“Die Schweiz im Brasilien-Fieber“ – “Brasil-Hysterie in Weggis“
Der brasilianische Sportreporter Eduardo Vieira da Costa begleitet die Seleção in der Schweiz und in Deutschland und schreibt seine Eindrücke und Erlebnisse in einem Blog für die FolhaOnline São Paulo, deutsche Übersetzung Klaus D. Günther für BrasilienPortal
WM-Vorspiel
Für diejenigen, welche nicht beim Worldcup dabei sein können, ist auch ein Freundschaftsspiel jede Anstrengung wert. So dachten auch drei neuseeländische Freunde, die in London wohnen und nach Genf kamen, nur um das Spiel ihres Teams gegen die “Seleção Brasileira“ zu erleben – und dafür hat jeder von ihnen mindestens 2.000 englische Pfund ausgeben müssen! Die drei, mit einem Glas Bier in der Hand, präsentierten sich als Dom (The Bull) O`Sullivan, Ryan (The Ginga Ninja) Lange und Tim (Mr.) Anderson. “Wenn Neuseeland gewinnt, springe ich nackt aufs Spielfeld“, sagt Mr. Anderson, der angibt, dass noch mindestens weitere 5.000 Neuseeländer von London aus zu diesem Spiel in die Schweiz eingereist sind. Als wir über die reellen Chancen des ozeanischen Teams sprechen, meint Mr. Anderson kleinlaut: “Wenn wir nur ein einziges Tor zustande bringen, ist das schon sensationell. Ich glaube, es wird 5 : 1 für Brasilien ausgehen“.
Neuseeland ist nicht beim Worldcup vertreten, aber sein Nachbar Australien ja. Aber dies animiert die Erzrivalen kein bisschen. “Australien ist eine grosse Sch . . . .“ erklärt The Ginge Ninja kategorisch.
Hermana
Gleich nach dem ersten „s’il vous plaît“ mit Akzent antwortet die sympathische Empfangsdame des Hotels in Genf in perfektem Portugiesisch. Sie ist Brasilianerin, nehme ich an. Oder Portugiesin, denn die lusitanische Kolonie ist recht gross in der Schweiz. Aber ihr Akzent ist nicht portugiesisch. Hört sich eher nach Brasilien an. Und dann überrascht uns Josefina, als sie uns erzählt, woher sie kommt.
“Ich bin aus Buenos Aires“! Und ihr Portugiesisch, so unglaublich das klingt, hat sie in der Schweiz gelernt. “Ich hatte einen brasilianischen Freund. Ausserdem wimmelt es hier von Leuten, die Portugiesisch sprechen“.
Josefina entpuppt sich als glühender Fussballfan. Sie erinnert sich, dass im vergangenen Jahr Argentinien gegen England in Genf gespielt hat und 3 : 2 verlor. “Wenn die Argentinier spielen, komme ich nicht zur Arbeit. Aber niemand versteht das hier“. Hinsichtlich der brasilianischen “Seleção“ zeigt Josefina nicht denselben Optimismus wie die Mehrheit der Fans. “Das Team wird sicher das Halbfinale erreichen – aber das Endspiel, nun, das bezweifle ich“!
Ida
Nicht nur die brasilianischen Fussballer werden von den Journalisten in Weggis bedrängt. Auch die Reporterin Ida-Marie Vatn, vom TV2-Kanal in Norwegen, steht im Mittelpunkt der brasilianischen Presse – zu recht. Ida kam in die Schweiz, um eine Reportage über das Freundschaftsspiel zu machen, welches die “Seleção“ nach dem Worldcup in Deutschland gegen ihr Land bestreiten wird. “Ich liebe die “Seleção Brasileira“. Sie spielen schön. Ganz anders als unser norwegisches Team“, sagt die Reporterin, die sich auch für Eishockey begeistern kann.
Sie hat Maria Gonçalves Braaten mitgebracht, Tochter einer Brasilianerin und eines Norwegers, die ebenfalls als Reporterin beim TV2 arbeitet und Ida als Dolmetscherin unterstützt.
