Inzwischen kann man den Erfolg der brasilianischen Schutzmassnahmen zur Erhaltung der Glattwale (Eubalaena australis) bereits deutlich erkennen – zu Dutzenden beleben sie die Küste des Bundesstaates Santa Catarina und präsentieren sich dort mit ihren Familien in Strandnähe.
Man sagt in Brasilien, wer einen Wal sieht, der beginnt gross zu denken. Ich entdeckte das Privileg solcher “grossartigen Gedanken“ im vergangenen Monat, als ich mich einem Glattwal gegenüber sah – ich auf einem Felsen, das riesige Tier etwa dreissig Meter vor mir im Meer – das war in Imbituba, an der Südküste von Santa Catarina. Apropos: Nicht ein Wal – es waren sogar zwei – ein Muttertier mit ihrem Jungen.
Der Eindruck von einem solchen Koloss – etwa 18 Meter Länge und zirka 50 Tonnen schwer – versetzte mich in eine andere Welt, und ich erinnerte mich sofort an “Moby Dick“ und den rauen “Captain Ahab“ meiner Jugendliteratur, an Geschichten von Walfängern und an Filme, in denen das brutale Abschlachten dieser Tiere dokumentiert wurde – sogar Jonas aus der Bibel drängte sich in meine Gedanken. Es dauerte eine Weile, bis mein Verstand die Szene jener sprühenden Wasserfontänen begriff, die sich meinen Augen bot, als das Muttertier explosionsartig ausatmete, prompt gefolgt von einer Minifontäne ihres Babys. Für mich, der ich in der Grossstadt Belo Horizonte lebe, existierten solche Riesen des Meeres schon lange nicht mehr, kurioserweise in meiner Erinnerung vergraben mit Dinosauriern, Feen und “Tausend Meilen unter dem Meer“ des Kapitäns Nemo. Aber was ich hier berichte ist Realität: Die Wale sind wieder da – und jedes Jahr wächst ihre Zahl wieder!
Bei ihrer Rekordzählung am 18. und 19. September 2006 entdeckten die Forscher des Projekts “Baleia Franca“ (Glattwal), geleitet von der “Coalizão Internacional da Vida Silvestre (IWC/BRASIL), 194 Glattwale. “Wir waren auf eine grosse Zahl gefasst, aber das Wachstum ihrer Population hat alle unsere Erwartungen weit übertroffen“, sagt die Koordinatorin des Projekts. Die Zählung wird vom Helikopter aus vorgenommen, über der 400 Kilometer langen Küste. Angefangen im Norden von Santa Catarina, notieren und fotografieren die Forscher sämtliche Wale, die sie auf ihrem Weg finden – bis hinunter nach Rio Grande do Sul. Ihre Zahl dürfte eher noch grösser sein als die registrierte, aber trotzdem, das Jahr 2006 hat den bisherigen Rekord, mit 128 Tieren im Jahr 2002, mit Abstand eingestellt.
Diese Nachricht ist eine gute – sowohl an Quantität wie an Qualität. Sie zeigt, dass sich die Glattwale an der brasilianischen Südküste wohl fühlen. Achtundvierzig Wale wurden begleitet von Jungtieren – die Küste von Santa Catarina hat sich zu einer riesigen Entbindungsanstalt und Kinderstube entwickelt. Auf der anderen Seite waren in diesem Jahr auch zahlreiche ausgewachsene Tiere ohne Babys erschienen, also kann man annehmen, dass die Spezies die brasilianische Küste auch zur Reproduktion ausgewählt hat. Die ist “polyandrisch“, das heisst, ein einziges weibliches Tier kopuliert mit verschiedenen männlichen – und um seine Nachkommenschaft zu garantieren, muss jedes männliche Tier eine schwere Konkurrenz abschütteln.
