Die Jabuticaba – sie stammt aus dem Atlantischen Regenwald – hat viele Qualitäten, und immer im September bedeckt sie mit ihren kirschgrossen, dunkel-violetten Kugeln die Stämme der Bäume – man nennt sie auch “Brasilianische Kirsche“.
“Wenn du eine Jabuticaba von jedem Baum verzehrst, bekommst Du unsere Fazenda“ – dieses provokante Angebot richtet sich an Touristen und andere Besucher der “Vinícola Jabuticabal“ in Hidrolândia, Distrikt von Nova Fátima, im Bundesstaat Goiás. Die Herausforderung hört sich eigentlich ganz leicht an, nicht wahr? Aber nachdem der Interessent seinen Obolus bezahlt hat, um anschliessend “direkt vom Baum“ das gewünschte Soll zu erfüllen, entdeckt er die Grösse des Problems: Wer kann schon 31.000 Jabuticabas an einem einzigen Tag verschlingen?
Die Fazenda “Jabuticabal“ macht ihrem Namen Ehre: Sie ist die grösste im Land – gemessen an ihren Jabuticaba-Bäumen und an der entsprechenden Produktion vom Typ “Pingo-de-mel“ (Honigtropfen). Zum Anwesen gehören 105 bepflanzte Hektar Land. Und selbst nach diesen Informationen – oder vielleicht gerade deshalb – gibt es viele Besucher, die jene Herausforderung durchaus ernst nehmen!
“Sie glauben ja gar nicht, wie viele Leute wir schon beim plötzlichen Rennen aufs Örtchen beobachtet haben“, erzählt der Geschäftsführer des Unternehmens, Paulo Antônio Silva, grinsend. Die Erfahrung der Jahre im Umgang mit Touristen haben ihn befähigt, die allgemeine Volksmeinung zu entmystifizieren, dass zu viele Jabuticabas einen “Darmverschluss“ verursachen – “im Gegenteil, sie provozieren in der Regel einen überraschenden Aufruhr – wir haben schon Leute erlebt, die haben die kurze Strecke bis zum Örtchen nicht mehr geschafft“, ergänzt Paulo lachend.
Und der Ruf des “Honigtropfens“ hat bereits sämtliche Grenzen überschritten: Die Frucht wurde inzwischen “direkt vom Baum“ von Touristen aus den USA, Europa und sogar aus Japan probiert. Eine Attraktion, die sich damals im Jahr 1947 niemand hätte vorstellen können, als die ersten Jabuticaba-Bäume auf die Fazenda kamen – sie waren lediglich für den Konsum der Familie gedacht. Die Tradition der “offenen Tür“ gegenüber Besuchern begann erst in den 60er Jahren. Wer also durch Goiânia kommt – die Fazenda befindet sich 35 km von der Stadt entfernt – sollte sich vormerken: Der Erntebeginn der “schwarzen Kirschen“ fällt auf September und dauert etwa 40 Tage, bis gegen Ende Oktober.
Der “Jabuticabeira“ (Myrciaria cauliflora) – oder Jabuticaba-Baum – stammt aus dem Atlantischen Regenwald, wo er spontan wächst, zahlreicher in der Südost-Region. Im vorliegenden Fall hat er sich vollkommen dem goianischen Boden angepasst. Wie Paulo Silva erzählt, hat die Familie ihre ersten Ableger vom Typ “Pingo-de-mel“ aus dem Bundesstaat Minas Gerais mitgebracht. Sie waren eine Variante der berühmtesten Jabuticaba-Spezies, der “Sabará“ – ein bisschen kleiner im Durchmesser, aber genauso süss.
In der Cerrado-Region von Goiás, mit niedriger Luftfeuchtigkeit, profitiert der Baum vom Fehlen der Parasiten und natürlichen Fressfeinden – wie zum Beispiel Blattläusen – und er produziert besonders reichlich, ohne dass man irgendwelche Pflanzenschutzmittel verwenden muss. Diese Tatsache hat auch andere Produkte besonders aufgewertet, die mit den Früchtchen hergestellt werden: Allein sechs Arten von Wein (alle von der “Faculdade de Farmácia da Universidade Federal de Goiás“ entwickelt), und noch ein Schnaps und Saft. Eine Neuheit ist der Likör – ausserdem macht man aus ihnen auch Konfitüren und Gelees.
