Davi Kopenawa Yanomami

Zuletzt bearbeitet: 3. Mai 2023

Appell eines brasilianischen Indigenen – in seinem eigenen Land, ist Davi Kopenawa Yanomami die meist respektierte indigene Führungspersönlichkeit Brasiliens. Von der UNO wurde er vielfach ausgezeichnet, für sein Volk hat er ein Territorium erstritten, das grösser ist als Portugal, und seine Biografie wurde ein Bestseller in französischer Sprache. In seinem längsten Interview, das je publiziert wurde – Ergebnis eines Meinungsaustausches von zwei Tagen – spricht Davi über das Leben, die Natur und sein fehlendes Vertrauen in die Zukunft: “Ich bin nicht traurig – ich bin empört“!

Davi Kopenawa Yanomami – Foto: Fiona Watson/Survival International

Wenn man sich mit ihm unterhält, ist es beinahe unmöglich, gewissen Schuldgefühlen auszuweichen. Während der zwei Tage, die wir ihn bei seiner täglichen Routine begleiteten, gab er sich keinerlei Mühe, uns, den Weissen (er nennt uns “Napë“) das schlechte Gewissen zu erleichtern: Er deutet auf den Ehering unseres Reporters als Beispiel dafür, wie wir an Gold, Silber und andere Reichtümer der Natur gewöhnt sind, die aus dem Abbau von Mineralien stammen, der seit Jahrhunderten das Land der Indios zerstört und sein Volk umbringt.

Er sieht keine Hoffnung in der Zukunft – weder für die Indios noch für jene, die er als “Stadtvolk“ bezeichnet. “Entweder werden wir verbrennen oder ertrinken“. Davi kritisiert sämtliche Regierenden Brasiliens und des Auslands – die von gestern und die von heute – und er erzählt, dass man auf dem Event “RIO+20“ kein Interesse zeigte, ihm zuzuhören. Er wird nicht müde zu wiederholen, dass man die Indios noch nie respektiert habe, und dass die Weissen die Bedeutung des Naturschutzes nicht verstehen. “Wofür geht ihr in die Schule? Um zu lernen, wie man zerstört? Unser Bewusstsein ist anders. Die Erde ist unser Leben – sie ernährt unseren Bauch, sie ist unsere Freude. Es ist angenehm zu fühlen, zu sehen… es ist gut, die Vögel singen zu hören, die Bäume, die sich im Wind bewegen, den Regen…“

Davi Kopenawa ist (schätzungsweise) 58 Jahre alt, lebt in der Gegend der Serra do Demini, wo er geboren wurde, nahe der Grenze zwischen den Bundesstaaten Amazonas und Roraima und dem Nachbarland Venezuela. Die Region befindet sich bereits in der Nördlichen Hemisphäre des Globus – man erreicht sie nach zwei Stunden Flug mit einer einmotorigen Maschine von Boa Vista aus – oder alternativ per Motorboot auf dem Rio Branco nach einer 10-tägigen Flussfahrt.

Davi erlebte, wie sein Vater, die Grosseltern, Onkel, Tanten, und praktisch seine gesamte Familie und Hunderte anderer “Verwandter“ (wie er die anderen Mitglieder seines Yanomami-Volkes nennt) an Krankheiten starben, die durch den Kontakt mit Nicht-Indios übertragen wurden. Zum Teil wurden die Viren von evangelischen Missionaren eingeschleppt, die jahrelang mit seinem Volk lebten und es fast geschafft hätten, sein Schamanentum gegen Jesus einzutauschen. Davi überlebte die Epidemien und als Erwachsener gelang es ihm, sich von den weissen Glaubensvorstellungen zu befreien und auch den Versuchungen der Stadt zu widerstehen. Heute ist er Dolmetscher der FUNAI, Schamane, Chef des indigenen Postens in seiner Region und Präsident der “Hutukara Associação Yanomami“ – “einer indigenen Botschaft unter den Weissen“, erklärt er.

Aber Davi Kopenawa ist viel mehr als das. Einerseits ist er der respektierteste und artikulierteste indigene Führer Brasiliens, dessen Trumpf darin besteht, weiterhin im Traditionalismus seiner Dorfgemeinschaft leben zu können, und andererseits den nötigen Verstand und die portugiesische Sprachgewandtheit zu besitzen, um im politischen Spiel “unserer“ Gesellschaft mitmischen zu können.

Auf diese Weise, “mit einem Fuss in jedem Boot“, war er der Verantwortliche für die Demarkation des Yanomami-Territoriums, das ein Gebiet grösser als Portugal umfasst und offiziell vom Expräsidenten Fernando Collor während des Events “ECO 92“ bestätigt wurde. “Er wurde von den ausländischen Regierungen dazu gezwungen“! Davi hat bereits vor der Uno-Versammlung und anderen internationalen Foren gesprochen und erhielt den ambientalen Preis “Global 500“ der Vereinten Nationen (einziger Brasilianer, ausser Chico Mendes, dem diese Ehre zuteil wurde).

