Spinnen – Ein Leben am seidenen Faden

Zuletzt bearbeitet: 30. Oktober 2023

Multifunktionell, technologisch genial und überraschend trickreich sind die Netze faszinierender Lebewesen – der Spinnen.

“Oh, mein Gott! Schaut nur die Grösse dieser ekligen Spinne! Die macht mir Angst… auf keinen Fall werde ich unter diesem Netz durchmarschieren – vielleicht springt sie mich an oder lässt ihr Netz auf mich fallen – ich hasse diese Viecher!“

Solche und andere Entsetzensschreie höre ich um mich herum, während ich eine kleine Spinne fotografiere, die auf einem Blatt am Steilufer des Flusses sitzt. Eine andere Spinne, direkt über meinem Model, scheint zwischen zwei Bäumen zu schweben – sie ist wesentlich grösser und erschreckt die Wanderer auf dem Pfad zur Serra do Japi, im Interior des Bundesstaates São Paulo. Natürlich wissen sie nicht, dass das arme Tierchen völlig harmlos ist – wenigstens für Menschen.

Spinnennetz – Foto: Albrecht Fietz auf Pixabay

Noch vor einer Woche habe ich ganz andere Worte in Bezug auf dieselbe Spinnenart vernommen, nämlich die eines Biologen, an dessen Führung ich teilgenommen hatte: “Dies ist die Nephila clavipes. Sie konstruiert grosse, kugelförmige Netze und ist inoffensiv. Ihr Biss tut weniger weh als der einer Ameise”. Der Biologe Marcelo Gonzaga studiert Spinnen schon seit 13 Jahren. Für mich sind diese Tiere mit acht Beinen bewundernswerte Objekte, die stets seine Neugier geweckt haben, denn die Angst verfliegt, je mehr man über sie lernt.

Die Spinnen – klassifiziert als Arachnida, Ordnung Araneae – gehören zu jenen Tieren, denen Laien mit dem grössten Unverständnis gegenüberstehen, und in der Evolutionsgeschichte sind sie verwandt mit den ebenfalls furchterregenden Skorpionen. Dies führt zu einer verallgemeinerten Furcht und der kompulsiven Reaktion, jedwede Spinne, die unseren Weg kreuzt, mit einem Schlappen oder einer anderen “Waffe“ sofort zu erschlagen. Diese sehr diversifizierte Gruppe – mit zirka 40.000 Arten – besteht aus bewundernswerten Organismen, mit unvergleichlichen Fähigkeiten. Die einzelnen Arten unterscheiden sich nach Grösse, Ernährung und Lebensweise, gemeinsam ist ihnen jedoch die Fähigkeit, Seidenfäden produzieren zu können, den Rohstoff der Netze. Die unterschiedliche Nutzung der Seidenfäden erlaubt den Spinnen, sie in verschiedenen Lokalitäten einzusetzen und unterschiedliche Beutetiere zu fangen – die Seidenfäden spielen eine fundamentale Rolle im Erfolg dieser Gruppe. Bis heute kennen wir noch nicht alle multiplen Anwendungsmöglichkeiten jenes einfachen, klebrigen Seidenfadens.

dew and spider webEin Spinnennetz besteht aus Proteinen, die in den so genannten Spinndrüsen am Hinterleib produziert werden. Sie werden in Tröpfchenform flüssig ausgeschieden und verfestigen sich nach dem Kontakt mit der Luft. Die Spinne presst diese Flüssigkeit langsam nach aussen – sie ist nicht in der Lage, sie zu versprühen (wie das der fiktive Spider-Man tut). Wie also gelingt es einigen Spinnen, ihre Netze zwischen zwei Bäumen aufzuspannen, die mehrere Meter voneinander entfernt sind? Eine genaue Beobachtung ihres Verhaltens lüftet dieses Mysterium: Sie beginnen die Konstruktion, indem sie einen Faden produzieren, den sie mit dem Wind treiben lassen, bis er einen Ast des nächsten Baumes erreicht. Wenn der Faden haftet, strafft ihn die Spinne und beginnt nun die Basis ihres Netzes zu “knüpfen“ – den Anfangsfaden benutzt sie als Brücke, die das gesamte Netz trägt.

