Aktuelles Szenario der brasilianischen Gefängnisse

Zuletzt bearbeitet: 3. Februar 2017

Das Szenario der brasilianischen Gefängnisse anfangs 2017 begann mit einem neuen Kapitel einer alten Geschichte. Durch den Tod von mehr als einhundert Gefangenen wurde man auf den Krieg der Verbrecherorganisationen innerhalb der landesweiten Gefängnisse aufmerksam, der die Unzulänglichkeit des brasilianischen Strafvollzugs unter Beweis stellte.

Eingang Manaus – Foto: Marcelo Camargo/Agência Brasil

Drei, von zahlreichen Vorfällen derselben Art, die sich im ersten Monat dieses Jahres 2017 ereigneten, sind besonders typisch für die Krise in den brasilianischen Haftanstalten. Am 1. Januar starben mindestens 60 Insassen eines Gefängnisses in Manaus (Bundesstaat Amazonas) infolge einer Revolte, die 17 Stunden dauerte. In derselben Woche gab es einen Aufstand in einer Haftanstalt im Bundesstaat Roraima, der 33 Todesopfer unter den Gefangenen forderte. Am 14. Januar wurden 26 Insassen während eines Aufstandes im Staatsgefängnis Alcaçus, im Bundesstaat Rio Grande do Norte, getötet.

Nach diesen überraschenden Revolten transferierte man circa 220 Gefangene und verteilte sie auf verschiedene andere Haftanstalten des Landes. Bundesstaaten wie Minas Gerais, Santa Catarina und Paraná haben die gleichen Probleme. Am 24. Januar gelang 200 Gefangenen aus der Strafvollzugsanstalt in Bauru (Bundesstaat Sao Paulo) ebenfalls die Flucht.

Autoritäten suchen nach einer Lösung für die Krise in den Haftanstalten

Gleich nach dem Massaker in Manaus stürzte sich die internationale Presse auf die dramatischen Ereignisse und kritisierte die verantwortliche Behörde des Landes. Während Brasiliens Präsident Michel Temer sich dafür entschied, den Aktionsradius seiner Regierung zur Unterdrückung der Krise im Strafvollzug zu erweitern. “Ich möchte mich mit jenen Familien solidarisch erklären, deren Angehörige bei jenem schrecklichen Unfall im Gefängnis von Manaus ums Leben kamen”, verkündete Temer.

Angesichts der Krise gab das Justizministerium die Gründung einer “Nationalen Gruppe zur Intervention in Strafanstalten” bekannt, um innerhalb der Haftanstalten, zusammen mit der Staatspolizei, zu agieren. Nach dem Beispiel der “Força Nacional de Segurança Pública° – diese Gruppe besteht aus rund 100 Strafvollzugs-Agenten – zusammengestellt aus verschiedenen Bundesstaaten – deren Ziel es ist, problematische Situationen im Strafvollzug zu entschärfen. Diese Maßnahmen waren Reaktionen auf den Beschluss eines “Planes für Nationale Sicherheit”, der ab dem 15. Februar in Kraft tritt. Der Plan sieht Aktionen in Zusammenarbeit von Staats- und Geheimpolizei der Landes- und der Staatsregierungen vor, um die Zahl der Ermordungen und die Gewalt gegen Frauen im ganzen Land zu reduzieren.

Vor kurzem verbreitete die NGO “Human Rights Watch” eine Nachricht, die sich mit der Mahnung an Brasilien beschäftigt, die Kontrolle über sein Strafvollzugs-System wieder zurückzugewinnen. Nach Ansicht der “Human Rights Watch” verleitet der Zustand der brasilianischen Gefängnisse zu Gewalt und gibt dem organisierten Verbrechen Möglichkeiten zur Aktion. Die Überbelegung der Gefängnisse, so die “Human Rights”, ist das Ergebnis ignoranter Politiker, wie zum Beispiel die Unterbringung von Gefangenen in Untersuchungshaft zusammen mit bereits verurteilten Schwerverbrechern.

Die Föderative Vereinigung der Anwaltschaft Brasiliens (OAB), sowie Sektionen aus Amazonien und Roraima, gaben bekannt, dass sie den Brasilianischen Staat beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagen werden. Nach Ausführungen des Präsidenten der OAB, hat der brasilianische Staat die Kontrolle über seine Strafanstalten längst verloren – sie befinden sich in der Gewalt des organisierten Verbrechens. Sicherheitsexperten kritisieren ihrerseits die Privatisierung der Haftanstalten und fehlende Informationen über die Inhaftierten.

