Kalapalo

Zuletzt bearbeitet: 31. Januar 2024

Das gesellschaftliche Leben in den Dörfern der Kalapalo, einer der vier Karib-Sprachgruppen, welche die Region des Oberen Xingu bewohnen, verläuft im Einklang mit den Jahreszeiten. In der Trockenperiode, die sich von Mai bis September hinzieht, ist das Nahrungsangebot reichlich und die Bewohner benutzen diese Zeit der Fülle für ihre inter-dörflichen Rituale, zu denen sie benachbarte Stämme einladen und verköstigen.

Kalapalo

Andere Namen: Calapalo
Sprache: Kalapalo, der Familie Karib
Population: 385 (2011)
Region: Mato Grosso (Parque Indígena do Xingu)
INHALTSVERZEICHNIS
Sprache
Geschichte des Erstkontakts
Lebensraum
Bevölkerung
Gesellschaftliche Organisation
Ethik und Verhalten
Rollen der Geschlechter
Musik und Rituale
Das Volk der Kalapalo – Foto: Klaus Günther

nach obenSprache

Die Kalapalo und drei weitere Gruppen des Oberen Xingu – die Kuikuro, Matipu und Nahuquá – sprechen Dialekte einer Sprache, die der linguistischen Familie „Karib“ angehört. Ihre linguistisch nächsten Verwandten sind die „Ye’cuana“ (oder Makiritare) und die „Hixkaryana“. Erstere leben im Süden von Venezuela und im Norden von Roraima, während die letzteren in der Guyana-Region, im Norden des Bundesstaates Pará, zuhause sind.

Indios do Xingu - Kalapalo
Indios do Xingu - Kalapalo
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nach obenGeschichte des Erstkontakts

Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Mythen der Kalapalo und denen der Ye´cuana deuten darauf hin, dass die Vorfahren der Karib vom Xingu die Region der Guyanas erst relativ spät verlassen haben – aller Wahrscheinlichkeit nach den Zusammenstössen mit den Spaniern, die sich in intensiver Form während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ereigneten. Vom kulturellen Standpunkt allerdings scheint es zwischen den Kalapalo und den nördlicheren Karib-Völkern wenig Gemeinsamkeiten zu geben, auf jeden Fall ist es schwierig, irgendwelche typischen Karib-Charakteristika in ihrer Art zu leben oder ihrer Ansicht über die Welt wieder zu finden.

Es bleibt ungewiss, wann die Gruppe, die „Kalapalo“ genannt wird, zum ersten Mal von Fremden kontaktiert worden ist. Indianer, die Mitglieder jenes Dorfes gewesen sind, welches diesen Namen trug, wurden erstmals von dem Anthropologen Hermann Meyer während eines anthropologischen Studiums der Völker am oberen Xingu, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, erwähnt. Im Jahr 1920 hatte Major Ramiro Noronha, von der „Comissão Rondon“, in der Region des Rio Kuluene einige Messungen vorzunehmen und machte bei dieser Gelegenheit den ersten registrierten Besuch in den Dörfern der Kalapalo, Kuikuro und Anagafïtï (in der Literatur „Naravute“ genannt). Letztere, insbesondere, hatten die Konsequenzen dieses Besuchs zu tragen: unter ihnen brach die erste einer Reihe von Epidemien aus, welche die Gemeinschaft ihres Stammes auseinanderbrach.

Der Name „Kalapalo“ wurde diesem Volk ursprünglich von Nicht-Indianern gegeben – er bezieht sich auf ein Dorf gleichen Namens, das seit etwas weniger als einhundert Jahren bereits verlassen worden ist. Zu jener Zeit zogen die Bewohner aus „Kalapalo“ fort zu einem anderen Ort, den sie „Kwapïgï“ nannten, und der dann, wieder einige Zeit später, vom Dorf „Kanugijafïtï“ abgelöst wurde – auch das verliessen sie 1961. Alle diese Wohnsitze befinden sich in einer Entfernung von zirka einem halben Tagesmarsch östlich des Rio Kuluene, südlich seines Zusammentreffens mit dem Rio Tanguro. Die letzten Nachkommen einer bedeutenden Karib-Gruppe, die sich „Anagafïtï“ nannten, vereinigten sich mit den Bewohnern von „Kanugijafïtï“ nach der Grippe-Epidemie der 40er Jahre – und auch versprengte Kuikuro, Mehinako, Kamayurá und Waurá lebten damals unter ihnen.

