Rio Grande do Sul ist die geliebte Heimat eines besonderen Menschenschlages – der Gaúchos. Das Wort bedeutet eigentlich nichts weiter, als Rinderhirte, aber es charakterisiert damit auch die diesen Menschen angestammte Beschäftigung. Denn Rinder waren, neben den eher bescheidenen Goldfunden, schon in historischen Zeiten ihre Existenzgrundlage. Die Gaúchos haben sich aus Mischungen von Portugiesen, Spaniern und, in kleineren Anteilen, auch aus Indianern und schwarzen Sklaven entwickelt.
Heute bezeichnet man jeden Brasilianer aus dem Süden einfach als Gaúcho, und wenn man genauer hinsieht, so entdeckt man, dass diese Menschen, in der Tat, ganz besondere Eigenheiten entwickelt haben, die man im übrigen Land nirgendwo mehr findet: Das Auffälligste ist wohl das Süffeln von grünem Mate-Tee, mit dem die Gaúchos überall sofort auffallen. Sie saugen das glühendheisse und gallenbittere Getränk aus einer Kalebasse, durch ein silbernes Röhrchen, ein – da schüttelt es den an quietschsüssen Cafezinho gewöhnten Carioca, aus Rio, vor Abscheu!
Die Gaúchos pflegen ihre schweren ledernen Reitstiefel auch bei der grössten Hitze nicht auszuziehen – und sie haben den Ruf, vor einem Faustkampf nicht davonzulaufen, sondern ihn sogar noch zu provozieren. Alles in allem ein Macho-Gebaren, das besonders auf einen eher grossmäuligen Carioca nicht besonders sympathisch wirkt. Was Wunder also, dass er dem Macho-Man Gaúcho einen Dämpfer aufgesetzt hat, der sich inzwischen, in inniger Begleitung mit seinem Macho-Ruf, im ganzen Land ausgebreitet hat: der bissige bis bösartige Witz über die Gaúchos:
„Wissen Sie, wo es in Brasilien die meisten Macho-Männer gibt?
In Rio Grande do Sul – weil dort jeder Gaúcho seinen eigenen hat!“
Haben Sie gemerkt, wie dieser, im wahrsten Sinn des Wortes, hinterlistige Dämpfer aussieht? Nun, die Sammlung der so genannten Gaúcho-Witze, die hier im Land kursieren, wird immer umfangreicher, und die einzelnen Episoden sind teilweise so unanständig, dass man sie nicht einmal mit der Beisszange anfassen kann, geschweige denn nacherzählen. Aber solche „Beisszangen-Witze“ sind ein beliebter Zeitvertreib an den Männer-Stammtischen in Rio oder São Paulo, und wenn sich unter den Geladenen der eine oder andere Einwohner aus Südbrasilien befinden sollte – nun, dann wird er die Gaúcho-Witze wohl oder übel über sich ergehen lassen müssen.
Der Gaúcho: „Bah, tchê – bei uns in Rio Grande do Sul gibt’s nur richtige Männer“!
Der Mann aus Minas Gerais, der Mineiro, antwortet: „Uai – bei uns in Minas haben wir die eine Hälfte Männer und die andere Hälfte Frauen – und wir leben sehr gut so“!
Der Gaúcho kehrt von einer längeren Reise zurück und sagt zu einem Freund: „Das erste, was ich mache : meiner Frau’s Höschen ausziehen, wenn ich zuhause ankomme, Tchê“!
Sagt der: „Nossa – ist das alles Sehnsucht“?
Der Gaúcho: „Nein, Tchê ! Es drückt mich nur die ganze Zeit“!
Es ist Freitagabend. Der Gaúcho ruft seine Frau und fragt sie: „Frau, ich werde mit meinen Freunden ausgehen! Hab‘ das Hemd gefunden – aber wo ist meine Feiertags-Hose“?
Die Frau: „Weiss ich nicht“!
Der Gaúcho: „Weib, ich verliere gleich die Geduld und frage nur noch einmal: wo ist meine Feiertags-Hose?
Die Frau, belustigt über den Macho-Ton ihres Gatten gibt ironisch zurück: meinst Du die Hose mit dem Reissverschluss hinten“?