Die sexuelle Reife des Glattwals wird mit einem Alter von sieben Jahren erreicht. Die weiblichen Tiere gebären jedes dritte Jahr ein Junges. Die Geburt fällt auf die Monate Juni bis September. Die Jungen haben bei Geburt bereits eine Grösse von fünf Metern und ein Gewicht zwischen 1 bis 4 Tonnen. Besonders ungewöhnlich ist die Versorgung des Wal-Babys mit Muttermilch: “Wenn das Muttertier durch den Kontakt des Riesenbabys mit ihren “Milchspalten“ stimuliert wird, lässt sie einen Schuss Muttermilch ins Wasser ab – diese Milch ist reich an Fett und deshalb dickflüssig, es dauert eine Zeitlang, bis sie sich im Meerwasser auflöst, und die nutzt ihr Baby um die Milch aufzusaugen – das Wasser wird wieder ausgeschieden“, erklärt eine Forscherin.
Das Wachstum der Jungtiere ist phänomenal. In den ersten Wochen ihres Lebens legen sie im Durchschnitt pro Tag 50 kg Gewicht und 3 cm Länge zu. Anfang November haben sie bereits die halbe Grösse ihrer Mutter. Wachsen und Fettschicht anfressen, darauf kommt es an, um die Reise in die Antarktis am Ende der reproduktiven Phase unbeschadet zu überstehen. Dort lernen sie, sich vom Krill (Euphasia superba) zu ernähren, einer Shrimp-Spezies, die in Schwärmen von vielen Millionen Individuen vorkommt und die Ernährungsbasis für viele Tiere des Polarkreises bildet.
Besonders für Touristen ist die Beobachtung dieses beginnenden Zusammenlebens zwischen Mutter und Jungtier ein lohnenswertes Spektakel. Innerhalb der Walfamilie, ist der Glattwal die Spezies, welche sich der Küste am dichtesten zu nähern pflegt – manchmal bis in den Brandungsbereich vor dem Strand oder bis auf wenige Meter vor den Felsen. Das spektakulärste Schauspiel bieten die Jungtiere, die wie alle Kinder, um die Mutter herumspringen, sich mit dem hellen Bauch zur Sonne drehen, Schwanz und Brustflossen aus dem Wasser heben und in Momenten ausgelassener Euphorie den Beobachter mit akrobatischen Sprüngen hoch in die Luft belohnen.
Im Gegensatz zu “Leviatan“ aus der Erzählung von Hermann Melville oder jenen Monstern, die man auf antiken Karten sieht und die von Historikern als gefährlich beschrieben werden, sind die Glattwale gutmütige Tiere, die nicht einmal grosse Fische fressen, geschweige denn Seeleute verschlingen. Wenn sie sich in brasilianischen Gewässern aufhalten, fressen sie gar nichts, sonder sie leben von ihren Fettreserven aus dem vergangenen Sommer. Zur Nahrungsaufnahme in der Antarktis schwimmen sie langsam, mit geöffnetem Maul, dicht an der Wasseroberfläche – die internen Barten werden sichtbar, welche die einströmende Nahrung filtern. Selektiv, bevorzugt der Glattwal den Krill und andere kleine Organismen, wie zum Beispiel die Ruderfusskrebse (der Gattung Calanus, Microcalanus und Pseudocalanus).
In brasilianischen Gewässern hat man zwar die Wale auch schon mit offenem Maul beobachtet, man nimmt jedoch an, dass dieses Verhalten mit der Notwendigkeit einer Thermo-Regulierung zutun hat. Ein Moment seltener Schönheit, nichts Bedrohliches. In Wirklichkeit waren sie 400 Jahre lang stets bedroht von den Harpunen ihrer unerbittlichen Jäger.
