Immer wenn ich aus Deutschland zu Besuch nach Brasilien kam, kam ich mir vor, als taute ich innerlich auf. Die Menschen sind so herzlich hier und offen. Und das Klima tut das Seine noch dazu, bei der tropischen oder subtropischen Wärme sind die Häuser, Türen, Fenster natürlich offen und in ländlicheren Gegenden oder ruhigen Stadtvierteln findet das Leben häufig draussen statt, auf der Strasse, den Gehwegen, in den Gärten und Garagen.
Als ich Brasilien nur aus dem Urlaub oder von einem Jahr als “Missionarin auf Zeit” in Bahia kannte, dachte ich auch noch, dass das Leben hier viel gemütlicher vor sich ginge und die Menschen es mehr geniessen könnten.
Jetzt, nachdem ich beinahe 20 Jahre hier im Südosten Brasiliens (Cascavel, Paraná) lebe und arbeite (!), sehe ich viele Dinge mit anderen Augen.
Die BrasilianerInnen, die ich kenne, arbeiten durchweg viel mehr als Arbeitnehmer in Deutschland, da ein einzelner Lohn die Bedürfnisse einer Familie im Normalfall nicht deckt. Also arbeiten die Menschen an mehreren Arbeitsstellen oder studieren noch spätabends nach der Arbeit, um später im neuen Beruf mehr zu verdienen. Lehrer arbeiten oft morgens, nachmittags und abends, jeweils 4 Stunden lang. In der Krankenpflege sind Doppelschichten von zweimal 6 Stunden pro Tag oder einer 6-Std. Schicht plus 2-tägig abwechselnde Nachtschichten von 12 Std. üblich.
Da ist dann die Frage: wann lebt der Mensch eigentlich noch? Nur noch am Wochenende? Männer haben sicher unter der Woche auch Zeit für sich, aber Frauen und speziell Ehefrauen und Müttern bleibt unter der Woche nur ein Minimum an Freizeit. Und da habe ich noch Glück, denn hier in Cascavel sind die Arbeitswege mit 10-15 Min. kurz, während die Menschen in den Metropolen leicht 1 Stunde oder mehr zur Arbeit unterwegs sind und abends die gleiche Zeit für den Heimweg brauchen.
Ich kam, als ich anfing, hier zu arbeiten, unbemerkt in eine Depression, spürte plötzlich Herzschmerzen, obwohl alles “in Ordnug” war. Zum Glück habe ich einen lieben Nachbarn, der Psychiater ist und mir erklärt hat, dass das “nur “ von der Überlastung kam und ich neben der unterstützenden Medikation auch wirklich etwas ändern musste in meinem Alltag. Mittlerweile kenne ich viele KollegInnen, denen es ebenso geht.
Und ich spüre am eigenen Leib, wie gross die Freude dann am Wochenende, einem freien Tag oder auf einer Reise ist, weil diese freie Zeit eben so kostbar ist!!! So kostbar, dass sich das wohl niemand in Deutschland vorstellen kann, der seine geregelten 8 Stunden arbeitet, um 16 Uhr Feierabend hat usw…
Genau deswegen können Brasilianer so wunderbar feiern und ausgelassen sein. Denn diese Ausgelassenheit ist das Ventil, um Druck abzulassen, den ganzen Druck der ganzen Arbeitswoche, der Rechnungen, die zu bezahlen sind, der Hausarbeit, die nie aufhört, der Arroganz, mit der einfache Arbeitnehmer von ihren Chefs behandelt werden…
Also: Feiern wir das Wochenende und die Ferien!