Und alles wickelt eine einzige Familie ab: Auf der Fazenda arbeiten 11 Geschwister, insgesamt sind es 84 Personen aus derselben Familie, die in irgendeiner Art und Weise in die Produktion eingebunden sind – von den Grosseltern bis zu den Enkeln. Angestellte Personen gibt es nur Acht. Auf diese Weise ist die Geschichte der Familie Silva mit den “Jabuticabeiras“ verwoben, und ihr Beispiel hat Schule gemacht, sie haben eine Art “goianischen Jabuticaba-Zirkel“ ins Leben gerufen: Weitere fünf Fazendas der Region um Hidrolândia empfangen ebenfalls Touristen während der Jabuticaba-Ernte, und es gibt weitere 100 mit heranwachsenden Pflanzungen, die ein Auge auf das wirtschaftliche Potenzial der kleinen Früchte geworfen haben.
In den Bundesstaaten ihrer Herkunft machte jene süsseste Waldfrucht aus der Familie der Myrtengewächse schon Geschichte, lange bevor die ersten Europäer den Boden Südamerikas betraten. Die Eingeborenen der Stämme Tupi-Guarani gaben ihr den Namen – wie Silveira Bueno in seinem Wörterbuch Tupi-Guarani/Portugiesisch ausführt. Er schreibt den Namen “Jaboticaba“, mit dem zweiten Vokal als “o“, und erklärt, dass der Name nichts mit dem “Jaboti“ (Landschildkröte) zu tun hat: Vielmehr bedeutet das Wort “Frucht in Form einer Knospe“. Die populäre Schreibweise “Jabuticaba“, mit einem “u“, ist inkorrekt, nach Bueno. Aber nur Wenige widerstehen ihr – so wie auch nur Wenige der süssen Frucht widerstehen können.
Nicht nur die Menschen, sondern auch Vögel, Wasser- und Wildschweine, Nasenbären, Affen, Agutis und Gürteltiere schätzen die Jabuticabas. Wahrscheinlich erklärt das auch, warum die Jabuticaba-Bäume im Atlantischen Regenwald meistens in Gruppen vorkommen – ein Phänomen, das andererseits auch einer Beeinflussung durch die eingeborenen Waldbewohner zugeschrieben wird.
Die Blüte der Jabuticaba-Bäume beginnt zwischen Juli und August oder, je nach Region, auch zwischen November und Dezember (in diesem Fall fällt die Ernte auf Januar bis Februar). Die Hunderte von Blüten sind weiss und sitzen direkt auf dem Stamm – eine Eigenschaft, die als “Kauliflorie“ bezeichnet wird. Der blühende Baum ist ein Fest für Insekten der unterschiedlichsten Grössen und Arten.
Die zu Beginn grünen Früchte nehmen langsam eine rötliche bis violette Färbung an und präsentieren sich dann in vollreifem Zustand schwarz-glänzend. Das Fruchtfleisch ist weisslich, weich und saftig, es kann bis zu vier Samenkerne enthalten.
“Im Vergleich mit anderen Spezies der gleichen Familie (Myrtengewächse) – wie zum Beispiel dem Guaven-Baum – braucht der Jabuticaba-Baum doppelt solange bis er Früchte produziert – zwischen 8 bis 12 Jahre im Durchschnitt“, erklärt der Agrarwissenschaftler Eduardo Suguino. Die Variante “Sabará“ bringt eine der kleinsten Früchte hervor – zwischen 1,5 und 2,5 cm Durchmesser – aber sie ist eine der wohlschmeckendsten für den Konsum “in natura“. Die “Jabuticaba paulista“ und die “Jabuticaba ponhema“ gehören zu den grössten – bis zu 5 cm Durchmesser – und werden in Mengen produziert, aber sie werden in der Regel als „wässerig“ bezeichnet und deshalb zur Fabrikation von Süssspeisen verwendet.