Spinnwebe im GegenlichtDie Vielfalt der Netzkonstruktionen bei den verschiedenen Spezies ist so gross, dass es den Spezialisten bisher nicht gelungen ist, sie im Einzelnen zu klassifizieren. Einige bestehen nur aus wenigen Fäden, die aus einem Loch im Boden herauskommen, andere scheinen aus einem grossen, ungeordneten Gewirr von Fäden zu bestehen, die zwischen Pflanzen aufgespannt sind. Es gibt Netze in Form eines Betttuches, in der Regel mit einem Trichter aus Seide, der als Versteck der Spinne dient. Und die bekanntesten sind die so genannten “orbikularen“ Spinnennetze, die ein Zentrum aufweisen, von dem aus Fäden strahlenförmig ausgehen, die durch eine Fadenspirale miteinander verbunden sind. “Selbst innerhalb einer jeden dieser Basisformen existieren unzählige Netzvarianten, die auf die jeweilige Fangstrategie der jeweiligen Spezies abgestimmt sind“, erklärt der Biologe Gonzaga.

Auch die materielle Zusammensetzung der Seidenfäden ist unterschiedlich – in der Regel gibt es zwei Basistypen: Der erste wird mittels einer speziellen Struktur produziert, die bestimmte Spinnengattungen auszeichnet und “Cribelum“ genannt wird. In diesem Fall wird der Faden nach seiner Verfestigung an der Luft „gekämmt“, von einer Gruppe Borsten, die sich an den Hinterbeinen befinden – dem “Calamistrum“ – und so in mehrere Fäden unterteilt. Die sind zwar relativ trocken, aber effizient genug, um Insekten durch ihre Vielzahl festzuhalten. Der andere Fadentyp ist ein einziger Strang, bedeckt mit einer feuchten, klebrigen Substanz, so ähnlich wie ein Klebstoff. Die Klebrigkeit verringert sich in dem Mass wie die Fäden trocknen, deshalb werden sie von den Spinnen regelmässig gefressen und durch neue Fäden mit neuer Klebeschicht ersetzt. Durch das Auffressen ihres trocken gewordenen Netzes vermeidet die Spinne den Verlust von Protein, das sie zur Neukonstruktion eines Netzes braucht – sie verringert so die Verschwendung von Energie.

Spider web on a meadow in the rays of the rising sunAusgerüstet mit einer solchen Vielfalt an Netzen und Fäden, zeigen sich die Spinnen äusserst kreativ bei der Anwendung ihrer “Werkzeuge“ zum Fangen der Beute. Und auch zur Aufbewahrung, denn es genügt, sich einmal eine dieser Netzstrukturen genauer anzusehen, um die kleinen Tierchen zu bemerken, die getrocknet und eingerollt für die nächsten Mahlzeiten der Spinne dort aufgehängt sind. Zu den häufigsten Beutetieren von Spinnen gehören Insekten, aber es können auch andere Spinnen sein und sogar kleine Wirbeltiere, wie Frösche, Fische, Eidechsen, Schlangen, Nagetiere und selbst Kolibris. Die grösseren Beutetiere können in gemeinschaftlichen Netzen gefangen werden, in Kooperation von Spinnen, die in Gruppen leben. Oder sie sind Opfer von grösseren Spinnen, auf dem Boden, oder auch jener, die in der Lage sind, auf der Wasseroberfläche zu jagen.

Die grosse Mehrheit der Spinnen webt ihre Netze und verlegt sich aufs Warten, bis die Beute in die Falle geht. Wenn das Insekt in den Fäden zappelt, eilt die Spinne herbei und immobilisiert die Beute mittels ihres Giftes und/oder umwickelt deren Körper mit Fäden. Nachdem die Beute bewegungsunfähig ist, beginnt die Spinne mit ihrer Mahlzeit: Sie produziert Verdauungs-Enzyme, die in das Opfer injiziert werden und es verflüssigen – dann saugt die Spinne diese vorverdaute Nahrung auf, die in ihrem Darmtrakt weiterverdaut wird. Man spricht in diesem Fall von einer extraintestinalen Verdauung, die bei allen Spinnen zur Anwendung kommt.

spider´s webDamit ihr Netz auch effizient funktioniert, muss die Spinne natürlich auch alles bemerken, was hineinfällt. Deshalb ist die Struktur des Netzes von besonderer Bedeutung, sie muss in der Lage sein, alle Vibrationen mechanisch zu übertragen. Bei den orbikularen Netzen ist die Übertragung von Vibrationen extrem effizient durch eine Reihe von radialen Fäden, die mit den Spiralen verbunden sind und so kleinste Erschütterungen bis ins Zentrum des Netzes weiterleiten, wo die Spinne lauert. Eine perfekte Mischung aus Kunst und Technik!