. . . kurze Beine
“In die Pantoffeln und viel Schlaf“ – denkste Die Spieler der “Seleção“ logen, dass sich die Balken bogen, als sie gefragt wurden, was sie zwischen dem Spielende gegen Luzern, am Dienstagabend, und dem Mittwochnachmittag getan hätten, als sie sich wieder präsentierten. Die Schweizer Zeitung “BLICK“ veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom Donnerstag dann Fotos der brasilianischen Athleten, wie sie in der Menge eines Luzerner Clubs mit Namen “Adagio“ badeten. Wie die Zeitung berichtete, waren Ronaldo, Adriano, Roberto Carlos, Dida, Robinho, Emerson und Júlio César anwesend und tranken ein paar Schoppen Bier. Die meisten von ihnen gingen dann so gegen 3:30 Uhr nachts, während Roberto Carlos noch blieb. Ronaldo durfte sogar als DJ (Disk Jockey) fungieren.
Roberto Carlos selbst hatte vor dem Training am Mittwoch versichert, dass er im Hotel geblieben sei. “War gut, ein bisschen auszuruhen, die Uniform mit ein Paar Shorts zu vertauschen, einer normalen Bekleidung. Wir blieben im Hotel und haben über Fussball gesprochen“, sagte er.
Robinho und Adriano behaupteten ebenfalls, dass sie die Zeit genutzt hätten, um auszuruhen. Um das mal klarzustellen: Es ist nichts dabei, wenn unsere Spieler mal ausgehen, wenn sie Freizeit haben. Aber eine solche Lüge kommt eben nicht gut an!
Gaunerei in der Schweiz
Eine Eintrittskarte für das Spiel zwischen Luzern und Brasilien, an diesem Dienstag in Basel, kostete mindestens die Kleinigkeit von 120 Schweizer Franken. Und hier gibt es tatsächlich ebensolche Gauner wie bei uns – und die agierten ungeniert rund um das St. Jakobs-Stadion: Um die Stars aus Brasilien sehen zu können, gab es Leute, die 200 Schweizer Franken (zirka 370 Reais) für eine mit 120 Franken ausgewiesene Eintrittskarte berappten.
Der Brasilianer João Eduardo Haudenschild kaufte sogar vier Karten für je 200 Franken. Dann hörte er, dass man die Kassen des Stadions nochmal am Dienstag öffnen würde – also kaufte er noch mal zwei Karten zum Normalpreis von 120 Franken, die er dann ebenfalls für 200 Franken weiter verkaufte. “Hat nicht ganz gereicht, um meinen gesamten Verlust zu decken, aber hat ihn doch verringert“!
Ein anderer Brasilianer, der sich als Beto Cambista (Cambista = Wechsler) identifizierte, aus Rio, sagte, dass er nun schon zum vierten Worldcup als Eintrittskarten-Wiederverkäufer gekommen sei. “Ich mache damit so um die 3.000 Euros in Deutschland“, enthüllte er.
Auf dem ersten Foto: Beto Cambista (links) und Eduardo. Auf dem zweiten Foto: Fans und Beto Cambista beim Geschäft.
Unwissend
Ich glaube, dass Ronaldo noch nichts von dem Unfall seines Vaters wusste, als er an diesem Nachmittag an einem kollektiven Interview im Pressezentrum der Thermoplan-Arena in Weggis teilnahm. Er war ruhig und ausgeglichen und lächelte viel. Niemand berührte das Thema. Wahrscheinlich wusste auch die gesamte Presse noch nichts davon.
