Ein Nest zu bauen ist keine leichte Aufgabe. Einen Plan gibt es nicht wirklich, und doch wissen Kolibri, Guaxe, Tangara, Sabiá und all die anderen Vögel ganz genau, wie es geht. Während wir Menschen uns beim Bau unseres Hauses an die Vorgaben der Kommunen für unser Stadtviertel halten, orientieren sich Kolibri und Co. an den althergebrachten Traditionen ihrer Art, die ihnen sozusagen mit ins Nest gelegt werden oder ins Lehmhaus, wie das der Fall beim João-de-Barro ist.
Frei übersetzt könnten wir João-de-Barro „Lehmhans“ nennen. Den Namen verdankt er seiner Nestbaukunst. Für die verwendet er ein Lehm-Stroh-Gemisch.
Wer weiß, vielleicht haben die Menschen sich bei ihm die Technik abgeschaut. Noch heute ist die Lehmbauweise in einigen ländlichen Regionen Brasiliens zugegen. Entdeckt wurde sie vor einigen Jahren auch von der Alternativszene, die auf eine nachhaltige Architektur setzt. Weil kein Verbrennungsvorgang zur Erstellung von Ziegeln oder Zement notwendig ist, gilt die Lehmbauweise als besonders umweltfreundlich.
João-de-Barro ist das wohl egal. Er setzt auf eine stabile Bauweise, seiner Vorfahren. João-de-Barro und seine Partnerin schnappen sich mit dem Schnabel einen Batzen Lehm und zwischendurch auch einen Strohhalm oder ein trockenes Gras. Beides verarbeiten sie zu Wänden ihrer Brutstände. Dass sie dabei auch Stroh oder andere Pflanzenfasern verwenden, hat seinen Grund. Durch ihren Einbau vermeiden sie, dass ihr Lehmbau später beim Trocknen Risse bekommt und zerbröckelt.
Der Nestbau ist keine leichte Arbeit. Neun bis zwölf Stunden fliegt das Pärchen der Rosttöpfer (Furnarius rufus), wie sie in Deutsch heißen, täglich zwischen Bauplatz und Materiallagerstätte hin und her. Erst nach knapp drei Wochen unermüdlicher Arbeit ist ihr Bau fertig.
Von Weitem gleicht dieser einem kleinen Lehmbackofen für Brot. Mit einem Ofen hat das Nest aber nicht viel gemein. Die dicken Wände ihres Baus sorgen vielmehr für ein ausgeglichenes Klima. Sie schützen vor tropischer Hitze und ebenso vor Starkregen.
Etwa vier Kilogramm wiegt das Lehmnest, das aus einem Zimmer und einem Gang besteht. Den Eingang baut João-de-Barro nicht in die Mitte, sondern rechts oder links davon. Der Gang führt im Halbkreis zu einer Kammer, dem Nistplatz. Den bestückt er noch einmal mit einem weichen Grasbett.
Nein, João-de-Barro benutzt sein Nest nicht über Jahre hinweg. Jedes Jahr macht er sich erneut ans Bauen. Nach ein paar Jahren kann es aber sein, dass er eins seiner früheren Nester repariert und wieder benutzt.
Seine bevorzugten Bauplätze sind Strommasten, Astgabelungen und manchmal auch Köpfe oder Schultern von Skulpturen. Ist der Bauplatz knapp, wird ein Nest an das andere gesetzt oder auch darüber. So entstehen auch schon einmal Nesthochhäuser mit zehn und mehr Stockwerken oder Reihenhausanlagen, bei denen ein Nest an das andere gebaut wird.
Federklau für Nestbau
Während das Bauwerk von João-de-Barro mehrere Kilogramm auf die Waage bringt, setzt die Schwalbe Andorinhão-do-buriti (Tachornis squamata) auf Leichtigkeit. Ihr Nest ist im wahrsten Sinne des Wortes federleicht. Es besteht aus Federn. Die ordnet die Buriti-Schwalbe in luftiger Höhe in der Mitte der gefächerten Blätter der 20 bis 30 Meter hohen Buriti-Palme in Form einer Tasche an.
Der Ort ist hervorragend gewählt. Nicht nur, sind die Nester schwer von möglichen Räubern zu erreichen. Die riesigen, dicht um den Stamm herum angeordneten Blätter der Buriti-Palme bilden ein dichtes Werk. Das wirkt wie ein natürlicher Schirm und hält selbst tropischen Starkregen von den Nestern fern.
Woher nimmt die Buriti-Schwalbe aber die Federn für ihren Nestbau? Wer jetzt denkt, sie reißt sich in absoluter Selbstlosigkeit dazu ihre eigenen Daunen und Federn aus, liegt falsch. Der nur elf Gramm wiegende, kleine Vogel, greift auf das Gefieder anderer Vögel zurück.