Der Stamm, den wir heute als „Kalapalo“ bezeichnen, ist also eine Gesellschaft von Indianern, deren Vorfahren verschiedenen eingeborenen Gesellschaften angehört haben – mit einer Mehrheit, die aus dem einstigen Dorf Kanugijafïtï stammt.

nach obenLebensraum

Gegenwärtig leben die Kalapalo in zwei Dörfern – eins nennen sie „Aiha“ (was „fertig, beendet“ bedeutet), es befindet sich im Südosten des Flusses Rio Kuluene, das andere heisst „Tanguro“, befindet sich am Ufer des Rio Kuluene, nahe der Grenze des „Parque Indígena do Xingu“. Einige Mitglieder des Stammes leben direkt auf “ Postos Indígenas de Vigilância (PIV)“ (Wachposten) der Flüsse Tanguro und Kuluene. Der PIV Tanguro befindet sich am Ufer des Flusses mit demselben Namen, direkt an der Parkgrenze – und der PIV Kuluene ebenfalls am Ufer dieses Grenzflusses.

Die antiken Dörfer dieses Volkes befanden sich weiter im Süden, an beiden Ufern des Kuluene. Von dort zogen sie nur widerstrebend in den Bereich des heutigen Nationalparks um, als 1961 die Grenzen dieses Schutzgebiets formell fixiert wurden und man auch andere Stämme aufforderte, ihre Dörfer in die Nähe des Postens Leonardo zu verlegen, um so den Kontakt mit Fremden kontrollieren zu können und im Krankheitsfall medizinische Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Trotzdem kehren sie immer wieder in ihr traditionelles Territorium zurück, um Pequi-Früchte von den Bäumen zu ernten, welche die früheren Dörfer umgeben, oder um Schneckenhäuser zu sammeln, die sie zur Herstellung bestimmter Schmuckutensilien verwenden (eine Spezialität dieser Gruppe), dort fischen sie auch und bearbeiten ihre ehemaligen Felder an verschiedenen Stellen des Kuluene-Verlaufs.

Trotzdem befanden sich auch viele ihrer Pequi-Bäume ausserhalb des markierten Park-Territoriums und wurden von den Farmern der Umgegend zerstört. Heute verlangen die Kalapalo einen Teil jenes Territoriums von der FUNAI zurück – im Gebiet der gegenwärtigen „Fazenda Sayonara“. Mitglieder der Kalapalo haben auch aktiv am „Projeto Fronteiras“ teilgenommen – koordiniert von der ATIX (Associação Terra Indígena do Xingu) und der ISA – einem Projekt zur Kontrolle der Grenzen des Parks, indem sie häufige Expeditionen zur Überprüfung und zur Säuberung der Flusspfade zusammenstellten.

nach obenBevölkerung

Durch Masern- und Grippe-Epidemien während der 20. Jahrhunderts verringerte sich die Kalapalo-Bevölkerung bedeutend – erst in den 70er Jahren bekam man die medizinische Betreuung am Oberen Xingu so gut in den Griff, dass auch das Volk der Kalapalo wieder zu wachsen begann. Während man 1968 noch ein Gesamt von 110 Personen in sechs Häusern zählte, waren sie 1982 auf 185 Personen angewachsen, die sich auf 13 Häuser verteilten. 1999 schätzte man die Kalapalo bereits auf um die 360 Personen und 2002 lag ihre Zahl bereits bei 417 Stammesmitgliedern – die letzten Daten stammen von der UNIFESP (Universidade Federal de São Paulo). Die gegenwärtige Bevölkerung der Kalapalo begreift auch die Nachkommen einer bedeutenden Karib-Gruppe ein, die sich selbst „Anagahïtï“ nennen und sich ihnen nach einer Grippe-Epidemie um 1940 angeschlossen haben. Ausserdem haben in ihren beiden Dörfern Personen aus folgenden Stämmen eingeheiratet: Kuikuro, Matipu, Nahukuá, Mehinako, Kamayurá und Waurá.