Nur gut, dass Nélio Nazário de Lima auch weiter keine schweren Verletzungen davontrug – trotzdem hätte Ronaldo wahrscheinlich das Interview abgesagt, hätte er davon gewusst. Sein Vater hatte einen Autounfall auf dem Highway Rio-Santos an diesem Montagmorgen. Er verlor die Kontrolle über seinen Mercedes, nachdem ihn ein LKW verkehrswidrig überholt hatte – sein Auto rutschte in einen Strassengraben von vier Metern Tiefe. Seine Frau, Roberta de Oliveira, sein Sohn Nicolau Nazário de Lima und seine Schwiegermutter, Maria Goreth de Oliveira, befanden sich ebenfalls im Wagen. Nur die Schwiegermutter erlitt leichte Prellungen und wurde in ein Hospital in Barra da Tijuca eingeliefert.
In der Schweiz friert die “Seleção“ ein
Kälte und Regen stören nicht nur die Fans und Journalisten in Weggis. Auch die “Seleção“ ist beunruhigt. Ihr Kapitän Cafu machte auf das Risiko aufmerksam, beim Training unter solch niedrigen Temperaturen eventuelle Muskelschäden zu erleiden. An diesem Montag fiel das Thermometer auf unter 10º C, und der Regen hat über zwei Tage lang nicht eine einzige Pause eingelegt, sondern das Kältegefühl in der kleinen Schweizer Stadt noch verstärkt, die ihrerseits allerdings der Bewunderung unserer Spieler treu blieb und weiterhin das Stadion während ihres Trainings füllte.
Für das Freundschaftsspiel dieses Dienstags, gegen den FC Luzern in Basel, ist die Wettervorhersage noch erschreckender. Obwohl sich laut Kalender der europäische Sommer nähert, erwartet man von Seiten der Wetterdienste ein Maximum an Temperatur von 12ºC – das Minimum liegt dagegen bei 1ºC! Nach Voraussagen der CNN werden sich die Temperaturen zwischen 4ºC und 6º C bewegen. Und es wird weiter regnen. “Besser die Kälte, als bei 40º C spielen. Das ist die eine Seite – aber wir nehmen das Risiko auf uns, uns zu verletzen. Wir müssen beim Training extrem aufpassen“, bestätigt Cafu.
Als er über die Wahl des Trainingsortes für den Worldcup befragt wird, regt sich der Trainer Parreira auf: “Wo ist der Ort in Europa, an dem wir ideale Voraussetzungen für unser Training hätten?“ gibt er zurück.
Allerdings kann dieser Kontakt mit dem “schweren Rasen“ für Brasilien beim Worldcup wichtig werden. Die Spieler sind gewöhnt, mit viel Geschick und Technik den Ball zu spielen, was auf einem trockenen Rasen natürlich besser gelingt – ihre ersten drei Partien werden sie in Städten bestreiten müssen, deren höchste Niederschläge im Monat Juni liegen – in Berlin, München und Dortmund. Im weiteren Verlauf des Wettbewerbs sollten die klimatischen Bedingungen in Deutschland aber besser werden.
Funken
Edmilson und Adriano können sich nicht leiden und behindern sich gegenseitig beim Training der “Seleção“. An diesem Montag streckte der Spieler aus Barcelona dem Athleten des Inter-Mailand das Bein hin – der gab das Foul bald darauf zurück. Letzten Donnerstag war dasselbe schon einmal passiert. Da hatte der Stürmer den Flügelmann regelrecht umgerannt, und der musste vom Arzt behandelt werden – und als er dann wieder stand, rannte er bei der ersten Gelegenheit wie ein Verrückter schnurstracks hinter dem Angreifer her, um es ihm heimzuzahlen.
“Das ist normal. Es ist vorbei mit jener Zeit des “Training ist Training, Spiel ist Spiel. Wir trainieren halt sehr ernst“, versucht Edmilson die Geschichte zu vertuschen.