Auch die Vogelspinnen, die in Bodenlöchern leben, benutzen einen ähnlichen Trick. Sie spinnen Seidenfäden rund um den Eingang ihrer Höhle und bemerken durch die Erschütterung dieser Fäden, wenn sich ein Beutetier nähert, noch bevor sie es sehen. Ein besonders kurioser Fall ist die Familie der Oxyopidae: Man kennt sie auch als Luchsspinnen oder Scharfaugenspinnen – diese aktiven Jäger leben auf behaarten Blättern und bemerken so die Annäherung von Beutetieren durch das Vibrieren der Blatthaare. Die Beute wird daraufhin im Sprung erlegt.

Eine weitere interessante Variante bei der Nutzung des Netzes zum Fang von Beutetieren ist die der Gattung Deinopis (Familie Deinopidae – Kescherspinnen): Sie produzieren ein kleines Netz – in seiner Form dem orbikularen ähnlich – aber anstatt es zwischen der Vegetation zu befestigen, um darauf zu warten, dass Beutetiere in die Falle tappen, spreizen sie es zwischen dem ersten und zweiten Paar ihrer Beine und fangen damit kleinere Insekten ein. Sie hängen sich mit dem Kopf nach unten in die Vegetation und versuchen nun, wie ein Fischer mit seinem Wurfnetz, vorüberfliegende Insekten einzufangen.

Und es gibt Spinnen, die sich die Arbeitskraft ihrer Nachbarn zunutze machen und Beutetiere aus deren Netzen stehlen. Obwohl sie sehr wohl in der Lage sind, selbst Seidenfäden zu produzieren, ziehen es die so genannten Kleptoparasiten vor, ihr ganzes Leben auf den Netzen anderer Spinnen zu verbringen und ihnen die Nahrung zu stehlen. Und sogar die Besitzerin des Netzes kann unter Umständen zur Beute dieser Kleptomanen werden – was jedoch wegen der geringen Grösse der Eindringlinge selten vorkommt.

Spinnennetze haben, ausser dem Einfangen von Beutetieren, auch noch andere Funktionen, wie zum Beispiel den Schutz ihrer Konstrukteure, die von anderen Spinnen, kleinen Säugetieren oder Vögeln gejagt werden. Sich im Zentrum des Netzes sichtbar aufzuhalten, ist nicht immer eine gute Strategie, besonders wenn es rundherum Beutejäger gibt, die der Spinne gefährlich werden können. Deshalb haben einige Arten Verstecke und Verkleidungen entwickelt – einige davon so aussergewöhnlich wie zum Beispiel das Netz der Gattung Cyclosa (aus der Familie Araneidae – Echte Radnetzspinnen). Diese Spinnen bedienen sich nämlich einer Attrappe: Sie formen einen kleinen, “künstlichen“ Spinnenkörper, den sie ins Zentrum des Netzes platzieren, umgeben von Beutetieren auf derselben Achse, und dann ziehen sie sich selbst in eine der Extremitäten ihres Netzes zurück, mit eingezogenen Beinen, fast unsichtbar. Die visuell orientierten Beutejäger stürzen sich auf die aus Seidenfäden modellierte, “künstliche“ Spinne, und die Künstlerin selbst entkommt…

Aber auch einfachere Lösungen können sehr effizient sein. Viele Spinnen benutzen ihre Seidenfäden einfach um Blätter damit einzurollen und so sichere Verstecke anzulegen, die von Feinden nicht eingesehen werden können. Andere konstruieren ihre Verstecke aus der Seide selbst, indem sie mittels der Fäden kompakte Strukturen anlegen, die den Angriff von Feinden, wie zum Beispiel des “Tarantulafalken“ (Pepsis formosa), erschweren. Hierbei handelt es sich nicht etwa um einen Raubvogel, sondern um eine Raubwespe, die den Körper der Spinne zur Entwicklung ihrer Larven benutzt. Sie ist der grösste natürliche Feind der Spinnen – besonders der grossen Taranteln und anderer Vogelspinnen – die sie mit ihrem Stich lähmt und dann ein einziges Ei auf ihrem Hinterleib platziert.

