Die grüne Wildnis Amazoniens ist verantwortlich für 80% der Wasserreserven Brasiliens. Und es ist kein Zufall, dass sich das Leben in dieser Region in und auf dem Wasser entfaltet, im Kommen und Gehen der Bevölkerung, in der Produktion von Lebensmitteln und auch in den Mythen und Legenden, die ihren Platz im Aberglauben der Menschen behaupten, wie die Legende vom Delfin, der sich nachts in einen feurigen Liebhaber verwandelt, oder der Mutter des Wassers, eine Flussnixe, die den Männern auflauert, um sie zu sich in ihr nasses Reich zu holen.
Angesichts der Klimaveränderungen sind die Ressourcen Amazoniens von besonderer Bedeutung für die Zukunft unseres Planeten. Einen solch vitalen Schatz zu besitzen, der Grund genug wäre, einen Weltkrieg zu provozieren, ist an und für sich schon ein Vorteil. Damit nicht genug, überrascht Mutter Natur Mensch und Tier dieser Region noch mit zahlreichen zusätzlichen Wundern. Zum Beispiel gibt es in der grünen Unendlichkeit einen Ort, an dem die aus dem Pflanzengewirr spriessenden Quellen, ausser langen, tiefen, zum Transport und zum Fischfang nutzbaren Flüssen, ein solches Naturwunder geformt haben.
Im Munizip Presidente Figueiredo gibt es ein solches Naturwunder, es ist der Ort, mit einer der grössten Wasserfall-Konzentrationen Brasiliens. Das Szenario scheint aus einem jener Tropenparadiese entsprungen, die man nur in Filmen zu sehen gewohnt ist, es liegt 107 Kilometer von der Hauptstadt Manaus entfernt, und man erreicht es sogar auf asphaltierter Strasse. Bisher kaum bekannt, wurde das Gebiet inzwischen als Highlight in ein ökotouristisches Programm einbezogen, mit dem man solche Naturschönheiten entsprechend aufwerten und erhalten möchte. Bis jetzt hat man in dieser Gegend 107 Wasserfälle offiziell registriert – viele im unmittelbaren Umkreis der Kreisstadt. Aber die Anzahl der Wasserfälle steigt weiter – noch vor zwanzig Jahren kannte man nicht einmal die Hälfte von ihnen. In diesem Munizip, dessen Fläche zu den grössten des Landes gehört – mit 25.000 Quadratkilometern grösser als der Bundesstaat Sergipe! – nimmt man an, dass in weiter entfernten und abgelegeneren Gebieten noch sehr viel mehr Wasserfälle existieren dürften.
Einer dieser meist besuchten Fälle ist der “Cahoeira Iracema“ – er hat eine Fallhöhe von 16 Metern – mit einer touristischen Struktur und Wanderwegen, auf denen man Aras und Tukane, sowie verschiedene bedrohte Vogelarten antrifft und beobachten kann – zum Beispiel auch den überaus seltenen “Galo da Serra“ (Felsenhahn). Naturpools bilden sich, wenn der Fluss in der Trockenzeit an Wasservolumen verliert – zwischen September und Januar. In der Nachbarschaft kann man nach einer kleinen Wanderung von 1,5 km den voluminösen Wasserfall “Cachoeira Araras“ besuchen, er strömt als Doppelfall herab, präsentiert exotische Höhlen und Felsformationen mit Salons und Labyrinthen. Ganz ähnlich die Wasserfälle des Privatreservats “Reserva Particular do Patrimônio Nacional (RPPN)“, deren Rauschen man bereits aus weiter Entfernung vernehmen kann – ein weiteres Wasserspektakel, das die gewaltige Kraft der Flüsse Amazoniens präsentiert.
Die Felsmassive verbergen archäologische Fundstätten, mit Spuren von Eingeborenen, die dort vor zirka 2.000 Jahren gelebt haben. Unter den bedeutendsten Funden ist auch die Höhle “Caverna do Maroaga“, fantastisch ornamentiert von einem schmalen Rinnsal, welches am Eingang von oben herabstürzt.
Trotz dieser üppigen Natur, gibt es Leute, die unter Wassermangel leiden. “Wenn kein Strom da ist, um die Pumpen zu betreiben, was hier sehr häufig geschieht – haben wir keine andere Möglichkeit, Wasser aus dem Fluss zu bekommen“, sagt die Besitzerin eines Restaurants am Ufer der imposanten Urubuí-Stromschnellen, deren Umfeld in einen Munizipal-Park verwandelt wurde. Spezialität des Hauses ist eine Lasagne mit gehacktem Tambaqui-Fleisch. Dieser endemische Fisch aus Amazonien wird einer Kommune eingekauft, die mit Unterstützung der Regierung diese Fische in Teichen züchtet.