Das ist mir so rausgerutscht
Die Aufregung um Ronaldos Gewicht ist offensichtlich pure Spekulation. Niemand, ausser der technischen Kommission der Mannschaft, weiss genau, wieviel er wiegt, und ob seine Fettwerte erhöht sind oder nicht – was wirklich zählt, ist jener Wert und nicht sein Gewicht, nach Aussage des physischen Trainers Moraci Sant’anna. Aber an diesem Sonntag machte der Mannschaftstrainer Carlos Alberto Parreira doch auf subtile Art und Weise eine Bemerkung in dieser Richtung:
“Ronaldo steht unter Kontrolle und verbessert seine körperlichen und technischen Fähigkeiten täglich. Aber es dauert eben eine gewisse Zeit, bis er in Form ist. Er wird sein Idealgewicht zum Worldcup erreicht haben“, sagte der Trainer.
Nun, wenn er sein Idealgewicht erreicht haben wird, so heisst das, dass er es noch nicht hat. Aber tatsächlich dient diese Frage lediglich dazu, wieder mal eine Polemik zu schaffen, wie Ronaldo selbst an diesem Sonntag bemerkte. “Ich muss mir um meine körperliche Verfassung keine Sorgen machen. Aber es hat auch keinen Zweck, dass ich das sage, auch wenn es Parreira oder unser Arzt sagen, nützt das nichts – niemand glaubt uns. Ich weiss, dass ein Worldcup nicht ohne Polemik auskommt“!
Beim ersten Kollektiv-Training der Equipe, am Samstag, schoss der Stürmer vom Real Madrid zwei Tore. Am Sonntag, beim Kollektiv gegen das SUB-20 Fluminense-Team verbuchte er ein Mega-Tor mit einem wunderbaren Schuss in die Ecke. Nicht nur deshalb ist Parreira unbesorgt – auch wegen Ronaldos Geschichte in der “Seleção“: “Er ist ein Spieler der Entscheidung und der grossen Momente“!
Folter
Die Hysterie um die brasilianische Mannschaft in Weggis ist für mich unbegreiflich. Was treibt die Leute dazu, hinter einem Omnibus der Mannschaft herzurennen, um Fotos durch eine getönte Scheibe machen zu wollen, die doch offensichtlich nichts werden können? Warum rennen sie wie die Verrückten, um die Athleten durch eine Zaunlücke auf hundert Meter Entfernung beobachten zu können? Beeindruckend!
An diesem Samstag waren die Fans allerdings ein Beispiel an Geduld und Bewunderung ihrer “Seleção“: Das Training war auf 9:30 Uhr früh angesetzt, jedoch lediglich Dida, Rogério und Júlio César fanden sich ein. Es war saukalt. Dann fing es auch noch an zu regnen. Trotzdem ging niemand weg. Die Fans intonierten sogar ein “Olé“ für den leeren Rasen.
Das Paar auf dem Foto unten, Raik und Ina Strüpling waren mit ihrem Sohn Ben gekommen. Selbst unter Regenschauern beschwerten sie sich nicht über die Warterei. “Ich finde, es ist jedes Opfer wert“, sagte Ina.
Mehr als eine Stunde später gaben die Lautsprecher endlich bekannt, dass die anderen Spieler aufs Feld kommen würden. Die Fans vibrierten – aber nicht wegen der Kälte! Und das alles, um ein bisschen Trainingsübungen und einige Fouls zu erleben. Und vergessen wir nicht, dass die Eintrittskarten dafür 20 Franken (fast 40 Reais) gekostet haben!
Ähnlichkeit (Foto © Eduardo Vieira da Costa)
Eduardo Vieira da CostaWer ist der Mann auf den obigen Fotos?
“Scolari“, sagt er, als ich ihn nach dem Namen frage.
Aber in Wirklichkeit ist es der humorvolle Schweizer Roland Jorns (48), der nach Weggis gekommen ist, um hier das Training der brasilianischen Fussballmannschaft zu erleben. Und er erzählt, dass er kürzlich während seiner Portugalreise für Hunderte von Fotos auf der Strasse hat herhalten müssen, dank seiner Ähnlichkeit mit dem brasilianischen Trainer der portugiesischen Nationalelf. Ich frage ihn, wen er für besser hält, Scolari oder Parreira?