So angeklebt an den Körper der Spinne beginnt die Larve, sich von ihrem Körper zu ernähren – während die Spinne weiterlebt. Dieser Prozess dauert ein paar Tage, bis die Wespenlarve sich zu verpuppen beginnt. Besonders kurios ist die vom Forscher William Eberhard in Costa Rica gemachte Beobachtung, dass eine von diesem Parasiten befallene Spinne plötzlich ihr Verhalten ändert: Wenn die Wespenlarve sich verpuppt, spinnt sie ihr Netz in einer ganz und gar ungewöhnlichen Form. Auch Marcelo Gonzaga hat etwas Ähnliches in Brasilien bei den Spinnen der Gattungen Araneus omnicolor und Nephila clavipes beobachtet: Die Netze dieser beiden Spezies bestehen aus einem kugelförmigen Teil und einer dreidimensionalen Fadenstruktur, die man “Barriere“ nennt.

Wenn diese Spinnen von Parasiten befallen werden, verschwindet der kugelförmige Teil des Netzes und die Neukonstruktion erinnert kaum noch an die Standardform. Nachdem die Wespenlarve ihre Wirtin vollkommen aufgefressen hat, richtet sie sich zur Verpuppung im Zentrum des veränderten Netzes ein, eben in jener “Barriere“, wo sie zirka zehn Tage verbleibt – bis zur Vollendung ihrer Metamorphose, aus der sie dann als ausgewachsene Raubwespe hervorgeht.

Wodurch und warum die Produktion und die Form des Spinnennetzes durch den Parasitenbefall verändert werden? Das sind Fragen, denen die Wissenschaft noch auf den Grund gehen muss. Aber der brasilianische Biologe hat bereits einige Thesen. “Eine mögliche Antwort besteht aus der Hypothese, dass der Parasit die Spinne durch den Eingriff in ihren Körper in einer Art und Weise schwächt, dass sie nicht mehr in der Lage ist, ihr normales Netz zu spinnen. Eine andere ist, dass die Wespe bei der Eiablage die Spinne manipuliert, indem sie mit dem lähmenden Stich eine Substanz in ihren Körper injiziert, welche das Verhalten der Spinne verändert“, erklärt Gonzaga. “Noch untersuchen wir alle Möglichkeiten, aber bei einer bestimmten Spezies der Gattung Leucauge haben wir bereits starke Indizien entdeckt, dass tatsächlich eine Verhaltensmanipulation vorliegt“.

Die Seidenfäden der Spinnen spielen auch eine fundamentale Rolle bei ihrer Reproduktion, indem sie bei zahlreichen Spezies als Eibehälter dienen. Und es gibt andere, noch viel kuriosere Verwendungszwecke: Die Fortpflanzung der Spinnen geschieht mittels der Transferenz des Spermas durch das Männchen zum Samenbehälter des Weibchens. Das Kopulationsorgan des Männchens (der Pedipalpus) befindet sich am vorderen Teil seines Körpers, weit entfernt vom Teil der Spermaproduktion. Deshalb konstruiert er ein spezielles Netz (man nennt es das Spermanetz), deponiert sein Sperma auf ihm und benutzt anschliessend seine Pedipalpen, um es vom Netz aufzunehmen. Mit den gefüllten Pedipalpen zieht er dann los auf der Suche nach einer Partnerin.

Noch eine aussergewöhnliche und kuriose Funktion der Seidenfäden? Es ist kaum zu glauben, aber einige “radikale“ Spinnen benutzen sie sogar für den Freiflug! Als ob sie mal eine neue Umgebung kennenlernen wollten, produzieren sie lange Fäden im Gegenwind, halten sich dann an ihrem Ende fest und nutzen die Luftströmungen, um weite Strecken zurückzulegen. Deshalb überrascht es nicht, dass Spinnen sich unter den ersten Kolonisten neuer Landflächen befinden, wie zum Beispiel auf vulkanischen Inseln, die sich gerade aus dem Meer erhoben haben. Den Ozean im Freiflug überqueren… wer hätte gedacht, dass dies ein Sport für Spinnen sein könnte?

Eine faszinierende Welt, die der Spinnen, nicht wahr? Schade, dass sie für viele Menschen immer noch Sinnbild der Aggressivität und der Abscheu sind.

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AutorIn: Klaus D. Günther · Bildquelle: Fotolia.de

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