Dabei geht er auch schon einmal dreist vor und klaut sie seinen Opfern hoch oben in der Luft, indem er im Vorbeiflug Federn aus ihren Rücken reißt. Ihre bevorzugten Materialspendeopfer sind übrigens Tauben, die wesentlich größer sind, als sie selbst. Mitten im Flug bleiben diesen aber kaum Möglichkeiten, sich gegen die kleinen, aber blitzschnellen Federräuber zu wehren.
Herkules und Mikadomeister
Der João-de-barro, der Lehmhans, ist nicht der einzige Vogel, dem die Brasilianer den Namen Hans gegeben haben. João-de-pau (Phacellodomus rufifrons), ist der zweite im Bunde. Sein Name lautet frei übersetzt „Stock-Hans“. Wie beim João-de-barro deutet auch der Name João-de-pau schon auf seine Nestbaukunst hin. Statt Lehm verwendet er Stöcke und Aststückchen.
Der nur 16 Zentimeter große Vogel leistet dabei einen enormen Kraftaufwand. Tatsächlich ist er ein Herkules unter den Vögeln. Etliche der von ihm für den Bau verwendeten Aststücke sind weit größer und auch schwerer als er selbst. Die Stöckchen können sogar dreimal so lang wie er selbst sein und einen halben Meter und mehr messen. Sie können außerdem auch mit Stacheln und Dornen besetzt sein.
Auch das Nest von João-de-pau ist schon aus der Ferne zu sehen. Mit seinen in- und übereinander geschobenen Stöckchen und Ästen erinnert es an ein Mikadospiel. Das liegt allerdings nicht auf dem Tisch, sondern hängt kopfüber an einem Ast und ist gigantisch. Das Mikadonest kann einen Meter und mehr lang sein kann.
Nicht genug damit, dass der zu den Sperlingsvögeln gehörende Südamerikaner ein so aufwendiges Nest erstellt. Er legt darin auch noch bis zu drei Abteilungen oder Kammern an, die jeweils mit einem eigenen Eingang versehen sind. Für die Eiablage und Aufzucht benutzt er davon aber nur eine einzige. Wer weiß, vielleicht will er mit den zusätzlichen Kammern seine Jäger auf die falsche Spur führen.
Auch die Beziehung von João-de-pau zu seinem Nest unterscheidet sich von der anderer Vogelarten. Während die meisten Vögel ihre Nester lediglich zur Brutzeit nutzen, wohnt João-de-pau fast das ganze Jahr über darin. Zumindest benutzt er es auch außerhalb der Brutzeit als schützende Schlafstätte.
Mehrfamilienhaus auf Handyantennen
Nicht alle Vögel bauen aktiv Nester. Die meisten der Papageienarten, wie der durch seine Größe und sein strahlend blaues Federkleid beeindruckende Hyazinthara, nutzen zum Beispiel hohle Baum- oder Palmstämme für ihre Nester oder auch Termitenhügel, wie der in beinahe ganz Brasilien beheimatete Periquito-rei, der Königssittich (Eupsittula aurea).
Es gibt aber auch Ausnahmen. Der im Pantanal lebende Caturrita (Myiopsitta monachus), der Mönchssittich, macht es anders. Er nistet nicht in Baumhöhlen oder Termitenhügeln und auch nicht in der Einsiedelei, sondern in der Gemeinschaft. Außerdem baut er, anders als seine Papageien- und Sittichverwandten sein Nest selbst. Das tut er mit Pflanzenmaterial und Aststückchen.
Papageien und Sittiche sind gesellige Vögel. Das gilt auch für den Caturrita. Der setzt selbst während der Brutzeit auf Gemeinschaft. Die Caturritas bauen ein Nest ans, unter oder über das andere. Am Ende sieht das so entstandene Gebilde wie ein einziges großes Nest aus, das mehrere Eingänge hat, kurz eine Art Mehrfamilienhaus für Sittiche.
Mit einem Gewicht von bis zu 200 Kilogramm ist die Nestanlage ein architektonisches Meisterwerk. Das bauen die grün-weißen Mönchssittiche hoch oben auf entsprechend großen Bäumen oder auch auf Hochspannungsmasten und Antennenanlagen der Handybetreiber.
Bei so viel Arbeit wäre es schade, wenn die Anlage nur zur Brutzeit genutzt wird. Das denken sich wohl auch die Mönchssittiche. Auch sie nutzen ihre Nester ebenso außerhalb der Brutzeit, um dort zu schlafen oder sich vor Stürmen und Regen zu schützen.
