Die drei Maiskörner

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Es war einmal ein Mann, dessen Kindheit wohl versorgt und behütet von seinen ihn liebenden Eltern gewesen war – und als er sie dann durch einen Unfall verlor, sah er sich plötzlich einer Welt gegenüber, ohne Rat und Trost, in der ihm nichts geblieben war, ausser dem fruchtbaren Boden des elterlichen Landsitzes, auf dem, neben dem Wohnhaus auch ein Silo stand, der bis oben voll war mit Maiskolben der letzten, sehr ertragreichen Ernte.

Und weil er der Meinung war, dass er diesen riesigen Vorrat niemals aufbrauchen könne, vernachlässigte er seine Arbeit, lungerte zu Hause herum und begnügte sich mit Essen und Schlafen als einziger Aktivität. Und wenn ihm Bargeld fehlte, dann verkaufte er etwas von seinem riesigen Maisvorrat, den er geerbt hatte. Der sich selbst überlassene Boden verlor seine Fruchtbarkeit und überzog sich mit Unkraut und später mit Buschwerk, das sich über ihm schloss und sämtliche Nutzpflanzen erstickte.

Eines Morgens – damals noch während seiner sorglosen Tage – schaukelte der faule Erbe gelangweilt in seiner Hängematte, als ein armer Mann vorbeikam und ihn um ein Almosen bat. Ein vom Schicksal hart gebeutelter Nachbar, der nur eine kleine windschiefe Schilfhütte besass, und einen Streifen Land davor. Der reiche Erbe, als er die flehende Stimme des armen Nachbarn vernahm, spürte kein Mitleid mit dem Unglück des andern – im Gegenteil: mit einem hochmütigen Grinsen warf er ihm drei Maiskörner in die bittende Hand. Der Arme schlurfte von dannen ohne ein Wort – und der Hochmütige schaukelte in seiner Hängematte und wollte sich ausschütten vor Lachen.

Es vergingen viele Jahre. Das wild wachsende Buschwerk war zu einem Dschungel geworden, der inzwischen bis ans Haus heranreichte. Der faule Erbe hatte keinerlei Vorsorge getroffen – sein riesiger Maisvorrat war inzwischen aufgebraucht – und so sah er sich eines Tages der gähnenden Leere seines Silos gegenüber, in dem ein paar Vögel die letzten Maiskörner aufpickten. Jetzt erst wurde er sich seiner miserablen Lage bewusst, aber anstatt sich aufzuraffen und in die Arbeit zu stürzen, schlug er die Hände vors Gesicht und fing an sich zu bedauern und vor Verzweiflung in Heulen und Wehklagen auszubrechen.

Dann sah er einen Reiter auf einem herrlichen Pferd herankommen, ein kräftig gebauter Mann, der vor Gesundheit und offensichtlicher Wohlhabenheit strotzte – als dieser an ihm vorüberkam und seine offensichtliche Verzweiflung bemerkte, hielt er sein Reittier an und fragte:

“Was habt Ihr? Warum jammert und wehklagt Ihr denn so“?

“Ich werde in meiner Misere sterben“, schluchzte der Unglückliche. “Ich hatte ein fruchtbares Stück Land, aber das Unkraut hat es mir genommen. Ich hatte einen Silo, voll bis oben hin mit Mais, aber der Mais ist verbraucht. Nun besitze ich nichts mehr“!   

“Nun, das ist Ihre eigene Schuld“, sprach da der Reiter. “Ihr habt geglaubt, das jenes Erbe ihrer Eltern nie zu ende gehen würde, also habt ihr das Land sich selbst überlassen, was vorher stets reiche Frucht getragen. Wenn ihr euch nicht in der Lage fühlt zu arbeiten, um das Land zu bestellen, dann verkauft mir den Landsitz. Mir wird diese Erde, die ihr als unfruchtbar bezeichnet, einen guten Ertrag bringen, und, da sie an meine Ländereien grenzt, kann ich mit ihr meine Landwirtschaft sehr günstig erweitern. Also macht mir euren Preis und ich übernehme das Land“.

Und sie einigten sich. An dem Tag, als jener Fremdling dem Faulen das Geld für seinen Besitz vorbei brachte, händigte er ihm das Bündel Scheine aus mit den Worten:

“Wisst ihr, mit welchem Geld ich euch heute bezahle? Mit dem Ertrag, den mir die drei Maiskörner gebracht, die ihr mir damals hochmütig und voll Verachtung meiner prekären Lage zugeworfen. Ich habe sie mitgenommen und, da ich kein anderes Werkzeug hatte als meine blossen Hände, habe ich sie damit in den Boden eingescharrt. Die gütige Erde hat meine Anstrengung reichlich belohnt. Dann habe ich die vielen Hundert Körner wieder der Erde anvertraut – auf dem kleinen Streifen Land vor meiner Hütte – mit dem Ertrag gelang mir die Erweiterung des Streifens – schliesslich besass ich ein Feld. Ich tauschte stets den grössten Teil des Gewinns gegen neue Anschaffungen für meine kleine Landwirtschaft: zuerst gegen Samen, dann gegen Vieh, dann gegen Maschinen, und heute kaufe ich damit das Land dazu, aus dem mein bescheidenes Kapital einst hervorgegangen – aus jenen drei Maiskörnern.

Selbst das Gold zerrinnt zwischen den Fingern wie Wasser – die Erde dagegen ist ein Tresor, sicher und unbeschreiblich grossartig, denn sie lohnt jede ihr gewidmete Anstrengung mit hundertfachem Ertrag“!

Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren gab der Nachbar seinem Pferd die Sporen und verschwand hinter dem Hügel, der einstmals ihrer beider Besitz begrenzt hatte.

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AutorIn: Klaus D. Günther

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