nach obenGesellschaftliche Organisation

Die gesellschaftliche Organisation der Kalapalo ist bemerkenswert flexibel, was die Stellung des Individuums innerhalb der Gruppe betrifft. In diesem Fall haben die Kalapalo verschiedene Optionen Gruppen zu bilden, und ihre Wahl hängt eher von zwischenmenschlichen Beziehungen ab, denn von ihrer Zugehörigkeit zu einem Clan, religiöser Nachkommenschaft oder Rechten und Pflichten gegenüber Vorfahren. Ihre Beziehungs-Terminologie scheint sich dieser Flexibilität anzupassen und versteht es vortrefflich, das Verhältnis zwischen Individuen gleichzeitig gesellschaftlich als auch emotional auszudrücken.

Sowohl die Dorf- als auch die Hausgemeinschaft sind die treibenden Kräfte für die Verwirklichung wirtschaftlicher und zeremonieller Aktivitäten. So säubern zum Beispiel die Dorfbewohner die Erde zum Anlegen der Maniok-Felder, sie ernten das Zuckerrohr, sammeln Waldfrüchte und bestimmte Nutzpflanzen, und sie nutzen die Ressourcen von Seen und Bächen der Region. Mitglieder anderer Ethnien nehmen an dieser „Nutzung des Territoriums“ nicht teil, es sei denn, dass sie in derselben Gegend eine gewisse Zeit zu leben beabsichtigen und zur Teilnahme ausdrücklich aufgefordert wurden.

In der gleichen Art und Weise verteilen die Mitglieder einer Hausbewohnerschaft die Nahrungsmittel unter sich. Obwohl jeder Erwachsene für die kontinuierliche Versorgung der Gemeinschaft mit Nahrung verantwortlich ist, hat ein Kalapalo aber auch das Recht, seinen Teil davon abzubekommen, selbst wenn er nicht in der Lage sein sollte, Nahrung zu beschaffen. Aber diese Teilung der Nahrung schliesst nicht die Mitglieder anderer Häuser mit ein, und es gilt als unhöflich, die Grosszügigkeit von Personen anderer Gruppen auszunutzen. Trotz dieser organisatorischen Form des Zusammenwirkens verändert sich die Zugehörigkeit zu Dörfern und Häusern von Zeit zu Zeit, und es gibt gelegentliche Wechsel verschiedener Personen von einer Gruppe zur anderen.

nach obenEthik und Verhalten

Ein Verhaltensideal für das Leben in der Gesellschaft nennen sie „Ifutisu“ – es bezieht sich auf eine Gesamtheit von ethischen Argumenten, mit denen die Kalapalo die Völker des Oberen Xingu von allen anderen menschlichen Wesen unterscheiden. In einem allgemeinen Sinn kann man „Ifutisu“ als das Fehlen von Aggressivität in der Öffentlichkeit bezeichnen – zum Beispiel ein geschickter Redner in der Öffentlichkeit zu sein und keine Situationen zu provozieren, welche anderen Menschen unangenehm sein könnten – durch die Anwendung von Grosszügigkeit, wie der Gastfreundschaft und der Bereitschaft zu geben oder materiellen Besitz mit anderen zu teilen. Die Kalapalo glauben, dass das Funktionieren einer Gesellschaft von der Umsetzung dieses Ideals abhängt.

In unterschiedlichen Varianten erstreckt sich dieses Konzept auf alle Bereiche des sozialen Lebens, sie wenden es an zwischen den lokalen Gruppen, zwischen Blutsverwandten, Freunden, Männern und Frauen, und sogar zwischen Menschen und Nicht-Menschen. Die Demonstration des „Ifutisu“-Verhaltens bringt Prestige und ist deshalb wichtig zur Erlangung politischer Macht. Dieses Ideal ist Manifest innerhalb eines einzigartigen Verhaltenskodex, von dem die Kalapalo sagen, dass er sich von dem ihrer traditionellen Nachbarn wesentlich unterscheidet.