Nach der ersten Ernte wiederholt sich die Produktion Jahr für Jahr. Es gibt Berichte von Bäumen, die länger als ein halbes Jahrhundert Früchte trugen!
Die Entwicklung des Baumes hängt von seiner Spezies ab, die grössten erreichen eine Wuchshöhe von 15 Metern. Das Holz ist elastisch, widerstandsfähig und wird für den Hausbau und die Möbelproduktion (Stühle, Tische, Leisten, etc.) verwendet.
Eine wissenschaftliche Studie der “Pharmazeutischen Fakultät an der Staatlichen Universität von Goiás“ – bereits im Stadium der Vollendung und internationalen Publikation – bestätigt die therapeutischen Qualitäten des Jabuticaba-Weins als Antioxidant.
“Im Jabuticaba-Wein fanden wir bis zu dreimal so viele Poliphenole als im Wein aus Weinbeeren. Unter diesen Poliphenolen gehören “Quercetin“ und “Rutin“ zu den bedeutendsten“, erklärt Eduardo Ramirez Asquieri, Doktor der Nahrungsmittelchemie und Koordinator der Studie, die von Professor André Souto, von der “Katholischen Universität Rio Grande do Sul“ (PUC-RS) unterstützt wurde. Quercetin und Rutin besitzen Eigenschaften, welche Tumorbildung entgegenwirken, den Blutzuckerspiegel regulieren, das “schlechte“ Cholesterin (LDL) bekämpfen und die Bildung des “guten“ Cholesterins (HDL) fördern – ausserdem wirken sie wohltuend auf unser Nervensystem“.
Diese Forschungsergebnisse können eine Verbesserung der Lebensqualität für Diabetiker bedeuten und Patienten, die unter Alzheimer leiden. Wer Jabuticabas isst, der stimuliert auch seinen Appetit. Die “reanimierende“ Frucht enthält Kompositionen der Vitamine C, B2 und B5, und sie ist eine Quelle von Mineralien, wie Calcium, Eisen und Phosphor. In der Volksmedizin wird ein Aufguss aus der Rinde des Jabuticaba-Baumes zur Behandlung von Angina pectoris, Durchfall und Rotlauf angewendet. Ein Aufguss der Fruchtschalen wird zur Linderung von Asthma eingesetzt.
An der “Staatlichen Universität von Campinas“ (Unicamp) studiert man zurzeit die mögliche Verwendung der Jabuticaba als Ersatz für die synthetischen Farbgeber bei Nahrungsmitteln. Die Schale der Frucht enthält Antocianine, natürliche Pigmente, die in Früchten und Blüten enthalten sind, und deren Farben ins Rötliche und Violette tendieren.
Tatsächlich besitzt die Jabuticaba eine Menge Qualitäten und Nutzen. So ist auch die historische und kulturelle Verehrung zu verstehen, die der Frucht von den Brasilianern allerorts entgegengebracht wird. Sie verdient jene Feste und gastronomischen Veranstaltungen, die alljährlich, in der Regel gegen Jahresende, ihr zu Ehren stattfinden – in verschiedenen Städten von Minas Gerais, des Bundesstaates São Paulo und Rio de Janeiros.
Diese Kumpanei durchquert Generationen und ist in Dokumenten und Büchern, Poesie und privaten Briefen verewigt. Antônio Carlos de Arruda Botelho, der Graf von Pinhal und Besitzer einer Fazenda voller Jabuticaba-Bäume in der Region von São Carlos, im Interior von São Paulo, drängt in einem Brief an seine Gattin, dass sie umgehend von einem Europaaufenthalt heimkehre, mit den Worten: “…weil alle Jabuticaba-Bäume bereits blühen und uns den süssesten Überfluss für die letzten Tage des Oktobers ankündigen“.
Und in einem Absatz des “Menino Antigo“ versüsst uns der Poet und Schriftsteller Drummond de Andrade die Sinne mit folgender Erinnerung aus seiner Kindheit: “Atrás do grupo escolar ficam as jabuticabeiras / Estudar, a gente estuda / Mas depois, / ei pessoal: furtar jabuticaba / Jabuticaba chupa-se no pé” (Hinter der Schule stehen die Jabuticaba-Bäume / lernen, nun wir lernen / Aber hinterher / heh Leute: Jabuticaba klauen / Jabuticaba lutscht man vom Baum).