Man kennt ihn viel besser im Ausland als innerhalb Brasiliens – und im Ausland hört man ihm auch eher zu. Zum Beispiel gibt es über ihn eine ausführliche Wikipedia-Version in Englisch, Französisch, Deutsch und Holländisch – aber in portugiesischer Sprache wird er ignoriert. Seine Biografie “La chute du ciel“, geschrieben nach Aussagen des französischen Anthropologen Bruce Albert, der ihn seit dreissig Jahren kennt, wurde in Frankreich ein Bestseller, herausgegeben im Jahr 2010.

Eine entsprechende Übersetzung wird in Brasilien voraussichtlich im Jahr 2013 erscheinen. Dieser Mann mit der dunklen Haut und einem gewinnenden Lächeln macht sich jedoch rein gar nichts aus diesem internationalen Prestige. Wenn der Jet aus London oder den USA gelandet ist, begibt er sich direkt in den Urwald, um sich seiner Kleidung zu entledigen und die nächsten Tage wieder nackt mit seinen “Verwandten“ zu verbringen – weitab von jener Hölle, die wir Zivilisation zu nennen pflegen. Besonders will er Abstand von der portugiesischen Sprache, die er als “ein Gift“ ansieht, dazu benutzt, um sein Volk zu manipulieren.

Am ersten Tag mit Davi verbrachten wir mehr als zehn Stunden auf einer Erdpiste, südlich von Boa Vista, die einen Teil des Yanomami-Territoriums durchquerte. Davi schlichtete eine ernste Auseinandersetzung zwischen zwei Dorfgemeinschaften, die mit einem Missverständnis begonnen hatte und sogar zum Tod eines Mannes geführt hatte. Davi verhandelte mit der einen Seite, dann mit der andern, begab sich anschliessend zum Markt des nächstgelegenen Ortes und kehrte mit Nahrungsmitteln für alle zurück.

Der Frieden wurde wieder hergestellt – für ihn und für uns ein äusserst ermüdender Tag, den Davi jedoch als Teil seiner Arbeit betrachtet. Der nächste Tag war ruhiger, wir sprachen die meiste Zeit miteinander im Hutukara-Zentrum am Ufer des breiten und wunderschönen Rio Branco, der die Hauptstadt von Roraima, Boa Vista, durchquert.

Am Ende unserer Begegnung waren wir überzeugt, dass niemand sonst sich so gut mit der Natur versteht, wie die Völker, die in sie hineingeboren wurden, seit sie auf unserem Planten erschienen sind. “Das alles zu schützen ist nicht nur Priorität für uns Indios, sondern Priorität für alle Menschen“ – das sagt Davi in seiner direkten Yanomami-Art, die gleichzeitig unbequem und aggressiv klingt, der man jedoch kaum widersprechen kann. “Wir Indios warnen, aber die Weissen wollen nicht zuhören. Wir müssen uns um unser Land kümmern und um den ganzen Rest. Es gibt nur einen Planeten für uns, keinen andern. Wenn Ihr den zerstört und alles dahin ist, könnt Ihr dann auf einen anderen umziehen“?

“Der Jaguar sucht sich in den Felsen eine schöne Höhle zum Leben. Der Affe macht’s ähnlich. Der Auerhahn bevorzugt die Bäume, die ihm die Natur schenkt. Aber der weisse Mann braucht einen Kühlschrank, einen Freezer, ein Auto, Telefon… Das sind sehr unterschiedliche Ansprüche“!

Frage: Wie ist deine Arbeit zur Verteidigung der indigenen Völker?

Antwort: Das Wichtigste ist die Vereinigung “Hutukara Yanomami” (deren Gründer und Präsident Davi ist), sie besteht seit acht Jahren. Ich habe nachgedacht und davon geträumt, die Hutukara zu erschaffen. Sie ist unabhängig von der FUNAI und verteidigt Land, Gesundheit, Kultur und Rechte des Yanomami-Volkes. Und nicht nur in Roraima.

Frage: Also hilft sie den Yanomami-Dörfern in Venezuela ebenfalls?

Anwort: Ja, denn alle sind “meine Verwandten“. Ich kenne sie und spreche in ihrem Namen, aber wir arbeiten nicht dort, sondern unterstützen sie aus der Ferne. Und ihre Situation ist viel schlechter als unsere. Venezuela beschützt das Yanomami-Volk nicht. Sie haben zwar Land zum Leben, aber ihr Territorium ist nicht demarkiert – die Regierung dort tut nichts dergleichen, und deshalb treiben sich dort noch viel mehr Goldsucher herum als bei uns.