Bevor die Grenzen des Parks festgelegt waren und unter ständigem Kontakt mit den Brasilianern der Gegend, bedrängten aggressive Indianerstämme das Xingu-Becken, und gelegentlich stiessen sie auch mit den lokalen Gruppen zusammen. Relationen der Kalapalo mit einigen dieser herumziehenden Stämme – besonders den „Jaguma“, die im Osten des Rio Tanguro lebten (einem Zufluss des Xingu) – waren manchmal freundschaftlicher aber meistens feindlicher Natur. Die Kalapalo nennen diese Stämme, und alle anderen, welche nicht zur Gesellschaft des Oberen Xingu gehören, „Anikogo“ – wilde Menschen (von „aniko“ – wildes, ungezähmtes Verhalten). Diese Kategorie von „Menschenwesen“ wird mit einem Verhaltensetikett versehen, das sie „Itsotu“ nennen, es bezieht sich auf die Wut und die Gewalt. Das „Itsotu-Verhalten“ steht in ausdrücklichem Kontrast zu dem friedlichen und grosszügigen „Ifutisu“, der bedeutendsten, und charakteristischsten Eigenschaft der „Gesellschaft des Oberen Xingu“ – für die Kalapalo.

Die zweite bedeutende Eigenschaft mittels derer die Kalapalo die „Kuge“ (Menschen) von anderen „menschenartigen Wesen“ unterscheiden, ist eine Gesamtheit von Essensgewohnheiten, die ebenfalls das „Ifutisu-Verhalten“ reflektieren. Signifikantester Aspekt ist dabei ein System, nach dem die „lebendigen Dinge“ (Ago) nach einem Essbarkeits-Kriterium klassifiziert werden. Die Kalapalo lehnen in der Regel den Verzehr von behaarten Erdentieren ab – sie nennen sie „Nene“ – und essen nur jene, die sie als „Kana“ bezeichnen, Kreaturen des Wassers (besonders aber Fische). Ausser diesem Grundprinzip gibt es spezielle Restriktionen für Personen, welche sich in einer bestimmten Lebenskrise befinden – besonders die Jugendlichen. Die Bedeutung dieses Nahrungssystems wird von der Idee unterstützt, dass das physische Erscheinungsbild Ausdruck der inneren Gefühle sei; so ist die körperliche Schönheit, begleitet von der Anwendung gewisser Ernährungs-Einschränkungen, ein Zeichen von moralischer Schönheit. In der Mythologie der Kalapalo spielen Mädchen und Knaben die Rollen perfekter Moral, welche oft im Gegensatz zu ihrem schlechten Verhalten als Erwachsene stehen.

nach obenRollen der Geschlechter

Es gibt im Leben der Kalapalo eine grundsätzliche kulturelle Unterscheidung zwischen Männern und Frauen. Dieser Gegensatz zeigt sich sowohl in psychologischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht, als auch in der räumlichen Konfiguration des Dorfes, im Fall von hausinternen Themen und, noch etwas dramatischer, im rituellen Leben der Gemeinschaft.

Im Zentrum eines jeden Dorfes des Oberen Xingu befindet sich ein kleineres Gebäude (die Kalapalo nennen es „Kwakutu“), in dem die Flöten aufbewahrt werden (die Kalapalo nennen sie „Kagutu“) – sie werden einzig und allein von den Männern gesehen, berührt und gespielt. Frauen dürfen dieselben nicht einmal ansehen – denn sonst könnten sie von jedermann vergewaltigt werden.

Das „Kwakutu“ dient auch als Aufbewahrungsort für die Utensilien der Männer, die bei rituellen Anlässen von ihnen getragen oder sonst irgendwie benutzt werden, ausserdem ist es der Treffpunkt für die Männer, um sich für einen gemeinsamen Fischzug zu organisieren, um zu palavern, um sich gegenseitig für eine Zeremonie zu bemalen und auch um ihre Bezahlung für ein geordertes Ritual zu erhalten. Die Gegenwart der „Kagutu“ verbietet das Betreten des „Kwakutu“ durch die Frauen und schafft dadurch eine reine Männerdomäne mit diesem Haus (das von den Indianern des Oberen Xingu deshalb auch „Männerhaus“ genannt wird). Räumlich wird das Dorf unterteilt in einen Gegensatz zwischen dem männlichen Teil des Dorfplatzes, dem Kreis der öffentlichen Aktivitäten, und dem Kreis der Behausungen, dem Raum femininer Aktivitäten und Sphäre häuslicher Aktivitäten.

