Weniger hektisch als der Karneval, aber von einer sehr erlebenswerten Atmosphäre, ist das Fest zu Ehren der Meeresgöttin „Yemanjá“ in der Silvesternacht: Die Anhänger der Candomblé– und Umbanda-Zirkel besetzen die Strände von Copacabana, Ipanema und Leblon – singen und tanzen zu Trommelrhythmen um offene Feuer und fallen in Trance. Bittsteller knien im Sand vor den Medien, geben ihre Opfergaben in Form von alkoholischen Getränken, Zigarren und bunten Kerzen ab und bringen schüchtern murmelnd ihre Anliegen vor, die sich um Liebe, Eifersucht, Geld und manchmal sogar um Politik drehen – und die Orixás antworten im Bewusstsein ihrer Überlegenheit, manchmal mit Männerstimme aus einem weiblichen Medienkörper, manchmal in verschlungenen, schleppenden, kaum zu verstehenden Frasen – jedoch stets vom dankbaren Kopfnicken der Konsultierenden begleitet.
Die Strandpromenade ist gedrängt voll mit mehr als einer halben Million Menschen, die meisten in weisser Kleidung – eine Flasche Champagner, zum Anstossen um Mitternacht, unter den Arm geklemmt, den anderen um den Liebes- oder Lebenspartner geschlungen – werden sie von fliegenden Händlern mit Erfrischungen und kleinen Imbiss-Spiesschen unermüdlich versorgt.
An verschiedenen Stellen sind riesige Show-Podien aufgebaut, auf denen Pop-Stars das Volk bis zum Count-down unterhalten. Punkt Mitternacht ergänzt ein Feuerwerk der Strand-Hotels die einmalige Szenerie – und von einem der grossen Kästen mit über zwanzig Stockwerken fällt, zehn Minuten lang, der traditionelle Feuer-Wasserfall herab. Um halbeins ist die gegenseitige Küsserei vorbei und die Neujahrswünsche sind mit der frischen Brise vom Meer davongesegelt.
Die Menge zerstreut sich langsam, konfettibestreut und champagnerverklebt versuchen die Pärchen sich in einen der in der „Princesa Isabel“ abfahrenden Busse zu quetschen. Sie alle haben ein hoffnungsfrohes Leuchten in ihrem Blick: im Neuen Jahr wird jetzt endlich alles anders werden, unter dem allesüberstrahlenden Feuerwerk haben Sie sich gesagt, dass sie sich lieben – und, dass sie in diesem Jahr noch heiraten werden. Sie fahren gut zwei Stunden, trotz dem Höllentempo, das der Fahrer vorlegt, bis sie in ihrem Stadtteil in der Nordzone von Rio ankommen. Viele der glücklichen Pärchen sind auf ihren Bänken eingeschlafen und müssen vom Busfahrer geweckt werden – einige haben ihre Haltestelle verpasst und fangen an zu lamentieren – das Neue Jahr hat angefangen.
Gegen Morgen sieht man im Dämmerlicht kleine Boote und Flösse, mit den Opfergaben der Gläubigen an Yemanjá, aufs Meer hinaustreiben – mit vielen bunten Blumen und brennenden Kerzen geschmückt. Und ein frühmorgendliches Bad aller Teilnehmer in den Wellen beschliesst dieses Ereignis und reinigt die Seele für das Neue Jahr.
Anmerkung
Verschiedene Zirkel der Candomblé- und Umbanda-Kulte haben sich inzwischen, an den Stichtagen 29. und 30. Dezember, an die Strände von „Barra da Tijuca“ und „Recreio dos Bandeirantes“, an der westlichen Peripherie der Stadt, zurückgezogen, weil sie durch die von Jahr zu Jahr wachsende Menschenmenge an der Copacabana und das anschliessende Feuerwerk in ihren Kulthandlungen beeinträchtigt werden.