“Das sind unterschiedliche Stilarten – einer ist technisch versierter, der andere hat mehr Ausstrahlung“. Nun gut. Ich verstehe jetzt, dass er weiss, wovon er spricht. Aber, wer ist denn nun der Bessere?
“Scolari, ist doch klar“!
Olé
Es ist wahrscheinlich so, dass die Polizei von Weggis und die Sicherheitskräfte, welche man für die Trainings der “Seleção“ eingesetzt hatte, an die Ruhe in der Kleinstadt gewöhnt waren, in der sonst nie etwas passierte. Aber derart genasführt zu werden, wie dieser Sicherheitsmann es von jenem Burschen wurde – nun, das ist schlichtweg zuviel – sehr entwürdigend! Der Kerl umdribbelte den Wachmann buchstäblich, und als er merkte, dass dieser ihm nicht gewachsen war, spielte er mit ihm doch tatsächlich wie ein Torero mit dem Stier. Und niemand kam, um dem Wachmann zu helfen und den Kerl zu schnappen. Unbegreiflich. Dann hat man ihn schliesslich mit vereinten Kräften fangen können und er bekam eine schöne Abreibung von der Polizei.
Verständlich, dass die Polizisten und Wachleute diese erste Invasion des Spielfeldes nicht voraussehen konnten. Aber ab der zweiten sollten sie doch dazu gelernt haben. Die einzige Erklärung, die ich mir denken kann, ist die, dass die Zahl des Wachpersonals vielleicht nicht gross genug war – aber das ist ein Fehler der Behörden.
Detail: Als die erste Invasorin auf den Rasen lief, eine Brasilianerin, die Ronaldinho umarmte, schrien die Fans vor Begeisterung. Bei der zweiten – siehe Foto unten – neuer Applaus. Aber als der erste Mann auf dem Rasen sichtbar wurde, pfiffen die Fans ihn aus.
Bingo
Copyright by CBF
Jedermann weiss, dass Video-Spiele zu der bevorzugten Freizeitbeschäftigung von Fussballern in Trainings-Konzentrationen gehören. Auch Kartenspiele. Aber niemals um Geld – wenigstens nicht offiziell. Und abends kommt man zu einem “Pagodinho“ (brasil. Musik mit Instrumenten und Gesang) zusammen, dann und wann. Billard, Tischtennis, Internet, alles was Spass macht ist „in“. Und besonders dann, wenn sie alle in einem Hotel eingeschlossen sind, vor dessen Front weder Presse noch Fans sich aufhalten dürfen – nicht mal auf dem Bordstein. Höchstens auf der gegenüberliegenden Strassenseite.
Die Intrige begann mit dem Gesuch der Spieler an die technische Kommission, in Weggis ein Bingo einrichten zu dürfen. Ein BINGO! Stellt Euch nur mal vor, welch ein Spass da ablaufen wird. Nach Auskunft des Supervisors Américo Faria sind die Einrichtungen bereits gekauft worden. “IPods“ und solche Sachen. Holla! Na, das wird was . . .
Unten bestreiten Júlio Cesar und Robinho eine Partie Fussball in einer Playstation. Der Torwart bei Barcelona besiegt den Stürmer, der bei Arsenal unter Vertrag steht. Das Foto stammt aus dem Archiv vom CBF.
Irrtum meinerseits (Fotos © Eduardo Vieira da Costa)
Eduardo Vieira da CostaNun schaut Euch doch das mal an – wie ungewöhnlich! Inmitten des ganzen gelb-grünen Fiebers von Weggis spaziert dieses Mädchen auf dem Foto an mir vorbei, Jolanda Krummenadier. Was mir an ihr besonders auffällt, ist ihre Kappe. Seht mal genau hin, eine Kappe mit dem Schweizer Fähnchen! Ich kann mit Sicherheit behaupten, dass dies die einzige Person war, die ich bis jetzt mit den Schweizer Farben gesehen habe. Nicht mal auf dem letzten Spiel in Morumbi (São Paulo) habe ich soviele Leute in grün und gelb gesehen wie hier in Weggis – von Kindern bis zu den alten Leuten, inklusive Hunden – alle tragen sie Grün-Gelb.