Hängende Wohnanlage
Auf eine andere Form der Wohngemeinschaft setzt der 20 bis 30 Zentimeter große Guaxe (Cacicus haemorrhous). Die Rotbürzelkassiken bauen in Bäumen und Palmen richtige Wohnanlagen mit einem Dutzend Nestern. Manchmal kann die Kolonie der Guaxe auch 40 Nester umfassen.
Ihre Wohnanlagen sind schon von weitem zu sehen und in jeder Hinsicht besonders. Auf ein festes Fundament verzichten die Guaxe. Stattdessen hängen sie ihre Nester auf, und das an dünnen Zweigen.
Um die Zweige schlingen sie zunächst ein paar Grashalme oder Teile von Palmblättern. Befinden sie, dass die Aufhängung stark genug ist, um Nest, ihr Körpergewicht von 60 bis 100 Gramm und zwei bis drei Eier auszuhalten, beginnen sie mit dem eigentlichen Nestbau. Der besteht aus dem Verweben von Moos, Gräsern und anderen Pflanzenteilen bis sie eine Länge von 40 bis 70 Zentimeter erreichen und ihren Zylinder unten abschließen. Die am Baum aufgehängten wie schlanke Taschen wirkenden Nester der Guaxe können auch einen Meter und mehr erreichen.
Die Nester wirken zart, halten aber dennoch Gewicht und auch Stürmen stand. Bei jeder Bewegung, jedem Anflug, schwingen die Nester hin und her. Vielleicht wirkt das sanfte Schaukeln der Nester wie das Schaukeln einer Hängematte oder Wiege beruhigend auf die Jungvögel. Studien dazu gibt es nicht.
Bekannt ist indes, dass die hängenden Nestkolonien der Guaxe ziemlich sicher gegen Räuber sind. Oft werden sie auch an einem am Ufer stehenden Baum angelegt, so daß die Nester über dem Wasser hängen und für andere Tiere so noch unzugänglicher sind.
Die Baumeister sind bei den Guaxe übrigens die Weibchen. Die Männchen halten sich bei der Bauarbeit fein heraus.
Wenn Nester schwimmen
Nicht alle Nester hängen oder stehen. Manche schwimmen, wie das der Magellantaucher (Podicephorus major) oder Mergulhão-grande (Großer Taucher), wie die Brasilianer ihn nennen. Er verbringt die meiste Zeit seines Lebens im Wasser. Das gilt auch für die Brutzeit.
Seinen Nachwuchs gewöhnt der im Süden Brasiliens vorkommende Vogel schon von Anfang an an das schwimmende Leben. Er baut sein Nest im Wasser. Dabei stapelt das Magellantaucher-Pärchen so lange Wasserpflanzen übereinander, bis sie eine Plattform mit einem Durchmesser von etwa einem halben Meter bilden. Auf die kommt das Nest, das etwa zehn Zentimeter über der Wasseroberfläche schwimmt und äußerst resistent ist.
Das Nest treibt vor allem in Ufernähe und häufig in der Nähe von Wasserpflanzen. Begeben sich die Eltern auf Nahrungssuche, decken sie die drei bis sechs Eier mit Algen ab. Schlüpfen die Jungen, werden die Eltern selbst zu schwimmenden Nestern. Wenige Stunden nach dem Schlüpfen verlassen die Jungen bereits die Plattform und tauschen diese gegen den Rücken ihrer Mutter.
Ein Nest unter Denkmalschutz
Zu den gigantischsten Nestern der Welt zählen die des Tuiuiuús. Der Jabirustorch (Jabiru mycteria), wie er in Deutsch genannt wird, lebt vor allem im Pantanal, der größten Feuchtsteppe der Welt. Dort stapelt er auf Bäumen und Masten in einer Höhe von vier bis 25 Meter Holz- und Zweigstücke ineinander, so dass ein 70 bis über 100 Zentimeter hohes Nest entsteht.
Im Durchschnitt haben diese einen Durchmesser von 1,85 Meter. Damit kann sich auch ein nicht allzu großer erwachsener Mensch bequem in dem Storchennest ausstrecken. Es wurden aber auch schon Nester mit einem Durchschnitt von drei Metern registriert.
Wer denkt, die Nester des Tuiuiú sind hart, der irrt. Der Storch des Pantanals stopft sein Werk innen mit Blättern, Gras und Moos aus, um seinem Nachwuchs ein weiches Nest zu bieten.