Lange Zeit wurde die Spezies der Glattwale auch als “Baleia certa“ (sicherer Wal) bezeichnet, weil sie leicht zu erlegen waren: Sie sind neugierig, wenig oder gar nicht scheu, leicht auszumachen und zu erreichen im Meer – die ideale Beute der Walfänger. In ihrer Unbefangenheit erlaubten die Giganten sogar eine Annäherung auf Handwurfweite der Harpunierer vom Bug der Boote aus. Darüber hinaus sorgte die bis zu 40 cm dicke Fettschicht des Glattwals dafür, dass der erlegte Riese auch noch tot an der Wasseroberfläche trieb, was sein Abschleppen zum Strand einfach machte. Eine Verfolgung durch die ersten artesanalen Walfänger im 20. Jahrhundert, leitete eine professionelle Jagd in grossem Rahmen ein, die auf der ganzen Welt praktiziert wurde – besonders von Japanern, Norwegern und Amerikanern. Die technische Entwicklung in der Kunst zu töten begann mit brutalen, extrem grausamen Methoden, wie zum Beispiel einer Harpune mit Dynamitladung. Dann bediente man sich Kanonen mit gnadenloser Zielgenauigkeit und motorisierten Kranen. Ergebnis war eine vertikale Abnahme der Walpopulationen. Ende 1970 war der Glattwal fast ausgerottet.
In Brasilien dauerte das Gemetzel mindestens 400 Jahre. Und es fand statt allein wegen der Extraktion des Öls. Das Fleisch wurde als “zu fett“ weggeworfen – so wie die Haut und die Knochen. Der Zyklus der “Armações“ – so wurden die Walfangstationen genannt – begann während der Kolonialzeit, und die letzte dieser Einrichtungen, am Strand von Imbituba, 70 km von der Hauptstadt Florianópolis, stammt aus dem Jahr 1796. Der kleine Ort machte den Walfang zu seiner primären Einnahmequelle. Der letzte Glattwal verblutete am Strand “Praia de Enseada“ (heute “Praia do Porto“) im Jahr 1973. Obwohl das internationale Schutzabkommen das Datum des Jahres 1937 trägt, ging der Totschlag weiter bis zu jenem Jahr – bis die Station ihre Tore schloss – aber nicht aus Respekt vor dem Abkommen oder einer Regierungskontrolle, sondern wegen fehlenden Rohmaterials. Jetzt verstanden sogar die Walfänger die Idiotie jenes ausbeuterischen Verhaltens – die Glattwale kamen nicht mehr – es war zu Ende. Aus jenen, den Geiern zum Frass hingeworfenen Skeletten, wurden keine Jungen geboren – die letzte Blutlache schien auch das Ende der Geschichte zu sein.
1981 jedoch, wurden “schwarze“ Wale von Fischer aus Santa Catarina im Küstenbereich gesichtet. 1982 bestätigte eine Gruppe von Volontären des Projekts “Baleia Franca“ (Glattwal-Projekt), unter Leitung des Vize-Admirals, die Präsenz eines ausgewachsen Weibchens und ihres Babys am Strand von Ubatuba, in São Francisco do Sul (Bundesstaat Santa Catarina). Die Ausdauer der Umweltschützer in den folgenden Jahren stärkte den Kampf um das Überleben und des erneuten Populationswachstums der Spezies.
1987 wurde dann die Jagd auf Wale von der Brasilianischen Regierung definitiv verboten. Die Massnahmen zur Erhaltung der Spezies gewannen an Raum und wurden Gesetz. Im Jahr 2000 – auf einen Vorschlag der Projektgruppe “Baleia Franca“ hin – schuf ein neues Gesetz die “Área de Proteção Ambiental (APA) da Baleia Franca“ (Schutzgebiet für den Glattwal), mit 156.100 Hektar – genau im Reproduktionsgebiet der Glattwale. Erfasst sind damit 130 Kilometer Küstenstreifen, von Florianópolis (Bundesstaat Santa Catarina) bis nach Balneário de Rincão (Bundesstaat Rio Grande do Sul). Im Jahr 2003 verwandelte man die Harpunen von Imbituba in historische Ausstellungsstücke: Die ehemalige Walfangstation am Enseada-Strand wurde in ein Wal-Museum umgebaut – das einzige dieser Art in Südamerika. Inzwischen ist der Glattwal ein Naturmonument des Bundesstaates Santa Catarina. In Argentinien wurden sogar einer der Wale zum “illustren Bürger“ des Munizips von Puerto Piramides, in der Provinz Chubut, erklärt – hier finden sich zirka 70.000 Besucher pro Jahr ein, nur um die Wale zu beobachten.