Also frage ich sie, ob sie so etwas wie eine Nationalistin sei, ob die “Brasilien-Mode“ ihrer Stadt sie vielleicht ärgere? Zu meinem Erstaunen deutet sie auf ihre Tasche. Die Kappe war aus der Schweiz – ihre Kleidung hatte die Farben ihrer schweizerischen Nationalflagge – aber ihre Tasche war aus Brasilien. Mit Flagge und allem anderen. “Ich mag diesen Rummel um Brasilien. Das ist gut für Weggis. Und die Schweiz hat das Glück, beim Worldcup dabei sein zu dürfen“, sagt sie bescheiden.
Kevin Ceni
Die Gier der Presse nach guten Geschichten bringt Episoden hervor, die man schon als pathetisch bezeichnen kann. Nach einem Spass von Rogério Ceni, der den Halbwüchsigen Kevin Walchal, 13 Jahre alt, ins Tor stellte, um ein paar Bälle zu fangen – was die Fans fast in den Wahnsinn trieb – sah sich das Bürschchen plötzlich von den brasilianischen Reportern als Held gefeiert und gab sogar ein Kollektiv-Interview im Presse-Salon des Stadions. Und da die Fussballspieler während ihres Trainings keine Interviews mehr geben dürfen, machten die Reporter eben Kevin zum König.
Mittelfeld (Foto © Eduardo Vieira da Costa)
Mitten unter den schweizerischen und brasilianischen Fans – fast alle in gelben Trikots – wurde man am Mittwochnachmittag, in der Thermoplan Arena in Weggis, plötzlich auf einen Typen mit Schnauzbart aufmerksam, der sich mit dem Trikot der kroatischen Mannschaft, dem ersten Gegner Brasiliens bei diesem Worldcup, von der Menge abhob. Und weil der Platz neben ihm frei war, setzte ich mich. ”Excuse me. Do you speak English?” Nur ein negatives Kopfschütteln. “Spanish”? Keine Antwort. Enttäuscht, konnte ich mir eine unflätige Bemerkung in Portugiesisch nicht verkneifen. Da dreht sich ein Zuschauer vor mir um – das war Fabiano von Felten ein Schweizer und Sohn einer Brasilianerin, der sich anbot, mir mit einem Interview in Deutsch zu dolmetschen. Der Mensch mit dem Schnauzbart und dem kroatischen Trikot – der auf der Tribüne dicke Zigarren rauchte und Bier trank – war Ivan Brica, 44 Jahre alt. Ivan ist ein Bild von einem Mann. Er lachte viel und sehr laut, hieb mir dann und wann kräftig auf die Schultern und erklärte, dass er nicht gekommen sei, um die brasilianische Seleção zu bewundern, sondern um sie in ihrer Zuversicht zu stören. ”Brasilien hat, wenn’s hoch kommt, maximal fünf gute Spieler. Der Rest ist völlig normal“, schoss er sein Urteil ab. Brasilien gegen Kroatien beim Cup? ”Mindestens ein Unentschieden. Danach gewinnen beide, Brasilien und Kroatien, und werden sich klassifizieren.“ Dann deutet Ivan auf den Jungen an seiner Seite und stellt ihn vor: Ilha, 16, sein Sohn. ”Der versteht was vom Fussball“, sagt er. ”Die Brasilianer haben eine Menge Talent“, meint der wackere Knabe dazu und schaut seinen Vater an, der laut lacht und ergänzt, dass sein Land mit dem dritten Platz beim Worldcup 1998 abgeschnitten hat.