Die riesigen Nester werden von den Bewohnern des Pantanals und den Touristen hoch geschätzt. Einige der Nester haben es auch zur Berühmtheit geschafft. In der Pantanalstadt Corumbá wurde ein in der Nähe einer Schnellstraße und am Ufer des Flusses Paraguai stehendes Nest 2011 sogar unter Denkmalschutz gestellt. Das denkmalgeschützte Nest war über zwei Jahrzehnte hinweg jedes Jahr wieder von einem Storchenpaar zur Brutaufzucht genutzt worden und hat nicht nur die Ornithologen begeistert, sondern auch Passanten und Touristen.
In seiner ursprünglichen Form gibt es das auf einem Ipê-Baum trohnende Nest mittlerweile allerdings nicht mehr. Bei den verheerenden Bränden im Pantanal im Jahr 2020 ist auch es den Flammen zum Opfer gefallen. Noch im gleichen Jahr wurde aber für Ersatz gesorgt. In Partnerschaft mit dem Energieunternehmen Energisa, der Umweltstiftung von Corumbá, dem landwirtschaftlichen Unternehmen Embrapa und dem Projekt Arara Azul ist auf einem zwölf Meter hohen Metallmast ein achteckiges Nest aus Holz gebaut worden.
Es war ein Versuch, den Pantanalstörchen eine Alternative für ihr zerstörtes Nest zu bieten. Der Versuch trägt inzwischen Erfolg und scheint beim Storchenpaar Gefallen gefunden zu haben. Nur wenige Monate später nach seiner Aufstellung wurden das Paar bereits in dem künstlichen Ersatznest gesichtet.
Kunst am Bau mit Spinnennetz
Den Giganten stehen die winzigen Nester der Kolibris gegenüber. Sie sind so klein, dass selbst Mama-Kolibri kaum Platz darin findet. Lediglich Bauch und Füße des Vogels passen in das Nest. Der Rest ragt darüber hinaus.
Die Nester der meisten Kolibriarten messen gerade einmal drei bis vier Zentimeter. In freier Natur sind sie schwierig auszumachen. Das liegt nicht nur an ihrer Größe oder Kleinheit. Sie sind ebenso bestens getarnt. Von der Nähe betrachtet wirken ihre Nester kunstvoll geschmückt. Nur wenige Meter von ihnen entfernt verschmelzen sie jedoch mit der Umgebung.
Viele der Kolibris zieren ihre Nester mit Flechten. Das gilt auch für den Rabo-branco-de-garganta-rajada (Phaethornis eurynome), der durch seinen weiß geränderten Schwanz auffällt. Er schmückt seine gute Stube allerdings nicht mit weißen, grauen oder grünen Flechten, sondern mit roten. Durch die Körperwärme beim Brüten färben die roten Flechten zwar ab und tönen Eier und Bauch des Muttervogels rosa. Das scheint diesen aber nicht zu stören.
Die winzigen Nester des im Atlantischen Regenwald lebenden Schattenkolibris wirken auf den ersten Blick zerbrechlich. Tatsächlich sind sie aber äußerst stabil und nicht so leicht zu zerreißen. Das liegt nicht nur an der Kunst des Nesterwebens. Der Rabo-branco-de-garganta-rajada greift vielmehr auch auf ein besonderes Naturmittel zurück. Er bedient sich eines Mörtelersatzes, indem er sich von Spinnennetzen klebende Fäden holt.
Mit denen verklebt er nicht nur einzelne Bestandteile seines Nestes. Er benutzt die Spinnenseide ebenso, um sein Nest an den Blättern von Baumfarnen, Helikonien und anderen Pflanzen des Regenwaldes zu befestigen.
Wie ein Kreisel läuft sein Nest nach unten Spitz zu. Der spitze Fortsatz sorgt dabei für ein Gegengewicht, das vor Umkippen schützt. Nein, auch in sein Nest regnet es nicht hinein. Zum Einen bringt Rabo-branco-de-garganta-rajada das Nest auf der Unterseite des Blattes an. Zum Anderen befindet es sich an der Blattspitze. Deren Seiten faltet der Schattenkolibri durch das Anbringen des Nestes so nach innen, dass eine Art grünes Segeldach entsteht, das den Regen ab und das Nest trocken hält.
Viele der Kolibriarten benutzen für den Bau ihrer Brutstätten auch eine Art Watte. Die stammt unter anderem von Samen, die mit einer watteartigen Substanz umhüllt sind, wie die des Balsabaumes oder des Ingabaumes. Auch den Pusteblumen ähnliche Samen oder die Samenstände einiger Bromelienarten sorgen für ein federleichtes Material, mit denen Kolibris ihre Nester bauen und auspolstern.
Auch sie folgen, wie all die anderen Vögel, beim Nesterbau einem geheimnisvollen Plan, der in ihrer DNA liegt und sie zu einzigartigen Architekten macht.