihren empfindlichen Arm aufgerichtet. Ihre kleinen Füsse schleppen sich und einer ihrer Sandalen rutscht aus. Wehrlos lässt sie den Körper fallen. Es war ihre letzte Möglichkeit gegen die Kraft der Blindheit. Von den Schluchzern verhindert, artikuliert sie kein einziges Wort. Ihr winziger Finger richtet auf die fliehende Sandale und neue Beleidigungen dringen in ihre reinen Ohren ein.
Unbeweglich war mir nicht zu bleiben. Aus meiner gezwungenen Gleichgültigkeit gerannt, erreiche ich atemlos ihre rosafarbige Sandale. Ich ducke mich, nehme ich ihren kleinen Fuss und mit Zärtlichkeit reinige ich ihn bevor ich die rebellische Sandale wieder ihn anziehe.
Mit einem Taschentuch in der Hand, trockne ich ihr die reichlichen Tränen ab und sage ihr süsse Wörter. Sie hört auf, zu weinen. Der Vater verstummt. Ich rede über ihr schönes Kleid voll mit Spitzen. Es explodiert Lächeln, welches das Leid erschreckt. Ich richte sie auf und glätte ihr Kleid. Wir tauschen einen tiefen Blick aus. Ich frage ihren Name und sie stürzt sich auf meine Arme.
– Claudine!
Sie umarmt mich und die Passanten halten. Die Umarmung ist lang, zärtlich, wunderschön. Der Vater wird unbeholfen. Er bedroht ein Lächeln voll verfälschter Zärtlichkeit. Das Lächeln wird sofort abgetrieben. Wegen der Evidenz wird er verlegen. Von der Leiden und der Erfahrungslosigkeit angetrieben, rappelt er sich wieder. Er hebt sie mit Gewalt in seine Arme und nimmt eilend den Weg wieder. Nach hinter eingerichtet, mit den Kinn auf dem Schulter des Vaters angelehnt, winkt sie mir mit der kleinen Hand, schaukelnd. Sie wirft mir riesige Küsse. Sie verschwindet in der Menschenmenge.