Der Indianer und die Grossstadt

Zuletzt bearbeitet: 29. Oktober 2013

Es war einmal – so beginnen die meisten Geschichten mit einem guten Ende – und meine hat auch eins – ein gutes Ende, meine ich. Also es war einmal ein Indianer, der lebte weitab von jenem betriebsamen, lärmenden Chaos, das wir Zivilisation nennen, ganz tief drinnen im Regenwald Amazoniens auf einer kleinen Lichtung mit sechs halbkugeligen, palmstrohgedeckten Hütten, die von seinen Stammesbrüdern und –schwestern bewohnt, für ihn – und auch für sie – den Mittelpunkt der Welt bedeuteten.

Bedeutet hatten . . . denn eines Tages war ein Trupp weisser Männer auf ihrer Lichtung erschienen, mit Töpfen aus Metall und ebensolchen Messern und Äxten, die sie seinen überraschten Leuten als Geschenke überreichten. Dann liefen sie ein bisschen herum, guckten in die halbkugeligen Hütten und malten Zeichen auf eine weisse, ganz dünne Haut – schliesslich zählten sie alle Mitglieder der kleinen Gemeinschaft – auch die Säuglinge an der Brust ihrer Mütter – und malten wieder ihre Zeichen auf die dünne, weisse Haut. Ihr Besuch dauerte gerade solange wie die Sonne braucht, um von der einen Seite der kleinen Lichtung zur gegenüberliegenden zu wandern – danach verschwanden sie wieder im Wald.

Dies war der Anfang einer grossen Veränderung im Leben dieser kleinen indigenen Gemeinschaft. Von nun an waren sie keine unbekannten, in der Isolation lebenden Waldmenschen mehr, sondern wurden als “neuentdecktes Indianervolk” in die Registratur einer Organisation aufgenommen, welche im Auftrag der Landesregierung die Existenz der “Neuentdeckten” überwachten und sie mit einer Flut von Vorschriften gängelte.

“Einmal”, so erzählte mir mein indianischer Freund, “ist sogar ein ganz in Schwarz gehüllter Weisser auf unserer kleinen Lichtung erschienen, der behauptete, es gäbe nur einen einzigen Gott, und das sei seiner – und es sei “böse”, den Geistern des Waldes, des Wassers, des Feuers und der Luft zu huldigen, dafür würden wir von seinem Gott bestraft ! Nun, wir haben Bogen und Pfeile aus unseren Hütten geholt und sie auf ihn gerichtet – da ist er ganz schnell im Wald untergetaucht – hat offensichtlich nicht viel Vertrauen zu seinem Gott gehabt”!

BakairiSeither sind mehr als zwanzig Jahre vergangen. Mein indianischer Freund ist inzwischen, so wie ich, sichtbar gealtert, ein runzliger, alter Indianer mit schlohweissem Haar, der immer noch am liebsten auf seiner kleinen Lichtung sitzt, Tabak kaut und den grossen und kleinen Tieren zuschaut, während die Sonne auf seine lederne Haut scheint. Sein ältester Enkel dagegen besucht nun die Universität in der Landeshauptstadt, eine Enkelin ist nach einem Wirtschaftsstudium der regionalen Partei der “Grünen” beigetreten, und die anderen Enkel hat dieses chaotische Ungeheuer Zivilisation spurlos verschluckt – die hat er seit ihrem Verlassen der kleinen Regenwaldlichtung nicht mehr gesehen, während ihn jener studierende Enkel und seine “grüne” Schwester immer noch hie und da besuchen.

Jener Enkelin ist es zu verdanken, dass der alte Indianer wenigstens einmal in seinem Leben eine Grossstadt kennengelernt hat – sie konnte ihn endlich dazu überreden, zusammen mit ihr eine der “grünen” Versammlungen in der Kreisstadt zu besuchen, wo sie ihren Grossvater als “typischen Vertreter eines aussterbenden Volkes” angekündigt hatte, von dem man in Sachen “Harmonie mit der Natur” viel erfahren und lernen könnte.

Die Grossstadt war ein gewaltiger Schock für den alten Mann : Er fühlte sich überwältigt von der Hetze der Menschen, die sich nicht grüssten – dem Lärm, der sein feines Gehör folterte – dem schlechten Geruch überall, der Gefährlichkeit der rasenden Fahrzeuge und dem dunklen Himmel über all dem Chaos. Während ihn seine Enkelin an der zitternden Hand hielt und ihm stolz die Stadt zu erklären versuchte, schaute ihr Grossvater gar nicht hin, sondern dachte an seine kleine Waldlichtung, auf der sich am Nachmittag seine Nachbarn zu einem Schwatz im Gemeinschaftshaus trafen, oder um zu meditieren und Erfahrungen auszutauschen. Das war es, wodurch ihm sein Volk so etwas Besonderes zu sein schien: Sie verbrachten die meiste Zeit miteinander – sie grüssten, respektierten und brauchten sich – sie lebten in Harmonie mit der Natur um sie herum und die Natur mit ihnen – sie bewegten sich bedächtig und machten kaum Lärm, der Geruch des Waldes, besonders nach einem der zahlreichen Regenfälle, war der angenehme Duft seiner Heimat, und der Himmel über ihm wurde nach dem Regen immer wieder blau.

Natürlich wollte ich mir den Besuch meines alten Freundes in der Stadt nicht entgehen lassen, und so stiess ich am zweiten Tag zu den Beiden. Grossvater und Enkelin sassen in einem Strassencafé – sie hatte einen grossen Eisbecher vor sich, während er, nachdem er mich herzlich umarmt hatte, seinen edlen Kopf mit den langen, weissen Strähnen, der Adlernase und den tausend gegerbten Falten leicht zur Seite neigte und seine Augen sich auf den Rand des Trottoirs richteten. Ich bemerkte, dass sein besonderes Interesse anscheinend einem Gulli galt, den die Präfektur für den Abfluss des Regenwassers dort installiert hatte. Er bemerkte meinen fragenden Blick und meinte, dass er gerade das Zirpen einer Grille gehört habe, welches ihn an seine kleine Lichtung erinnere. Ich war perplex – wie konnte er bei all diesem Lärm der Stadt um uns herum – dem Hupen des Verkehrs und dem Schreien der Bauchladenhändler – wie konnte der alte Indianer den zarten Gesang einer Grille aus dem Gulli gehört haben ?

Also erklärte er mir folgendes: “Weisst Du, mein Freund, unsere Ohren hören das, woran sie gewöhnt sind, oder was sie hören wollen – soll ich Dir das mal an einem Beispiel demonstrieren”? Und weil ich nickte, bat er mich, ihm eine kleine Münze zu leihen – ich gab sie ihm – und er schnippte sie auf’s Trottoir, auf dem sie, ab und zu über Unebenheiten springend, entlang rollte. Fast alle Passanten drehten die Köpfe und suchten den Boden nach der kleinen Münze ab, die da in ihren Ohren klingelte. Und mein alter indianischer Freund meinte: ”Siehst Du, mein Freund, auch ihre Ohren hören – trotz des Lärms – das, was sie gern hören wollen”!

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AutorIn: Klaus D. Günther · Bildquelle: AgenciaBrasil

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