Obwohl die Instrumente vor den Frauen versteckt werden, besteht die Unterhaltung zwischen den Männern, wenn sie von den Flöten „Kagutu“ sprechen, aus Metaphern der weiblichen Sexualität. Mythologisch betrachtet, werden die Flöten als „weiblich“ beschrieben. Einst wurden sie zusammen mit vielen Fischen in einem Netz entdeckt – eine kleinere Flöte, die sie „Kuluta“ nannten, und ein anderes Instrument, das sie „Meneuga“ nannten – es wird nicht mehr hergestellt und „Kagutu“ ist „seine jüngere Schwester“. Form und Erscheinung gleichen einem weiblichen Sexualorgan: das Mundstück wird „Igïdï“ (Vagina) genannt – und wenn die Flöten oben auf dem Mittelbalken versteckt und angebunden werden, während der Perioden, in denen niemand sie spielt, sagen sie, dass sie „menstruieren“. Viele der Lieder, welche von den „Kagutu“ begleitet werden, wurden von mythologischen Frauen kreiert und werden, bei anderen Gelegenheiten, auch von Frauen rezitiert (aber sie dürfen nicht singen, wenn die Flöten gespielt werden). Jene Lieder reflektieren deutlich die frauliche Perspektive der Dinge, denn sie beziehen sich auf Nahrungs-Tabus, welche von den Frauen befolgt werden, während ihre Kinder krank sind, auf Relationen mit Geliebten und Ehemännern, sowie auf feminine Rivalitäten.

Im femininen Ritual, das bei den Kalapalo als „Yamurikumalu“ bekannt ist, intonieren Frauen, geschmückt mit Federn und rasselnden Gelenkbändern, die normalerweise typischer Männerschmuck sind, Gesänge, in denen sie sich der männlichen Sexualität widmen. Da gibt es die verschiedensten Arten von Gesängen, einige haben die Entstehung dieser Zeremonie zum Thema, andere beziehen sich auf die Art und Weise, wie ihre Männer mit den Flöten „Kagutu“ umgehen, und wieder andere demonstrieren deutlich die aggressive sexuelle Haltung der Männer vor gewissen Frauen.

Die originale mythologische Version des „Yamurikumalu“ beschreibt, wie die Verfasserinnen jener Gesänge zum ersten Mal einen Penis bekamen, den Kunstgriff zur Verführung anderer Frauen erlernten und die Geschicklichkeit, ihre übernatürlichen Fähigkeiten mittels Anwendung verschiedener maskuliner Substanzen an ihrem Körper zu kontrollieren. Diese „monströsen Weiber“, wie sie genannt werden, verwandelten sich in machtvolle Wesen, die, nachdem sie ihre weiblichen Aufgaben verweigert hatten (Männer zu verführen, Kinder zu gebären, zu bewachen und aufzuziehen), anfingen die verbotenen Flöten zu spielen, wie Männer jagten und fischten, und, darüber hinaus, Emotionen und Berufungen präsentieren, die typisch männlich sind.

Die sexuellen Merkmale, auf die sich dieses Ritual bezieht, sind jene, die von Personen des anderen Geschlechts als abstossend und gefährlich angesehen werden. Dies sind für die Männer die femininen Organe in ihrer Unersättlichkeit und ihren mysteriösen und Furcht einflössenden Menstruations-Prozessen (deshalb befolgen die Frauen auch verschiedene menstruale Tabus, inklusive vermeiden sie Fisch und die Zubereitung gekochter Speisen während der Menstruation). Für die Frauen dagegen, lauern männliche Gefahren in Form von einer potentiell gefährlichen Substanz im männlichen Samen (die exzessive Samenmenge von mehreren Männern kann im Leib einer Frau verderben und sie ernstlich krank machen, denn so bindet sie nicht um das Kind zu formen), und weiter, noch schlimmer, die aggressive männliche Sexualität ist eine Bedrohung, die in Vergewaltigung ausufern kann.