Frage: Was ist der Unterschied zwischen der Art und Weise des indigenen Volkes die Natur und die Erde zu betrachten, und der, wie sie von den Weissen gesehen wird?

Antwort: Wir sind grundverschieden. Das Volk der Erde ist verschieden. “Napë”, der Nicht-Indio, denkt nur daran, der Erde Handelswaren abzugewinnen und Städte wachsen zu lassen… Währenddessen leidet das Volk der Erde. Schau dich mal um (er deutet auf das Yanomami-Territorium im Süden von Boa Vista, das wir gerade durchqueren), alles abgeholzt. Der Fazendeiro verbrennt den Wald um Rinder zu züchten, dann verkauft er sie zum Essen an andere, um Geld zu bekommen. Dann nimmt er das Geld und brennt wieder ein Stück Wald ab, züchtet mehr Rinder, gründet weitere Fazendas… Die Napë denken nur an Geld, sägen unsere Bäume ab und verkaufen sie an andere Länder, die ihre Bäume schon abgesägt haben. Wir denken ganz anders. Für uns ist die Schönheit der Erde von grosser Bedeutung. So wie die Natur sie geschaffen hat, müssen wir sie bewahren, mit grosser Umsicht. Die Natur bringt Freude, der Wald ist für uns Indios von grosser Bedeutung. Der Wald ist wie ein Haus, und er ist viel schöner als die Stadt – grün, wunderbar lebendig!

Frage: Sind wirklich die Goldminen das grösste Problem im Indio-Territorium von Roraima?

Antwort: Ja. Hier gibt es nicht viele Holzfäller, mehr Goldsucher. Aber auch Fazendeiros – hier an dieser Strasse sogar (“Diametral Norte”, eine Erdpiste, die diese Parzelle des Yanomami-Territoriums durchquert). Hier gibt es Gold- und Diamantenminen. In der Kommune Ericó und in Surucucu gibt es nur Gold. Und es ist noch viel schlimmer in Homoxi, Xidei und in der Maloca Paapui: dort befindet sich das Zentrum der Minen. Ausserdem am Oberen Catrimani ebenfalls. (Alles Orte, die um demarkierten Yanomami-Territorium gehören.)

Frage: Und war diese Situation immer so – tut die Regierung gar nichts um zu helfen?

Antwort: Gut war es während der Regierung Collor – er hat 40.000 Goldsucher aus dem Yanomami-Territorium entfernt, hat mehr als 100 Landepisten zerstören lassen und alles demarkiert. Aber das hat er getan, weil er durch andere Regierungen dieser Welt unter Druck stand – das war die Zeit der “Eco 92“. Trotzdem haben die Goldsucher nur fünf Monate abgewartet. Dann kamen sie zurück. Das Geschieht, weil ein Goldsucher kein Land besitzt und in der Stadt keine Arbeit findet, also durchwühlt er den Boden im Indioland nach Gold. Die Regierung hat sie vertrieben, ihnen aber kein Land zum Überleben, zum Pflanzen, zur Viehzucht oder sonst etwas, angeboten. Also kommt er zurück.

Frage: Und die anderen Präsidenten?

Antwort: Lula übernahm die Regierung und hat für die Yanomami nichts getan, aber für andere Völker, indem er die “Raposa Serra do Sol“ gründete (Reservat mit mehr als 1,7 Millionen Hektar im Norden von Roraima – dort befinden sich die Dörfer Ingaricó, Macuxi, Patamona, Taurepangue, Yarebana und Uapixana). Ich habe mit Lula zweimal persönlich gesprochen und ihm in die Augen gesehen. Die gegenwärtige Regierung tut ebenfalls nicht viel, also kämpfe ich weiter. Das Problem ist, dass jede Regierung eine Lösung der nächsten überlässt, und so tut niemand etwas. Das ist wie bei einem verschmutzten Topf – wenn du ihn nicht ausspülst, tut es der Andere auch nicht, und so wird er immer schmutziger.

Frage: Deine ersten Kontakte mit Weissen waren Missionare, durch sie hast du Portugiesisch gelernt. Wie war das genau, und wie steht es heute mit der Präsenz der Kirche in den Yanomami-Kommunen?