In dem Örtchen Presidente Figueiredo gibt es unterirdische Wasserreservoirs, die durch geologische Brüche unter Druck stehen und an manchen Stellen an die Oberfläche sprudeln. Arenitfelsen haben hier ein extrem reines Wasser eingelagert, das von einer lokalen Firma abgefüllt wird, einer Firma, die auch für die Wasserversorgung des Städtchens mit 27.000 Einwohnern verantwortlich ist. Jedoch kontrastiert die Reinheit des Wassers geradezu erschreckend mit dem Abfall auf der Müllhalde – ein typisches Paradox Amazoniens: Der üppige Wasserreichtum existiert Seite an Seite mit einer totalen Ignoranz hinsichtlich Kanalisation und Hygiene. “Das Potenzial für den Tourismus ist gross, aber es fehlen Investitionen seitens der Regierung“, bestätigt der Präsident der örtlichen Tourismus Behörde und Besitzer eines Hotelkomplexes an der Seite von zwei Wasserfällen und drei Höhlen. Lediglich 10% des Komplexes pflegen besetzt zu sein. “An jedem Ort der Erde wäre ein Hotel mit solchen Naturwundern während des grössten Teils des Jahres sicherlich voll besetzt“.
Neben dem Ökotourismus dient eine Pflanzung mit tropischen Blumen zur alternativen Einnahmequelle und verhindert eine weitere Zerstörung des Regenwaldes. “Ich werde alles, was ich abgeholzt habe, wieder aufforsten“, verspricht der Präsident von Canoas, einer Siedlung in der Nachbarschaft von Presidente Prudent und Produzentin, die die illegale Abholzung und die Maniokpflanzung durch den Blumenanbau ersetzt haben. Nach einer Vereinbarung zwischen der örtlichen Regierung und der SEBRAE haben sie die nativen Blumen ausgesucht und sie unter Anleitung eines Fachmannes auf einem Hektar pro Familie angepflanzt. Jeder Teilnehmer erhielt 50 Setzlinge, die von den Labors für genetische Verbesserungen in Manaus, gezogen worden waren. Insgesamt sind es 14 Spezies, inklusive solche, die aus anderen Regionen des Landes stammen und sich dem Regenwald Amazoniens angepasst haben, zusammen mit Bananen- und Kokospflanzungen. Die so genannte “Sexy Scarlet“, mit ihrem roten Stiel, ist die teuerste Spezies Amazoniens in dieser Sammlung. Sie wird im Dutzend für 80,00 Reais (zirka 25 Euro) in den Blumengeschäften von Manaus verkauft. Die “Bastão-do-Imperador“ (Zepter des Kaisers) und die “Tulipa-negra“ (Schwarze Tulpe) sind ebenfalls Stars dieser Produktion, deren Wachstum von der nährstoffreichen schwarzen Erde, typisch für diese Region, begünstigt wird. Die Frauen der Produzenten nutzen die Blumen für dekorative Arrangements in Körbchen aus Bananenstroh – sie verkaufen sie an Geschäfte, Events und regionale Feste.
Die Einen bemühen sich zu erhalten, während andere weiterhin zerstören. “Bis heute gibt es Leute, die in den Besitz anderer eindringen, um Holz zu schlagen und zu stehlen“, klagt ein Mitglied einer Kommune und weist auf eine Möbelindustrie in der Nachbarschaft hin, deren Betreiber Baumstämme kaufen und verarbeiten, ohne zu fragen, woher das Holz stammt.
Die kleine Kommune befindet sich an der BR-174, einer Strasse, die Manaus mit der venezolanischen Karibik verbindet. Nach etlichen Kilometern durchquert die asphaltierte Strasse das Reservat der “Indios Waimiri-Atroari“ und geht in eine Savannenlandschaft über, die unter der Bezeichnung “Savana Brasileira“ bekannt ist – sie liegt bereits im Bundesstaat Roraima. Auf der Höhe des Kilometers 420 weist ein Schild darauf hin, dass man hier den Äquator kreuzt.
Lange vorher, im Ort Presidente Figueiredo, kann man auf einer abzweigenden Nebenstrasse zu wunderschönen Wasserfällen gelangen, der “Estrada Balbina“. Endstation ist das Wasserkraftwerk gleichen Namens, konstruiert vom Militärregime der 1980er Jahre, am Rio Uatumã. Dieses Bauwerk verursachte grosse ambientale Schäden – zahllose Tiere ertranken, und der Wald wurde vom Stausee überschwemmt, ohne dass man vorher die Bäume gefällt hätte, was zu einer enormen Metangasbildung durch die Dekompostierung des überfluteten Waldes führte. Die vergewaltigte Landschaft, mit den aus dem Wasser ragenden, toten Baumspitzen, gemahnt heute die Besucher an einen verantwortungsvolleren Umgang mit der Natur.
