SAGEN UND LEGENDEN DER ÍNDIOS AUS BRASILIEN
Tausende von Jahren lebten die Guarani-Indianer im östlichen und mittleren Teil Südamerikas. Heute sind sie nur noch in Paraguay zu finden.
Die folgende Legende beschreibt die Ursprünge der Guarani-Pflanze, auch yerba mate (Matekraut) genannt. Daraus wird ein besonders stimulierendes und nahrhaftes Getränk hergestellt, das bei uns als Mate Tee oder Yerba Tee bekannt ist. Dieser Tee ist ein Lieblingsgetränk vieler Südamerikaner, er symbolisiert Gesundheit, Gastlichkeit und Freundschaft.
In Urzeiten liebten es die Göttinnen und Götter, aus ihrem himmlischen Reich ins Land der Guarani herabzusteigen. Mit seinen dichten Urwäldern, den grossartigen und klaren Flüssen und den Wiesen voller blühender Blumen war dieses Land ein Lieblingsort der Himmlischen.
Eine dieser göttlichen Besucherinnen war die Mondgöttin. Sie kam regelmässig, immer am hellichten Tag, denn des Nachts durften sich die Götter nicht auf der Erde aufhalten. Ihre Gefährtin war die Göttin der Wolken. Um unbeschwert durch Feld und Wald zu wandern, ohne dass sie dabei als Göttinnen erkannt wurden, nahmen sie die Gestalt von Guarani-Indianerinnen an.
So verbrachten sie oft viele glückliche Stunden mit dem Pflücken wunderschöner Blumen. Eines Nachmittags vergassen sie dabei die Zeit und dachten nicht mehr daran, wie rasch die Nacht hereinbricht. Als plötzlich die ersten dunklen Schatten auf die Erde fielen, sagte die Mondgöttin erschrocken: „Wir sollten so schnell wie möglich zum Himmel zurückkehren, damit wir keinen Ärger bekommen!“
„Nur noch ein kleines Weilchen“, bat die Wolkengöttin, „die weissen Orchideen sind so bezaubernd schön und ich möchte liebend gern einen Strauss davon mitnehmen.“
„Viel Zeit bleibt uns nicht“, erwiderte die Mondgöttin, die sich bereits grosse Sorgen wegen der Verspätung machte.
Rasch wanderten sie zum Orchideenfeld – und erstarrten vor Schreck. Voller Angst sahen sie direkt vor sich einen riesengrossen Tiger, den grössten, den sie je gesehen hatten. Seine Augen funkelten und sein Maul war weit aufgerissen. Die beiden Göttinnen waren so erschrocken, dass sie vergassen, sich in ihre göttliche Gestalt zurück zu verwandeln.
Der Tiger brüllte laut und setzte schon zum Sprung an. Da wurde er ganz unvermittelt von einem Pfeil getroffen und fiel schwer verwundet zu Boden. Jammervoll waren seine Schmerzensschreie.
Verwundert sahen die Göttinnen einen alten Indianer hinter einem Baum hervor treten, wo er sich mit seinem Pfeil und Bogen versteckt hatte. „Rennt! Rennt schnell weg, wenn ihr euer Leben retten wollt!“ rief er und war ganz geblendet von dem Blick, den die Mondgöttin auf ihn richtete.
Aber die beiden Göttinnen waren vor Angst völlig gelähmt und konnten sich nicht rühren. Sie standen bewegungslos wie die Bäume rund um sie herum. Schon bewegte sich der Tiger wieder, kam auf die Beine und setzte, trotz seiner schweren Wunden, erneut zum Sprung an. Wieder spannte der alte Indianer seinen Bogen und mit einem wohlgezielten Pfeil traf er das Raubtier mitten ins Herz. Zu Tode getroffen fiel der Tiger zu Boden und rührte sich nicht mehr.
„Ihr habt nichts mehr zu befürchten“, sagte der alte Mann. Aber als er dorthin schaute, wo eben noch die beiden Frauen gestanden hatten, waren sie verschwunden. Nachdem die Gefahr gebannt war, hatten die Göttinnen ihre himmlische Gestalt wieder angenommen und waren zurückgekehrt in ihr Reich hoch oben über den Wolken.
Mittlerweile war es Nacht geworden und die Dunkelheit bedeckte alles mit ihrer samtenen Fülle. Der alte Indianer, zufrieden mit seiner Tat, ging seines Weges und kletterte bald in einen gewaltigen Baum, um dort die Nacht zu verbringen. Im Traum erschien ihm eine wunderschöne Frauengestalt mit strahlenden, sternengleichen Augen. Das war dieselbe Frau, die er am Abend im Wald gesehen hatte. Deutlich vernahm er ihre Stimme: „Ich bin die Mondgöttin, die Beschützerin aller guten Menschen. Du hast dein Leben eingesetzt, um meines zu retten, ebenso wie das Leben meiner Gefährtin, der Wolkengöttin.“
Der Indianer war zu verblüfft, um antworten zu können. Die Göttin fuhr fort: „Gute Menschen erhalten eine Belohnung für ihre edlen Taten. Du wirst belohnt werden, weil du tapfer und freundlich warst.“
„Wie wird meine Belohnung wohl aussehen?“ wunderte sich der Indianer. Er brauchte nicht lange auf die Antwort zu warten. „Ich werde dir ein Geschenk machen“, sprach sie. „In diesem Wald werde ich eine wertvolle Pflanze wachsen lassen, die dir und deinem Volk viel Gutes bringen wird. Nenne diese Pflanze yerba mate, achte sie und behüte sie gut. Wenn du ihre Blätter über dem Feuer röstest, wirst du daraus einen Tee herstellen können, der die Hungrigen nährt und die Durstigen beruhigt. Morgen wirst du die Pflanze an der Stelle finden, wo du mich gestern gesehen hast.“ Mit diesen Worten verschwand die Göttin.
„Was für ein merkwürdiger Traum“, dachte der alte Indianer, als er am Morgen erwachte. Dann stieg er von seinem Schlafplatz im Baum herunter und machte sich eilig auf den Weg dorthin, wo er am Tag zuvor den Tiger erlegt hatte, um die Frau mit den strahlenden Augen und ihre Begleiterin zu retten. Bald hatte er die Stelle erreicht und siehe da – er fand eine wunderschöne Pflanze, die er noch nie zuvor gesehen hatte – genau wie die Göttin es ihm im Traum versprochen hatte.
Der alte Indianer pflückte die Blätter und röstete sie, um daraus einen Tee zu bereiten. Er gab seinem Volk davon zu trinken und alle wurden satt, ihr Durst wurde gestillt und sie wurden froh und friedlich – so wie die Göttin es versprochen hatte.
Voller Dankbarkeit knieten die Guarani-Indianer nieder, hoben ihre Gesichter gegen den Himmel und dankten der Mondgöttin für ihr wundersames Geschenk – yerba mate.