Antwort: Das hat sich abgeschwächt – ist zurückgegangen. Die Kirche, welche ich kennengelernt habe, war eine protestantische, Pastoren aus England, den USA und Kanada, die zu meiner Kommune kamen und dann dort blieben, um bei uns zu wohnen. Sie predigten den Yanomami das Evangelium, aber wir verstanden es nicht. Ich war noch klein, damals zehn Jahre alt. Der Pastor erschien mit Frau und Sohn, erlernte unsere Sprache und begann Religionsunterricht zu geben und las die Bibel in der Yanomami-Sprache. Zuerst fand ich das interessant. Sie sagten, dass Gott sie in unser Land geschickt habe, um uns zu helfen, ohne Streit zu leben, ohne Krieg und keine Sünden zu begehen.

Frage: Und was ist eine Sünde?

Antwort: Ich verstehe nicht ganz, was eine Sünde sein soll… ich glaube es bedeutet, dass man nicht darf, es scheint als ob… sie sagten, dass wir nicht streiten dürfen, nicht lügen, uns nicht nackt in der Öffentlichkeit zeigen und nicht flirten dürfen.

Frage: Nicht streiten und nicht lügen, na gut, aber nicht flirten…? (Lachen)

Antwort: Nicht wahr? Jedes Menschenwesen flirtet und verliebt sich. Aber sie sagten, dass es so und nicht anders sein müsste, weil dann Jesus auf unsere Erde kommen würde, und alle kämen in den Himmel.

Frage: Aber du glaubst an etwas anderes, nicht wahr?

Antwort: So ist es. Es war Oman (indigene Gottheit), der alles geschaffen hat. Und nachdem er die Erde geschaffen hatte, erschien der Mensch aus dem Wald. Alle sind wir Kinder von Oman. Er ist hier, aber niemand kann ihn sehen. Schau mal, die Regierung denkt, das alles, was sich unter der Erde befindet, ihr gehört, aber das glaube ich nicht. Ich bin ein Yanomami, Sohn von Yanomamis, wie kann ich glauben, dass alles, was unter der Erde ist, der Landesregierung gehört? Das haben die erfunden. Aber wir kennen den Besitzer der Erde.

Frage: Aber wie hast du die Missionare verlassen und bist zu Oman zurückgekehrt?

Antwort: Der Pastor wollte mit unserem Schamanentum Schluss machen, wollte das Evangelium an die Stelle des Schamanen setzen. Anfangs glaubte ich ihm, dann wuchs ich heran – wurde 15 dann 20 Jahre alt – und entdeckte, das der Pastor genau das tat, was er uns allen verboten hatte: er sündigte. Er flirtete mit einer Indianerin, und das gefiel mir überhaupt nicht. Er selbst hatte uns gesagt, das sei Sünde, aber er tat es – er turtelte mit meiner Kusine! Also sagte ich: “Pastor, du bist ein grosser Lügner und ein Sünder – ich glaube nichts mehr von dem, was du sagst“! Und von da an begann ich umzudenken und kehrte zu meinem Schöpfer Oman zurück. Damals hatte ich ihn fast vergessen, hatte fast meinen traditionellen Glauben verloren. Heute akzeptiere ich kein Evangelium mehr in meinem Volk, keine Kathequese mehr! Jedoch gibt es Kommunen, die einen Pastor haben oder einen Pater.

Frage: Und später bist du selbst Schamane geworden?

Antwort: Ich habe meinen Vater nie gekannt, er starb an einer Krankheit, als ich noch klein war, das hat mir meine Mutter gesagt. Seit meinem Kindesalter habe ich zusammen mit meinem Volk sehr gelitten. Viele Verwandte sind an Masern, Malaria und Tuberkulose gestorben – Krankheiten der Weissen, die bis heute töten. Es starb mein Bruder, der Grossvater, die Tante… ich bekam einen unbändigen Zorn gegen die Stadtmenschen. Aber ich selbst stehe unter dem Schutz des grossen Schamanen, also überlebte ich und wurde ein Kämpfer. Ich begann mit meinem grossen Schamanen zu reden – er nennt sich Lourival und ist mein Schwiegervater. Er lebt noch und wohnt in meinem Dorf. Ich brauchte die Kraft der Natur. Und so trank ich einen Monat lang nur “Yãkoãna“ (eine halluzinogene Pflanze, die vom Schamanen als Tee zubereitet wird), bis ich anfing zu träumen. Ich träumte von “Xabori“, dem Geist des Waldes – ein schöner Traum. Das ist meine Wurzel, und er sagte, dass ich bei ihm bleiben solle.

Frage: Also machst du jetzt Heilungen, praktizierst Rituale?

Antwort: Ja, ich heile mit der Yãkoãna. Ich rufe den Xabori, und er bleibt bei mir, und so kann ich meine Kinder, meine Frau, meine Geschwister heilen. Ich benutze die Yãkoãna nur, um mir ein Licht zu verleihen, damit ich sehen kann. So machen wir Schamanen das – das ist unsere Tradition.

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AutorIn: Klaus D. Günther

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