Die Präsidentin des Obersten Gerichthofes (STF), die Ministerin Carmen Lúcia, berief eine Versammlung der Präsidenten aller 27 Gerichtshöfe des Landes ein, um mit ihnen die Krise in den Haftanstalten zu diskutieren. Die Ministerin beabsichtigt, die Anstrengungen der Gerichtsbarkeit weiter voranzutreiben, um Lösungen für das Problem zu finden. Der Verteidigungsminister, Raul Jungmann, bestätigte, dass die Streitkräfte auf Anordnung der staatlichen Gouverneure ebenfalls zur Beilegung der Krise einbezogen werden können. Die Militärs übernehmen die Inspektion zur Verhinderung von unzulässigen Gegenständen und Materialien innerhalb der Strafanstalt.

Besorgniserregende Überbelegung

Foto: Archiv Agência Brasil
Die Überbelegung ist eins der größten Probleme in den brasilianischen Gefängnissen. Daten des “Departamento Penitenciário Nacional (Depen)” aus dem Jahr 2014 belegen den graduellen Zuwachs der Gefängnispopulationen in Brasilien. Im Jahr 2004 waren in Brasilien insgesamt 336.000 Personen in Haft.

Heute sind im Bundesstaat Amazonas, zum Beispiel, 62,64% als “provisorische Häftlinge” untergebracht. Die Zahl der Gefangenen in Untersuchungshaft (circa 5.500) übertrifft die Anzahl der “Freiplätze” im Bundesstaat (3.400). In den Bundesstaaten Bahia, Ceará, Maranhão, Pernambuco, Rondônia und Sergipe ist die Situation die gleiche: Es gibt nicht genügend Gefängnisse – nicht einmal für die “Provisorischen”! Überbelegte Gefängnisse in Amazonas und Rondônia haben seit 2016 die Seiten der internationalen Presse gefüllt, mit Morden und Krieg zwischen den Verbrecherorganisationen.

Infos über die Gefängnisrevolten in den verschiedenen Bundesstaaten

Manaus

Am 1. Januar 2017 stand das ganze Land unter Schock über das dortige Massaker anlässlich einer Revolte im “Complexo Penitenciário Anísio Jobim (COMPAI)” – 56 Gefangene starben. Diese Revolte im Komplex COMPAI wird hinsichtlich der Anzahl ihrer Opfer nur vom sogenannten °Massaker von Carandiru” übertroffen, bei dem 1992 insgesamt 111 Gefangene starben. Die als Geiseln genommenen Vollzugsbeamten wurden nach Verhandlungen zwischen den Anführern der Revolte und den Autoritäten freigelassen.

Nach Ansicht der staatlichen Autoritäten ist diese Revolte ebenfalls eine kriegerische Aktion zwischen Verbrecherorganisationen, es geht um die Kontrolle der ungesetzlichen Aktivitäten in der jeweiligen Region. Der Staatssekretär für öffentliche Sicherheit in Amazonas sagte in einem Interview: Wenn die Mitglieder der Organisation “Família do Norte” (FDN) auf Polizisten schießen, Vollzugsbeamte als Geiseln nehmen und die Gebäude der Haftanstalt besetzen, sei es ihr Ziel, alle internierten Mitglieder der der rivalisierenden Organisation “Primeiro Comando da Capital” (PCC), aus São Paulo, umzubringen.

Die PCC entstand in der Metropole São Paulo, hat sich jedoch inzwischen über alle brasilianischen Bundesstaaten ausgebreitet. Zwölf Agenten, die für ein Privatunternehmen arbeiten, wurden während der Revolte als Geiseln genommen und schließlich noch lebendig wieder ausgeliefert.

Die Revolte in der COMPAI wird, wie gesagt, nur übertroffen von jenem “Massaker von Carandiru” im Bundesstaat São Paulo am 2. Oktober 1992, bei dem es 111 tote Gefangene gab. Der dritte Vorfall mit einer größeren Anzahl von Toten geschah im Jahr 2002 in der Haftanstalt “Presídio Urso Branco”, in Porto Velho (Bundesstaat Rondônia) – dort starben 27 Gefangene während der Revolte.

Die Regierung des Bundesstaates Amazonas dürfte einen Teil der R$ 44,7 Millionen (circa 12 Millionen Euro), die der Strafvollzug von Amazonas vom Nationalen Fundus für den Strafvollzug (FUNPEN) erhalten hat, dazu verwenden, die Zerstörungen von Einrichtungen der Anstalt durch die Revolte zu beseitigen. Der Justizminister des Bundesstaates Amazonas, und der Gouverneur von Amazonas, gaben bekannt, dass die Anführer der Manaus-Revolte nunmehr in föderative Haftanstalten transferiert würden.

