Wenn wir in Europa von „brasilianischer Musik“ sprechen, dann denken wir, in der Regel, an den mitreissenden Rhythmus einer „Samba“ oder die unvergesslichen Melodien einer „Bossa Nova“ – alle anderen brasilianischen Stilrichtungen sind den meisten Europäern in der Regel unbekannt. Was aber als besonderes Klangerlebnis auch europäische Ohren besonders entzückt, wenn sie brasilianische Musik erleben, sind die interessanten Perkussions-Instrumente, vielmehr deren vielseitiges, sehr exotisch anmutendes Klangbild. Beim erwähnten Samba verblasst sogar der Liedtext gegenüber der Perkussion – Klang und Rhythmus dieser Instrumente sind es, die jeden Brasilianer, jung oder alt, vom Hocker reissen – aber auch die meisten europäischen Brasilienbesucher erfahrungsgemäss ganz ungewöhnlich in Stimmung bringen und in Bewegung versetzen.
In jeder Stadt Brasiliens ist Musik allgegenwärtig: sie schallt aus den Plattenläden, dröhnt aus Reklame-Lautsprechern, aus Autofenstern und manchmal sogar live aus der einen oder anderen Bar – besonders an den Wochenenden. Auf dem Sand der Strände bilden sich kleine Gruppen um eine Gitarre herum – oft geht das Instrument von Hand zu Hand, und jeder gibt seinen Beitrag, der Rhythmus kann mit einem Stäbchen auf einer Bierdose akzentuiert werden, oder auf einem Plastikbecher. Auf vieles können die Brasilianer verzichten, nicht aber auf Musik, Rhythmus oder ein Lied. Musik bedeutet Nähe und Geborgenheit, denn man hasst nichts so sehr wie das Alleinsein.
Während Musik im europäischen Alltag zum blossen Hintergrundsgedudel verblasst ist, das man sowohl beim Spülen als auch beim Zeitungslesen eben laufen lässt – denn den banalen Texten, in vorzugsweise amerikanischen Lautmalereien, hört sowieso niemand mehr zu – ist in Brasilien die Musik noch ein wichtiges Medium zur allgemeinen Kommunikation: eine schöne Melodie versetzt die brasilianische Seele in Schwingungen und öffnet sie für einen informativen oder gefühlsbetonten Text. Der kommt oft daher als eine kleine, dramatische Geschichte – als romantische Liebeserklärung oder die Tränendrüsen pressende Tragödie. Da sehnen sich die weiblichen Angestellten einer Telefonzentrale in Rio, nach dem einsamen Kuhtreiber aus der Weite des Mato Grosso, der mit einem sexy Akzent seine vergebliche Suche nach seiner Herzallerliebsten besingt. Die Fliessbandarbeiter des brasilianischen Volkswagenwerks dagegen, werden mit dem Song vom „Schwarzen Käfer“ so richtig angeturnt – da bleibt kein Auge trocken, und den Refrain singen alle mit, während sie den Rhythmus mit dem einen oder anderen Arbeitsinstrument improvisieren. Wenn Reginaldo Rossi, in leicht angesäuseltem Zustand, einem Kellner vom Leidensweg seiner verlorenen Liebe erzählt, dann wiegt sich eine ganze Nation in seinem unwiderstehlichen Refrain – und viele Tränen werden heimlich abgewischt.
Musik ist die schnellste Verbindung zwischen den Menschen – brasilianische Musik ist darüber hinaus noch ansteckend, wie ein Virus. Wenn jemand einen Song vor sich hinträllert, summt sofort irgendjemand mit oder klopft den Rhythmus mit den Fingern auf die Tischplatte. Schon ist der Kontakt hergestellt. Europäer, obwohl sie einige der inzwischen weltbekannten brasilianischen Sambas oder Bossa-Novas schon zuhause gehört haben – oft als traurig entstellte Machwerke zweitklassiger Orchester – müssen sich nun vor Ort erst in jenen vibrierenden, lebendigen Rhythmus einfühlen, mit dem brasilianische Musik sich bereits in ihrem auditiven Gerüst von der Struktur europäischer Tonfigurationen unterscheidet. Alles was die Seele beschwingt, zum Mitsingen reizt und gute Laune verbreitet – aber auch, was nachdenklich stimmt und gar die Tränendrüsen provoziert, kann man unter den beiden Begriffen „Samba“ oder „Bossa Nova“ einordnen – und wo das nicht passt, bestimmt als „Musica Popular“ (Volksmusik).
Es ist nicht leicht herauszufinden, welchem der beiden Emotionsstimmulierer mehr Bedeutung zukommt, der Melodie oder dem Text. Letzterer wird durchaus ernst genommen, und seine Verfasser werden nicht selten als Wortführer von Volksgruppen akzeptiert, besonders wenn ihre Texte auf eine wunde Stelle im sozialen Gefüge der Gesellschaft zielen.
Und wo Musik gemacht wird, da ist auch Freude und Bewegung. Es gibt keinen Brasilianer, der Musik hört und dabei still sitzen bleibt. Ebenso gibt es keine Familienfeiern ohne Musik und Tanz – Beerdigungen mal ausgenommen. Wenn einer unmusikalisch ist, auch so eine Seltenheit in Brasilien, dann trägt er wenigstens zum Rhythmus seinen Teil bei.
Vielleicht hat Brasilien wegen seiner enormen Ausmasse ein grösseres Musik-Repertoire als irgendein anderes südamerikanisches Land, was sich nicht nur in der immensen regionalen Verbreitung seiner Volksmusik ausdrückt, sondern auch in den sukzessiven Wellen seiner urbanen Kreationen. Brasilianer kommunizieren bis zu einem ausserordentlich hohen Grad mittels Musik und Tanz. Brasilianische Musik deckt das gesamte Spektrum ihres Lebens ab – von der äussersten Bescheidenheit landwirtschaftlicher Existenz bis zur künstlerisch-kommerziellen Sofistikation. Virtuell befindet sich der äusserste Norden Brasiliens in der Karibik, während der extreme Süden auch die musikalischen Einflüsse der La-Plata-Länder in seine Kultur aufgenommen hat.
Wir präsentieren Ihnen im BrasilienPortal, ausser einer ausführlichen Übersicht der brasilianischen Musikstile, auch Biografien der Sängerinnen und Sänger sowie brasilianischer Bands.