Ein Gaúcho kommt in Rio de Janeiro auf dem Flughafen an, und da er nicht weiss, wie es weitergeht, macht er’s den anderen Leuten nach, die einer nach dem andern in dort wartende Taxis steigen – er steigt also ebenfalls in ein Taxi ein und fragt den Fahrer: „Wohin geht die Fahrt“? „Wohin der Herr wollen“! antwortet der Fahrer. Der Gaúcho bittet den Fahrer, ihm die Stadt zu zeigen…
Das Taxi ist eins von diesen alten amerikanischen Fabrikaten, ein Buick oder Ford, mit so einer Art Adler oder Freiheitsstatuette auf der Kühlerspitze – sieht aus wie eine Zielvorrichtung, und die kommt auch dem Gaúcho komisch vor, also fragt er: „Was is’n das da vorne“? Und der Fahrer, um den Gaúcho auf die Schippe zu nehmen, antwortet: „Das ist zum Zielen – hier in Rio bezahlt uns die Präfektur 100 Reais für jeden erlegten Fussgänger“! Und der Gaúcho: „Nicht möglich, Tchê“!
„Sehn Sie da die Alte“, spinnt der Fahrer sein Garn weiter,“ die werd‘ ich jetzt überfahren“! Und schon lenkt der Taxifahrer seine Karre in Richtung der die Fahrbahn überquerenden alten Frau – streift sie fast, um den Gaúcho zu beeindrucken – als er einen trockenen Schlag an seiner linken Seite hört, und die Alte im Rückspiegel aufs Pflaster knallen sieht.
Sein Fahrgast, der Gaúcho, meint: „Ihr Cariocas könnt aber nicht zielen, Tchê! Wenn ich jetzt nicht die Tür aufgerissen hätte, wär’n sie verloren, deine 100 Reais“!
Die Gaúchos – Sie sehen, man hat nicht nur ihre sprichwörtliche Männlichkeit demontiert und gar ins Gegenteil verkehrt, man versucht auch noch, ihnen die Intelligenz streitig zu machen. Wenn man sie einmal persönlich erlebt und kennen gelernt hat, versteht man sofort den Grund dieser Frozzeleien: die Gaúchos unterscheiden sich tatsächlich ganz deutlich von allen übrigen Brasilianern, weil sie nämlich nicht nur sehr männlich wirken, – sondern auch alle positiven männlichen Eigenschaften, die man sich vorstellen kann, tatsächlich demonstrieren – besonders Damen gegenüber! Und weil sie, wie keine anderen regionalen Bewohner Brasiliens, an ihrer aus historischen Zeiten überlieferten Kultur, ihren Sitten und Gebräuchen, sowie an der antiken Art sich zu kleiden, festhalten.
Und, nicht zuletzt: weil sie im Umgang mit ihren Mitmenschen noch unvergleichliche Qualitäten pflegen, die anderen Zeitgenossen längst verloren gegangen sind. Dazu gehören so wunderbare Eigenschaften wie: Wort halten, ehrlich sein, Vertrauen verdienen, höflich und ritterlich im Umgang und die Gastfreundlichkeit ist wahrscheinlich sogar eine Erfindung der Gaúchos! Dieser sympathische Menschenschlag ist, so wie das Land in dem er lebt, die brasilianische Ausnahme. So wie der Bundesstaat sich vom Klima und seiner Vegetation her von den übrigen brasilianischen Bundesstaaten unterscheidet, so unterscheidet sich auch der Mensch in diesem Gebiet von allen anderen Menschen Brasiliens.
Während diese Andern immer neue Witze über die Gaúchos erfinden, weil ihnen das Verständnis für die Ethik dieser letzten „Ritter der Menschheit“ abgeht, möchten wir Ihnen, als Besucher, die Tür zur eigenwilligen Kultur jener Südländer noch ein bisschen weiter öffnen.
Hören wir doch einmal, was Gaúchos über sich selbst, ihre Kultur, ihre eigenwilligen Sitten und Gebräuche, ihre besondere Lebensauffassung und noch einiges andere mehr zu sagen haben:
„Gaúcho sein fängt im Kopf an – ist gewissermassen ein geistiger Zustand! Jeder Mensch im Universum kann zu uns gehören, wenn er unsere Bräuche akzeptiert und lebt, wenn er von edlem Geist ist, wenn er unsere Traditionen respektiert und diese Erde wie seine Heimat liebt. Bevor man den Gaúcho studiert, ist es unumgänglich, sich mit unserer Umwelt zu beschäftigen – dem Ambiente, in das wir hineingeboren wurden. Eine der von uns besonders geschätzten Meinungen über dieses Thema stammt von dem englischen Historiker Edward Burnett“:
„Kultur ist ein Gesamt-Komplex, der in sich die Erfahrungen, den Glauben, die Kunst, die Moral, die Gesetze, die Sitten und alle anderen Eigenschaften und Bräuche vereint, die sich der Mensch, als Mitglied einer Gesellschaft, angeeignet hat“.