56 der 184 Strafgefangenen, die in den ersten Tagen des Januar aus Strafvollzugseinheiten in Manaus entwichen waren, hat man inzwischen wieder eingefangen. Und wie das Sekretariat für Staatssicherheit erklärte, setzen die Polizeikräfte des Bundesstaates auch weiterhin die Fahndung nach dem Rest der Geflohenen fort.

Nach dem Massaker gab die Regierung Amazoniens bekannt, dass 286 Gefangene ins Gefängnis “Raimundo Vidal Pessoa”, in Manaus, verlegt wurden, wo sie circa drei Monate bleiben werden. Dieser Ort wurde an möglichen Schwachstellen durch eine verstärkte Polizeikontrolle gesichert. So wie in anderen Gefängnissen von Manaus wurden Besuche der Gefangenen ausgesetzt. Mitten in dieser Krise hat Sekretär der Gefängnisadministration von Manaus gekündigt.

Einige Tage nach der Rebellion wurde eine Nachricht veröffentlicht, dass zwei Gefangene einen Brief an die lokale Justiz geschrieben hätten, in dem sie angaben, dass Direktoren ihrer Strafvollzugseinheit von Verbrecher-Organisationen Geld erhielten, um die Lieferung von Waffen, Drogen und Smartphones ins Gefängnis zu dulden – 19 Tage später wurden die beiden Denunzianten ebenfalls während des Massakers getötet.

Roraima

Am 6. Januar dieses Jahres starben mindestens 33 Gefangene in der Haftanstalt “Penitenciária Agrícola de Monte Cristo” (Pamc), in einer ländlichen Gegend der Stadt Boa Vista (Bundesstaat Roraima). Wie das Staatliche Sekretariat der Justiz bekannt gab, begann der Tumult in dieser Strafvollzugseinheit im Morgengrauen. Die Morde in Roraima geschahen in derselben Woche, wie jene in Manaus, nur einen Tag nachdem die Landesregierung jenen “Plan zur Nationalen Sicherheit” veröffentlicht hatte, mit dem sie die Zahl der Ermordungen und die Gewalt gegen Frauen zu reduzieren beabsichtigt, des Weiteren die transnationale Kriminalität starker bekämpfen will und eine Modernisierung des Strafvollzuges einleiten möchte.

Rio Grande do Norte

Foto: Handout Video
Mindestens 26 Inhaftierte des Gefängnisses “Penitenciária Estadual de Alcaçuz”, in Nísia da Floresta, in der metropolitanen Region der Hauptstadt Natal (Bundesstaat Rio Grande do Norte), starben während einer Revolte am 14. Januar dieses Jahres 2017. Wie ein Regierungssprecher erklärte, begann der Tumult gegen 17 Uhr am 14. Januar (einem Samstag) und wurde schließlich gegen 7:30 Uhr (am Sonntag) niedergeschlagen, nachdem die Polizei das Kommando übernommen hatte. Ihr gelang es, die Situation unter Kontrolle zu bringen, ohne dass irgendwelche Personen der Gefängnisaufsicht verletzt wurden.

Die Strafvollzugsanstalt Alcaçuz ist das größte Gefängnis jenes Staates. Sie besteht aus fünf Gebäuden, die sich auf einer bebauten Fläche von 5.900 Quadratmetern ausbreiten. Auf ihrer Website kann man nachlesen, dass sie insgesamt Platz für 620 Strafgefangene hat – heute mit einer Überbelegung von 1.083 verurteilten Verbrechern im Strafvollzug.

Nach Auskunft des Staatssekretärs der Justiz sind die Ermordungen in Alcaçuz die Folge einer weiteren Kriegs-Episode zwischen Verbrecherorganisationen, welche die Kontrolle über gesetzeswidrige Aktivitäten unter sich regeln – vor allem die des Drogenhandels. Nach Auffassung der Autoritäten des Bundesstaates Natal haben die Revolten und Massaker der in den Bundesstaaten Amazonas und Roraima registrierten Gefängnisinsassen, in diesen ersten Tagen des neuen Jahres, die Gefangenen in Rio Grande do Norte “stimuliert”. In einem Interview sagte der Sekretär für die öffentliche Sicherheit von Rio Grande do Norte, das die Staatsregierung und das Justizministerium die Möglichkeit erwägen, die Befugnisse der Nationalen Streitkräfte in diesem Bundesstaat zu erweitern.

Ein Klima der Verunsicherung breitete sich erneut im Staatsgefängnis Alcaçuz, in Natal, am Montag, dem 16. Januar, aus. Nur wenige Stunden nachdem die Militärpolizei diesen Ort verlassen hatten, besetzte eine Gruppe Gefangener erneut die Dächer der einzelnen Gebäude. Von der Presse veröffentlichte Fotos zeigten Männer auf den Dächern, die Holzkeulen, Steinbrocken und Eisenstangen präsentierten. Bekleidet mit blauen Hosen, wickelten sich einige der Männer weiße T-Shirts um den Kopf, um ihr Gesicht zu verbergen.