Heute dient der Stausee unterschiedlichen Interessen – zum Beispiel dem Wassersport, oder der Vogelbeobachtung, dem Sportangeln und verschiedenen wissenschaftlichen Projekten die Flora und Fauna betreffend. Hier gibt es auch ein Erholungszentrum für Jungtiere des Amazonas-Manatis, die entweder aus dem illegalen Wildtierhandel stammen oder nach dem Tod ihrer Mütter durch Wilderer, gerettet wurden. Nach Aktivitäten für die Umwelterziehung plant man, die Tiere im See “Lago Madrubá“ auszusetzen, einem Arm des Rio Uatumã, wo sie von den Einheimischen beschützt werden, die dort bereits für den Schutz von Schildkröten tätig sind.
Der Balbina-Stausee ist umgeben vom Regenwald, und der Kontakt zwischen der lokalen Bevölkerung und der wilden Natur ist ein besonderes Kapitel. “Meine Söhne von sechs und sieben Jahren können bereits gut mit der Angel umgehen und “Tucunarés“ (Buntbarsche) fangen“, sagt ein Einwohner stolz. Er ist Besitzer einer Bar in der Siedlung Urucará. Dieser kleine Ort ist Mittelpunkt eines Konflikts zwischen den Anwohnern und Fremden, die dort von Booten aus mit Netzen den Fischfang in grossem Stil betreiben. “Einige Kommunen verlangen von denen 50 Reais, um ihre Boote dort in Stellung zu bringen – aber das Ganze ist illegal“, beschwert sich der Barbesitzer. Der Rückgang des Fischbestandes lässt inzwischen auch die Sportangler weniger werden, die sonst die Anwohner als Guides bezahlen.
In São Sebastião do Uatumã, einer Kommune, die periodisch von Umwelterziehern an Bord eines Hausbootes besucht wird, gesponsert von der “Tetra Pak”, bemüht man sich, den Anwohnern die erhaltende Nutzung des Holzes beizubringen. Das Munizip verfügt über eine Möbelmanufaktur und eine Bootswerft als bedeutendste wirtschaftliche Aktivität – ausser den Rindern, die hier in Barkassen verladen werden. Die Kunst des Bootsbaus wird von den Vätern auf ihre Söhne übertragen. “Viele Leute haben sich mit der Feldarbeit verschuldet und sind inzwischen zum Angeltourismus übergelaufen, wo sie als Guides die Sportangler führen“, sagt ein Bewohner. Der Meister im Bootsbau arbeitet mit seinen Söhnen auf einer der 13 Bootswerften des Ortes. “Die Konstruktion eines Bootes für einen Verkaufspreis von R$ 56.000 (17.000 Euro) dauert im Durchschnitt 12 Tage und ist reine Handarbeit“.
Ein Besuch in Presidente Figueiredo, dem “Land der Wasserfälle“, bietet Gelegenheit zu einer Bootsfahrt auf dem Rio Uatumã, der in den Amazonas mündet. Anstatt nach Balbina zurückzufahren, und von dort nach Manaus, kann man durch sekundäre Kanäle bis zum Örtchen Silves gelangen, welches durch eine asphaltierte Strasse mit der Hauptstadt verbunden ist, die mitten durch das unendliche Grün des Regenwaldes verläuft. Die Reise auf dem Fluss präsentiert herrliche Urwaldszenarios und viele Überraschungen mit den verschiedenen Hausbooten und Kanus, denen man unterwegs begegnet.
Der Wasserarm “Lago Purema“, ein Refugium für Schildkröten, Pirarucus (grösste Süsswasserfische der Erde) und Tambaquis (typische Speisefische Amazoniens) wird von lokalen Fischern rund um die Uhr abwechselnd bewacht. In diesem Gebiet, einst von den ersten Kolonisten durchquert, die dem Urwald die Stirn boten, bewässert der Fluss Sítios und Fazendas, und während der Trockenperiode werden aus dem sinkenden Wasserspiegel zahlreiche Sandbänke an den Ufern sichtbar.
Die Realität Amazoniens die nur Wenigen bekannt ist bedeutet ein Leben, in dem die Wahrnehmung von Zeit und Raum eng verbunden ist mit dem Wasser – sehr viel Wasser.