Bei der Verabschiedung des hilfsbereiten Fabiano, dem Dolmetscher des Interviews, erfahre ich, dass er selbst Fussballspieler ist – beim Verein von Emmenbrücke, der Vierten Schweizer Liga. Der Vierten nur vorübergehend. Denn sein Team bestreitet die vorletzte Runde im Wettbewerb an diesem Samstag, gegen Schadtdorf, und es hängt von ihrem Sieg ab, um den Aufstieg in die Dritte zu schaffen. In einem Alter von nur 23 Jahren sagt Fabiano jedoch, dass er kaum noch Hoffnung habe, etwas im Fussball werden zu können. ”Aber ich hoffe, dass es bis in die Zweite Liga reicht“, prognostiziert der schweizer-brasilianische Mittelfeldspieler, der nicht weiss, für wen er bei diesem Worldcup die Daumen drücken soll. ”Bei Freundschaftsspielen bin ich für die Schweiz. Brasilien ist gewöhnt, alles zu erreichen, aber für die Schweiz ist es ein Riesenerfolg, so ein Spiel zu gewinnen. Nur, im Moment weiss ich wirklich nicht, auf wessen Seite ich mich schlagen soll. Ich hoffe, dass sich die beiden nicht begegnen. Sollten sie im Endspiel gegen einander antreten, werde ich wohl für beide die Daumen drücken“. Ich selbst werde erst einmal für Emmenbrücke die Daumen drücken, damit sie in die Dritte Liga aufsteigen!
Endspiel
Und wer wird denn nun das Endspiel im Worldcup austragen? Da gibt’s keine Zweifel. Für die Bewohner von Weggis werden die Gegner BRASILIEN gegen SCHWEIZ heissen. Sicher würde ich die Schweiz nicht unter die Favoriten zählen – gewiss nicht. Brasilien ja – zumindest auf dem Papier. Aber genau dieser Favoritismus ist es, welcher der Situation ein paar bittere Tropfen bescheren könnte.
Müssiggänger
Chaoten gibt es überall. Jedenfalls will es mir nicht in den Kopf, warum jemand sein kleines Auto, das hier in Weggis an einer Tankstelle stand, über und über bemalt und geschmückt hat. Dazu hat er einen Haufen brasilianische Aufkleber an dem Vehikel befestigt – alle ziemlich geschmacklos. Und hinter der Scheibe klebte von innen ein Schild – in einem Maccaroni-Englisch – auf dem stand so etwas wie ”brauche eine hübsche Frau, die waschen und kochen kann und den Haushalt schmeisst“. Nun, vielleicht findet er eine Brasilianerin. In einem kleinen Nachtclub der Stadt ist es nicht schwierig Brasilianer (innen) anzutreffen, die sich mit den „Gringos(as)“ einlassen.
Und auf einmal – brasilianisch
Auf dem Weg von Zürich nach Weggis ist die brasilianische Präsenz deutlich. Leuchtende Outdoors, die auf die ”Copa“ hinweissen und besonders Brasilien ist überall präsent. Und wenn man sich dann Weggis nähert, bekommt man erst eine richtige Vorstellung von der allgemeinen Verrücktheit. Fast alle Häuser haben irgendwo eine brasilianische Flagge hängen und die Leute auf der Strasse tragen brasilianische Trikots. Die ”Zuneigung“ für die Brasilianer ist sogar sympathisch, aber das Bild, was man von unserem Land überall verbreitet, geht im Allgemeinen nicht über jenes Trinonym ”Caipirinha-Samba-Mulata“ hinaus. In der Umgebung des Stadions, in dem die Seleção ihr Training absolviert, hat man einen brasilien-thematischen Markt aufgebaut. Die Buden verkaufen, ausser Würsten und Fast-Food der Region. ”exotische“ brasilianische Caipirinhas und Batidas, mit Guaraná-Granulat, zum Beispiel. Des weiteren dazwischen kleine Bühnen mit Samba vom Typ Axé, der von ”Morenas“ mit schwingenden Hüften dargeboten wird. Ein bisschen depri, das Ganze – wenigstens für mich. Ausserdem die vielen Angestellten der Budenbesitzer, die ein brasilianisches Trikot verordnet bekommen haben. Dieser da, vor mir, scheint überhaupt keine Ahnung zu haben, warum er das machen muss . . .