So inszenieren Repräsentanten beider Geschlechter in ihren Ritualen die gefährlichen Eigenschaften eines imaginären Modells der Sexualität des Anderen. Eingeschlossen in diese Szenerie sind unkontrollierbare sexuelle Gefühle, giftige sexuelle Substanzen und Gefühle, die in das gesellschaftliche Leben eingreifen (Eifersucht, exzessive Bescheidenheit, Angst vor dem anderen Geschlecht, absurde Leidenschaften).

nach obenMusik und Rituale

Sowohl beim „Yamurikumalu“ als auch beim „Kagutu“ sind es vor allem die Musik und der tänzerische Ausdruck, welche die Unterschiede und die Antagonismen zwischen den Geschlechtern herausarbeiten, aber der Musik gelingt es auch, eine Verbindung zwischen denen, die spielen und denen, die zuhören zu schaffen (die sollten vom anderen Geschlecht sein), und das Ergebnis ist die gesellschaftliche Kontrolle der demonstrierten gefährlichen Kräfte. In der Mythologie der Kalapalo wird mit Musik und Tanz einerseits eine aggressive Metamorphose gefährlicher Wesen (Itseke) dargestellt, sie werden andererseits aber auch als Mittel betrachtet, den Zuschauern die Kontrolle dieser Kräfte zu ermöglichen.

Die Kalapalo benutzen ihre von Musik und Tanz geprägten Rituale also als Kommunikationsmittel zwischen Domänen, die sie als vollkommen unterschiedlich, von einander getrennt, oder als ungleiche Kategorien der Wesen betrachten: Männer und Frauen, menschliche Wesen und mächtige Wesen, Erwachsene und kleine Kinder. Diese Kommunikation geschieht allerdings in einem Klima der Solidarität, besonders aber um den Zuschauern die Macht dieser Wesen zu demonstrieren – und auf der anderen Seite, um die Kräfte der Zuschauer zu ihrer vorübergehenden Entmachtung zu benutzen.

Zwischen Mai und September, während der Trockenperiode (Isoa) am Rio Xingu, finden die bedeutendsten Rituale statt, die unter Umständen Wochen und Monate dauern können, und viele andere Gruppen des Oberen Xingu einbegreifen.

Zu Beginn dieser Zeit konzentrieren sich die Kalapalo im Kollektiv gleichzeitig auf musikalisch-tänzerische Performance wie auch auf ihre wirtschaftlichen Aktivitäten. Die Dorfgemeinschaft, genannt „Sandagi“ – Nachfolger, wird geführt von rituellen Meistern, deren Führung vererbt wurde, und die dem Kollektiv als „Aneta“ – Leiter, bekannt sind. Sie planen, organisieren und leiten den rituellen Prozess. Praktisch die Hälfte der Bevölkerung erhält diese Bezeichnung – inklusive Personen beider Geschlechter und aller Altersstufen – aber nur die Ältesten und Erfahrensten bewahren diese Aufgabe auf Dauer. Auch andere, weniger bedeutende Aufgaben werden den „Aneta“ im Allgemeinen anvertraut.

Die Kalapalo unterscheiden bei ihren öffentlichen Ritualen zwei Arten: „Egitsu“ (dasselbe wie „Kwarup“ in der Tupi-Sprache der Kamayurá – beschrieben im Text „Parque Indígena do Xingu“) und „Undufe“. Der Terminus „Egitsu“ bezieht sich auf Veranstaltungen, die eine Teilnahme von eingeladenen Gästen aus anderen Dörfern des Oberen Xingu einbegreifen. Während man unter „Undufe“ die öffentlichen Zeremonien innerhalb der eigenen Dorfgemeinschaft versteht.

© Ellen Basso, Anthropologin der Universität von Arizona (USA), im Juni 2002
Deutsche Übersetzung/Bearbeitung, Klaus D. Günther
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