Die Aktivisten des Projekts “Baleia Franca“ konzentrieren sich jetzt auf das Wohlbefinden der Wale. 2012 gelang es ihnen, zum Beispiel, die Benutzung motorisierter Boote an sechs Stränden der Munizipien Imbituba und Garopaba, zwischen Juni und November zu verbieten. Diese Massnahme provozierte Proteste, besonders von Seiten der Wassersportler. “Es gab anfänglichen Widerstand, aber wir konnten die Wellen beruhigen, indem wir erklärten, dass die Surf-Wettbewerbe, zum Beispiel, nicht abgeblasen würden, und dass die Nutzung des Hafens von Garopaba, dem einzigen des Ortes, weiterhin erlaubt sei unter der Bedingung, dass die Boote langsam führen und Abstand von den Walen hielten“, erklärt eine Aktivistin. “Man kann nicht erwarten, dass man sich gleich von Anfang an durchsetzt, aber die Schliessung jener Areale für den Bootsverkehr schafft einerseits spezielle Refugien für die Wale und andererseits besondere Beobachtungspunkte für den Tourismus – inzwischen fängt die hiesige Gesellschaft an zu spüren, dass ein lebender Wal lebend viel wertvoller für die Bevölkerung ist als ein toter. Und der Tourismus bringt nicht nur mehr Geld, sondern wirkt sich auch in einer demokratischen Verteilung der Einnahmen aus“.
Im “Nationalen Zentrum zur Erhaltung der Glattwale“ konzentrieren die Forscher ihre Kräfte noch auf die Beobachtung der Bevölkerung und auf die Bewusstmachung der Bürger, um eine Belästigung der Tiere zu unterbinden. Die Umwelterziehung findet von Tür zu Tür statt, im direkten Kontakt mit Familien von Fischern und anderen Einwohnern – und in den Schulen von Imbituba.
Bei den wissenschaftlichen Untersuchungen hat die fotografische Identifizierung der Individuen Vorrang. “Unsere Referenzen zur Unterscheidung der einzelnen Tiere sind Schwielen oder Warzen, jene gelblichen Flecken, die jeder Glattwal am Kopf besitzt. Diese Schwielen – sie sind in Wahrheit natürliche Auswüchse der Haut, bedeckt von Parasitenkolonien – sind Charakteristika der Spezies und bei jedem Tier unterschiedlich beschaffen“, kommentiert eine Biologin. Mit Hilfe eines Computer-Programms vergleichen die Forscher jene Schwielen eines neu fotografierten Tieres mit denen aus der Datenbank. Dadurch lernen sie etwas über die Wanderrouten und die Reproduktionszyklen der Glattwale.
“Einwohner des Ortes Cabo de Santa Maria, im Munizip von Laguna (Bundesstaat Santa Catarina) haben bereits Eingaben gemacht, in denen sie uns ersuchen, dort ebenfalls ein paar Strände für den Bootsverkehr zu schliessen. Sie haben die Vorteile des Walschutzes erkannt, vor allem hinsichtlich des touristischen Apells“, fährt die Forscherin fort. “Sie haben die Wale gesehen und fangen an, gross zu denken…“
Auch das Leben eines einheimischen Paares hat durch die gigantischen Meeressäuger eine neue Richtung bekommen. 1995 errichteten die Beiden eine Pousada am Strand von Itapirubá – und heute investieren sie in den Tourismus zur Wal-Beobachtung. “Zwischen Juli und August braucht man bei uns nur die Strasse zu überqueren und steht dann vor der Wal-Kinderstube“, scherzt die Dame des Hauses, stolz darauf, ihre Kinder in einem so privilegierten Umfeld heranwachsen zu sehen. Ihr Mann hat bereits eine erfreuliche Rechnung aufgemacht: “Da die Walwanderung mit unseren kühlsten Monaten zusammenfällt, belegen die Gäste, welche wegen der Wale kommen, unsere freien Zimmer der niederen Saison. Und wir entdecken, dass ein Wal im Winter genauso viel wert ist, wie die Sonne im Sommer“!