Empfang
Gleich nach ihrer Ankunft in Zürich bekamen die brasilianischen Fussballspieler einen Eindruck von dem Klima, dass sie in Weggis erwarten würde : Hunderte von Personen belagerten das Dach des Flughafens, um die Athleten der ”Seleção“ wenigstens einmal von weitem sehen zu können.
Runde Tische
Auf dem Flughafen in Brasilien, während man in der Abflughalle auf den Aufruf zum Flug in die Schweiz wartete – weit weg von den Spielern, die in einem VIP-Salon ihrem Abflug entgegensahen – formierten sich die Journalisten der unterschiedlichsten Medien um einen imaginären „runden Tisch“, um sich gegenseitig die absurdesten Diagnosen darüber an den Kopf zu werfen, was ihrer Meinung nach bei dem bevorstehenden Worldcup geschehen werde. Diese Voraussagen, ist ja klar, erreichten eine Bandbreite vom Endsieg Brasiliens als sechsfacher Weltmeister, bis zu der deprimierenden Vorstellung, dass Parreiras Seleção bereits in der ersten Phase abgesägt wird. Unter den hin und her fliegenden Meinungen, möchte ich an dieser Stelle eine festhalten: Alberto Helena Jr., vom Diário de São Paulo, sagte zu Tostão, dem Kolumnist der Folha, das er mit ein paar Massnahmen Parreias (des Nationaltrainers) nicht übereinstimme. Und Tostão, in seiner typisch ”mineirischen“ Art, zeigte sich ebenfalls besorgt – aber nicht, weil er irgendwelche Fehler beim Trainer zu sehen meinte, sondern „ich glaube, dass das Problem in der Tatsache zu suchen ist, dass eben alles zu gut geplant ist“, gab er zurück.
Auf Sendung
Schliesslich geht er auf Sendung, mein BLOG über den Worldcup. Man hat mir einen Platz eingeräumt, in dem ich meine Bemerkungen über das Medienereignis des Jahres 2006 unter einer neuen Perspektive kommentieren darf – indem ich parallel zu den Spielen stets entsprechende Kuriositäten im Auge behalte und das daheim gebliebene Publikum mit pittoresken Episoden unterhalte. Ich werde hier den Alltag der Seleção begleiten – aber auch den der brasilianischen Fans (oder der Nicht-Fans) und ihrer jeweiligen Umgebung während der Trainingszeit in der Schweiz und später der Spiele in Deutschland.
Aber Schluss mit dem Geschwafel, gehen wir zu dem über, was tatsächlich interessiert. Das Karnevals-Klima rund um die Seleção ist notorisch. Schon in São Paulo, während des Abflugs in die Schweiz, bekam man eine Ahnung von der Frenesie rund um die Gestalten unserer Fussballstars. Rogério Ceni, mit seiner Tochter auf dem Schoss, gelang es fast, sich der Menge von Reportern und Fans zu entziehen. Aber sogar weniger populäre Spieler, wie Luisão zum Beispiel, schleppten die Menge hinter sich her, egal wohin sie gingen – ein paar verfolgten ihn sogar bis ins Pissoir. Aber nichts gleicht der Popularität von Ronaldinho. Es hiess sogar, dass Verkäuferinnen ihre Theken in den Shops der Flughafenhalle von Rio verliessen, um hinter dem Star herzurennen, als er sich zum Abflug-Terminal bewegte. Natürlich mit vielen Tränen und histerischen Schreien, wie ”lindo“ (Hübscher) – die gehören immer dazu. Und das Tollste ist, dass nicht nur die Mädchen ihre Verzweiflung herausschreien, wenn sie des ”Cracks von Barcelona“ ansichtig werden – auch jeder Macho wird weich, wenn er den ”besten Spieler der Welt“ erblickt!