Und nun, falls Ihnen ein ambulanter Händler über den Weg läuft, mit einem Karren voller Jabuticabas, die er “pro Liter“ anbietet – schlagen Sie zu! Aber enthalten Sie sich bitte nicht der Freude, dem Rat des Poeten zu folgen: “Nehmen Sie sich Zeit, mit einem guten Nachbarn oder in einem Eckchens Ihres Gartens, und lutschen Sie, wenigstens einmal, Jabuticabas “direkt vom Baum“.
Eine Frucht, die so verehrt wird, hat in einem so grossen Land wie Brasilien natürlich auch entsprechend zahlreiche, volkstümliche Namen – hier sind ein paar: Jaboticaba, Jabuticaba, Jubuticaba-preta, Jabuticaba-rajada, Jaboty-caba, Yva-hu, Sabará, Jabuticaba paulista, etc. Sie alle beziehen sich auf die Spezies Myrciaria cauliflora.
Es gibt jedoch andere, nahe verwandte Spezies der gleichen Familie, wie M. jaboticaba, M. peruviana, M. coronata, M. grandiflora, M. aureana, M. phitrantha und M. alongata. Einige haben Früchte, die etwas saurer sind, andere haben eine rauere Schale, sind grösser oder ein wenig kleiner – aber diese Varianten kompromittieren weder den Ruhm noch den Geschmack der herrlichen Früchte.
Lassen wir zum Schluss noch zwei der zahlreichen Jabuticaba-Verehrer zu Wort kommen:
“Ich erinnere mich, dass es wohl zwei oder dreimal geschah – aber es war stets unvergesslich.
Zur Zeit der Jabuticaba-Ernte versammelten meine Eltern, meine Geschwister und ich unsere Cousins, Onkel, Tanten und andere Verwandten der unterschiedlichsten Grade um uns – dazu noch Freunde der Familie – und dann begaben wir uns alle nach “Franca“ oder “São José da Bela Vista“ im Bundesstaat São Paulo. Dort mieteten wir ein paar Jabuticaba-Bäume. Doch – genau das, wir mieteten sie für Spottpreise – und dann hinterliessen wir sie nackter und kahler als vor ihrer Blüte. Mit übervollen Eimern und Büchsen fuhren wir dann überglücklich mit unseren geernteten Früchten und rumorenden, vollen Bäuchen zurück nach Hause – die Gelees, Säfte, Liköre und Süssigkeiten aus unseren Jabuticabas erfreuten uns das ganze kommende Jahr über“.
“Nun, die Jabuticaba war schon immer ein Synonym für Süsse – und wer sie noch nie probiert hat, ahnt nicht, was er da verpasst! Es waren die französischen Köche, die in den 80er Jahren, unter Vertrag der sich damals entwickelnden brasilianischen Hotellerie, dem Fruchtfleisch der Jabuticaba besondere Aufmerksamkeit schenkten. Natürlich galt ihr Interesse nicht nur ihr, sondern auch der Maracujá, der Fruta-do-conde, der Cupuaçu – die Liste ist lang. Aber der direkte Sprung der Jabuticaba vom Baum, und aus Frucht- und Kompottschalen, in die Töpfe der “Maitres de cuisine“ geschah in jener Epoche. Jetzt bedeckte ihr püriertes Inneres die Fleischgerichte und Geflügelspezialitäten (besonders vom Wild), gab Batidas aus Cachaça und Wodka eine köstliche Note, und rundete sogar Desserts auf Schokoladenbasis und Torten superb ab. Claude Troisgros, einer der Pioniere unter jenen Menü-Künstlern, lässt keine Gelegenheit aus, um die Jabuticaba zu loben – und damit steht er nicht allein unter den grossen brasilianischen und internationalen Küchenchefs. Und die wissen, wovon sie sprechen“.