Andere schwenkten improvisierte Fahnen aus Bettlaken und schrien Parolen wie “der Sieg ist unser” – anscheinend als Provokation gegen die rivalisierenden Fraktionen. Nach der Rückkehr der Militärpolizisten verließen die Aufrührer die von ihnen besetzten Dächer.

Das Sekretariat für Sicherheit in Rio Grande do Norte verlegte die Anführer der Rebellion. Jene Gefangenen, die Alcaçuz verlassen mussten, kamen aus den Gebäuden 1 und 2, beherrscht von der Verbrecher-Fraktion “Sindicato do Rio Grande do Norte”. Die 220 Männer wurden ersetzt durch andere 230 Gefangene aus anderen Gefängnissen, die, soweit man weiß, keiner organisierten Gang angehören. Sie werden als “die Masse” bezeichnet, wegen ihrer neutralen Haltung.

Nach der Verlegung der 220 Gefangenen aus der Fraktion “Sindicato do Rio Grande do Norte” in andere Strafanstalten des Landes, standen die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt Natal einige Tage still, aufgrund von Attacken gegen die Fahrzeuge. Militärs der Bewaffneten Streitkräfte begannen am Freitag, dem 20. Januar, die Polizeipräsenz in der metropolitanen Region zu verstärken, trotzdem leben die Bürger in einem Klima der Verunsicherung wegen dem Krieg zwischen den verschiedenen Verbrecherbanden. Es wurden 1.846 Soldaten nach Rio Grande do Norte verlegt.

Gefängnistor – Foto: Marcelo Camargo/Agência Brasil

Paraná

Wenigstens zwei Gefangene starben und 28 Insassen gelang am 15. Januar die Flucht aus dem Staatsgefängnis von Piraquara, in der metropolitanen Region von Curitiba, im Bundesstaat Paraná. Nach Auskunft des Staatssekretärs für Öffentliche Sicherheit und Gefängnisadministration entwichen die besagten Insassen nach einer Explosion, die ein Loch in eine Mauer des Gefängnisses gerissen hatte. Der amtierende Arzt des “Instituto Médico Legal” (IML) bestätigte, dass zwei der flüchtenden Gefangenen von der Polizei erschossen wurden.

Minas Gerais

In diesem Bundesstaat machten die Insassen des Gefängnisses “Antônio Dutra Ladeira°, in Ribeirão das Neves, in der metropolitanen Region der Hauptstadt Belo Horizonte, ebenfalls am Montag, dem 16. Januar, einen Aufstand. Die Gefangenen verlangten Verbesserungen der medizinischen, odontologischen und psychologischen Betreuung, sowie in der Behandlung ihrer sie besuchenden Angehörigen, die ebenfalls unter Übergriffen der Vollzugsbeamten litten.

In den vergangenen Wochen haben die Gruppen “Primeiro Comando da Capital (PCC)° und die Gruppe “Comando Vermelho” – die beiden größten Fraktionen des Drogenhandels in Brasilien – die Revolten in den Strafanstalten von Amazonas, Roraima und Rio Grande do Norte promoviert und organsiert. Auf einem Video macht der Anführer der Gefangenen des Gefängnisses “Antônio Dutra Ladeira”, unter anderem, auch die folgende Bemerkung: “Alle Gefängnisse des Landes sind miteinander verbunden”!

Santa Catarina

Insassen des Gefängnisses “Presídio Regional de Lages”, im Bundesstaat Santa Catarina, begannen ihren Aufstand am 19. Januar, einem Donnerstag. Die Gefangenen verbrannten Matratzen, aber das Feuer wurde von der Feuerwehr rechtzeitig gelöscht, so die Auskünfte des Sekretariats der Justizbehörde des Bundesstaates. Die Revolte dauerte etwa eine Stunde und wurde von den Vollzugsbeamten, unter Beistand der Militärpolizei, beendet. Zehn Gefangene wurden durch die Flammen verletzt – allerdings keiner von ihnen lebensgefährlich – sie werden in der Sanitätsstation der Einheit ärztlich versorgt. Es gab keine Geiselnahmen und keine Flucht.

São Paulo

Eine Revolte im “Instituto Penal Agricola”, in Bauru, Interior des Bundesstaates São Paulo, ermöglichte die Flucht von circa 200 Gefangenen, das gab das Operationszentrum der Militärpolizei (COPOM) bekannt. Einen Teil der Verbrecher hat man wieder eingefangen, aber es gibt keine Informationen betreffs der genauen Anzahl derer, die sich noch auf der Flucht befinden.

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